Die Investitionsmöglichkeiten in den entwickelten Industrieländern sind begrenzt. Dies hat zwei Gründe: Erstens ist angesichts des erreichten, hohen Entwicklungsstandes der Umfang der Modernisierungsinvestitionen beschränkt. Dies steht im Gegensatz zu den neu industrialisierten Ländern, wo die Basis für eine industrielle Produktion erst geschaffen wird. Zweitens erfordert eine stagnierende oder sinkende Bevölkerungszahl weniger (oder kein) Wirtschaftswachstum und folglich weniger oder keine Erweiterungsinvestitionen. Ein weiterer, dritter Grund gilt nicht nur für die Industrieländer: Ein ernsthafter Umweltschutz verlangt in vielen Bereichen weniger Produktion und damit weniger Investitionen.
In den entwickelten Industrieländern – die Länder der OECD – ist der Anteil der Investitionen am Bruttosozialprodukt niedrig und sinkt, während er in den neuindustrialisierten Ländern etwa in Asien, namentlich China und Indien, hoch ist und ansteigt. In den OECD-Ländern betrug dieser Anteil 1980 noch 24,4 Prozent. 2008 (das Jahr vor der Krise) waren es 20,9 Prozent. Für 2011 erwartet der Internationale Währungsfonds knapp 20 Prozent. Anders dagegen in den neuindustrialisierten Ländern Asiens: Hier betrug die Investitionsquote 1980 bereits 32,1 Prozent. 2008 waren es 38,5 Prozent, und für 2011 wird der Wert auf 41,6 Prozent geschätzt.
Die Erklärung für diese Trends und die Niveauunterschiede ist recht einfach: In einem Industrieland ist der Bestand an Realkapital (Fabriken, Eisenbahnen, Straßen) im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt wesentlich höher als in einem Entwicklungsland. Es sind die Fabriken, die Maschinen, die es möglich machen, dass in einem Industrieland in einer Arbeitsstunde viel mehr hergestellt wird als in einem Entwicklungsland. Das macht den (möglichen!) Reichtum eines Industrielandes aus. Industrialisierung heißt dann, dass ein möglichst großer Teil des Bruttoinlandsproduktes in Form von Investitionsgütern hergestellt wird – oder in Form von Exportgütern, mit denen der Kauf von Investitionsgütern im Ausland finanziert wird. Der Weg zum Industrieland erfordert also eine hohe Investitionsquote.
Wie im 19. Jahrhundert
Der Anteil des Konsums am Bruttoinlandsprodukt fällt dagegen entsprechend niedrig aus. Wenn also in sich industrialisierenden Ländern der Lohn vergleichsweise niedrig ist, dann führt das nicht zu einer Schwäche der Nachfrage und damit zu Arbeitslosigkeit und einem niedrigen Wirtschaftswachstum: Der geringe private Verbrauch wird ebenso wie die niedrigen Sozialstaatsausgaben ausgeglichen durch die hohe Investitionsgüternachfrage. In den jetzt industrialisierten Ländern war das im 19. Jahrhundert nicht anders.
Für die entwickelten Industrieländer bedeuten diese Zahlen: Die Investitionen (im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) sind nicht deswegen niedrig, weil die Unternehmen nicht genug gefördert würden, weil die Lohnkosten oder die Unternehmenssteuern zu hoch wären, weil die so genannten Leistungsträger nicht genug hofiert würden, sondern weil – ganz einfach – der erreichte Stand der Industrialisierung vergleichsweise weniger Investitionen erforderlich macht.
Wenn aber die Industrialisierung geschafft ist, der Bedarf an Investitionsgütern schwächer wird, dann fällt die Investitionsquote geringer aus. Das könnte der Anfang von herrlichen Zeiten sein: Statt der Investitionsgüter können nun mehr Konsumgüter hergestellt werden – für die, die gegen Lohn arbeiten, für die Alten und für all diejenigen, die nun zusätzlich im öffentlichen Dienst, in den Schulen, den Pflegeeinrichtungen, bei den städtischen Bühnen, beschäftigt werden und mit ihrer Arbeit den allgemeinen Lebensstandard erhöhen. Sicherlich kann auch, wenn sich alle hinreichend versorgt sehen, die Arbeitszeit bei vollem Konsumausgleich, das heißt bei vollem Lohnausgleich gesenkt werden. Diese Lösungen aber erfordern mehr Stundenlohn, höhere Sozialeinkommen oder Staatseinnahmen, also Verteilungspolitik zu Lasten des Gewinns. Halten wir also fest: Der erreichte Stand der Industrialisierung eröffnet die Chance für einen höheren Lebensstandard.
Diese Verteilungspolitik aber wird die Profitrate absenken. Damit geht es um den Lebensnerv des Kapitalismus. Er ist, um zu funktionieren, auf Kapitalrentabilität angewiesen. Wenn aber die Verteilungspolitik die Produktion wegen unzureichender Rentabilität lahmlegen würde, dann muss ein anderes Produktionsmotiv her – wenigstens für diejenigen Unternehmen, die sehr hohe Renditen fordern, um die Produktion fortzuführen. Über die noch notwendigen Investitionen, über den Produktionsstandort muss dann politisch entschieden werden. Es ist aber sehr fraglich, ob die erforderliche politische Entscheidung mit privatem Eigentum an den betreffenden Produktionsmitteln vereinbar ist. Gemeineigentum ist die Lösung. Hier kann die Produktion bei niedrigen Überschüssen fortgeführt werden. Die Lösung ist also ein gemischtwirtschaftliches System mit einem sehr großen öffentlichen Sektor. Der mythische Respekt vor uneingeschränkten Eigentumsrechten dagegen kostet Wohlfahrt: Der geringe Bedarf an Investitionsgütern wird nicht genutzt für mehr Konsum und Freizeit. Jede politische Partei, die sich den Fragen der Gegenwart stellen will, muss sich über diesen Punkt restlos im Klaren sein.
Ein zweiter Grund für geringe Investitionen ist die demografische Entwicklung. Sicherlich muss zunächst Vollbeschäftigung erreicht werden, das heißt auch Vollzeitbeschäftigung für alle, die das wollen. Für die neuen Erwerbstätigen müssen Fabriken, Werkstätten usw. geschaffen werden. Das erfordert eine Zeitlang zusätzliche Investitionen. Ist aber schließlich Vollbeschäftigung erreicht, und stagniert oder sinkt die Bevölkerungszahl, dann sind keine weiteren Investitionen nötig, denn es muss keine wachsende Zahl von Erwerbstätigen mehr mit Produktionsmitteln ausgerüstet werden. Der Kapitalbestand muss dann nur noch steigen, wenn im Rahmen des technischen Fortschritts der einzelne Erwerbstätige mit mehr und besseren Maschinen et cetera ausgerüstet wird. Das steigert die Arbeitsproduktivität, was die Versorgung erhöhen kann.
Mehr Konsum – oder mehr Freizeit
Aber auch hier stellt sich (ganz wie im Rahmen der erreichten Industrialisierung) die Frage, ob zusätzlicher Konsum gewünscht wird – oder mehr Freizeit. Wenn aber der Kapitalbestand nicht vergrößert werden muss, oder allenfalls geringfügig, um den technischen Fortschritt zu verwirklichen, wenn er sogar bei sinkender Bevölkerungszahl abnehmen kann, dann ist auch kein Gewinn erforderlich, mit dem die Investitionen zu finanzieren wären. Dann läuft auch hier, ganz wie aus den Gründen des erreichten hohen Entwicklungsstandes, alles auf eine Verteilungspolitik zu Lasten des Gewinns hinaus.
Es ist also nicht die Versorgung der Alten, die bei sinkender Bevölkerungszahl Sorge bereiten müsste. Diese Frage ist mit Vollbeschäftigung bei steigender Arbeitsproduktivität leicht zu lösen. Und mehr noch: Wenn keine Erweiterungsinvestitionen mehr notwendig sind, dann folgt daraus eine dritte Möglichkeit zur Versorgung der Alten. Denn statt der Investitionsgüter können nun für deren Versorgung vermehrt Konsumgüter hergestellt werden. Bei Licht besehen haben wir demnach nicht ein Problem mit der Demografie, sondern mit dem Kapitalismus: Nicht die Altersversorgung ist die Frage, sondern die Abnahme der Investitionschancen bei niedrigen Geburtenraten. Die Forderung nach mehr Geburten ist dann auch die Forderung nach mehr Investitionschancen. Aber nicht die Kapitalakkumulation muss eine Chance haben, sondern die Vernunft.
Green New Deal: Ja, aber
Das Schwinden der Investitionschancen wird durch die Umweltanforderungen weiter akzentuiert. Es leuchtet unmittelbar ein: Kommt die Gesellschaft zu der Übereinkunft, dass die Produktion dort, wo sie Umweltschäden anrichtet, möglichst nicht weiter steigen soll, dann dürfen die Kapazitäten in diesen Bereichen nicht erweitert werden. Die politische Entscheidung beschränkt hier die Investitionsmöglichkeiten. Zu einem Teil kann dies eine Zeitlang durch Umweltinvestitionen ausgeglichen werden. Das ist das Wachstumsprogramm, das den Grünen als Green New Deal vorschwebt und das die OECD 2009 in ihrer Erklärung zu umweltverträglichem Wachstum empfohlen hat. Für eine bestimmte Zeit können Umweltinvestitionen die Probleme abmildern, die sich aus dem Ende der Industrialisierung und aus der Demografie ergeben.
Aber lösen können sie diese Fragen nicht. Und überdies: Die Umweltinvestitionen werden sich nicht mit derselben Automatik ergeben wie die Industrialisierung im Kapitalismus. Nicht die Industriebourgeoisie ist hier die maßgebliche Institution, die diese Investitionen voranbringen könnte, sondern die Politik: Die Entwertung von Kapital, das beispielsweise für Atom, Öl und Kohle steht, werden Wettbewerb und Markt nicht besorgen können. Da ist die Politik gefragt.
Deutlich wird so: Der erreichte Entwicklungsstand, die Kombination aus Industrialisierung, Demografie und Umweltproblematik, erfordert einen Umbruch. Er eröffnet enorme Möglichkeiten für bessere Lebensverhältnisse. Mit einem Weiter-So-Kapitalismus aber lassen sich die Chancen nicht nutzen.
Herbert Schui gründete 1975 die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Von 2005 bis 2010 saß er für die Linkspartei im Bundestag
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