Schule ist Schule und nicht das Leben

ABSAGE AN DIE REFORMPÄDAGOGIK Für die Rettung der Lern-Schule

Die Debatte über den Zustand der öffentlichen Schulen im Lande bietet einer eher konservativen Zeitkritik glänzende Aussichten: Mehr als dreißig Jahre nach dem enthusiastisch gefeierten Auszug aus einem behaupteten »Bildungsnotstand« (Gregor Picht 1964) gibt es, glaubt man den herrschenden Gewißheiten, eine sozialstaatlich verfaßte Bildungswüste zu besichtigen. Am Ende unablässiger Bildungs- und Schulreformen, in der all die reformpädagogischen Mantras von der »offenen Schule«, vom »ganzheitlichen Lernen«, von »Autonomie« und »Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung« zu Gassenhauern des pädagogischen Lifestyles geworden sind, scheint der Bankrott auch der emanzipatorischen Pädagogik offenkundig.

Internationale Vergleichsstudien bescheinigen einem der teuersten Bildungssysteme der Welt allenfalls mittelmäßige Ergebnisse. Die Gesamtschule, das in Waschbeton gegossene Herzstück der Reformen, hat allen Glanz verloren. Ihre Schüler leisten noch weniger und sind auch in ihrem Sozialverhalten alles andere als vorbildlich. Den alt gewordenen Patriarchen der Reformpädagogik hat's die Sprache verschlagen. Gelegentlich überraschen sie sogar durch selbstkritische Warnungen vor den »Hexenmeistern der Innovation« (Hartmut von Hentig). »Linke« Bildungspolitik, die gerade noch das »Haus des Lernens« als Neue Heimat für die von der traditionellen »Paukschule« gefolterten Kinderseelen bauen wollte, läßt plötzlich den faulen Wind der »Qualitätssicherung« durch die Baustelle fahren. Wo Schule vor allem als wichtiger »Standortfaktor« im globalen Wettbewerb gesehen wird, ist kein Raum mehr für pädagogische Schwarmgeisterei.

Gute Zeiten also für alle, die Rache für »68« nehmen wollen und mit der Wiedereinführung der »Kopfnoten« im Zeugnis und der Verordnung eines »Kanons« den 30jährigen Bildungskrieg jetzt endlich für sich entscheiden wollen? Ach nein. Solche leichten Siege feiert nur, wer schon damit zufrieden ist, den intellektuellen Unfug einer kulturrevolutionären »Spaß pädagogik« immer noch einmal lustvoll zu denunzieren.

Andere Gegner der Reformpädagogik werden zurückhaltender sein. Sie leiden darunter, daß ihnen ihr Widerpart so plötzlich abhanden gekommen ist. Denn zu den Eigentümlichkeiten des Lagerstreits um Schule und Erziehung gehört gerade, daß die »Linke« als streitfähige pädagogische Position einfach implodierte.

Als pädagogische Theorie repetiert sie in ihren Nischen immer noch den Singsang einer utopischen »ganz anderen Schule«, die ihre Legitimation von einigen Schulversuchen her gewinnt. Das liefert vielleicht den Stoff, aus dem die Träume sind, hat aber immer weniger Wirkung auf die Verhältnisse, unter denen Millionen Kinder, Jugendliche und Lehrer leben und arbeiten müssen.

Als administrative Praxis hat sich »linke« Schulpolitik im Paradox ihres relativen Erfolgs verheddert: Sie hat durchgesetzt, daß »Bildung« in die Liste der sozialstaatlich zu verteilenden Güter aufgenommen wurde und steht nun ratlos vor der flagranten Entwertung der Wohltat. Sie hat nie begriffen, daß »Bildung« immer nur das Resultat einer individuellen Anstrengung ist und also nichts, was nach möglichst egalitären Distributionsmustern unter Anspruchsberechtigten ausgegeben werden kann. Weil sie sich und ihre Klientel vor dieser ernüchternden Einsicht immer noch bewahren will, andererseits aber zunehmend unter den Druck ökonomischer Imperative gerät, flüchtet diese Bildungspolitik in einen Schlingerkurs, der immer verzweifelter versucht, den jeweils herrschenden Zeitgeist zu bedienen. Da dies immer weniger gelingt, weil rivalisierende Ansprüche nicht mehr integriert werden können, geben Schulpolitik und Schulverwaltung gerade in »Reformländern« wie Nordrhein-Westfalen zunehmend ihre Steuerungsfunktion auf und entlassen die Schulen in eine »Autonomie«, der diese zur Zeit gar nicht gewachsen sind.

Letzte Ausfahrt dieser Achterbahn linker pädagogischer Theorie und Praxis ist die Schulflucht. Schon werden (in der taz und auch im Freitag) die Stimmen lauter, die angesichts der desolaten Lage am liebsten die Schule ganz abschaffen und die Schüler ins Freie jenes Lebens entlassen möchten, von dem Reformpädagogen schon immer als der Gegenwelt zur Lernkasematte Schule geträumt haben. Wie Kinder, die ihr Spielzeug auseinandergenommen haben und jetzt die Teile nicht mehr zusammenbringen, wird die Schule als Institution gleich ganz aufgegeben, nur weil sie sich nicht so umstandslos »neu erfinden« ließ.

So nicht, Freunde. Nicht schon wieder der Abmarsch ins nächste pädagogische Utopia, selbst wenn es das Letzte wäre. Die Geschichte der Schule ist noch lange nicht zuende. Sie hat ihre vernünftige Zukunft noch vor sich - freilich nur, wenn man das Scheitern der Bildungs- und Schulreform als Chance begreift. Die fatale Kopplung von Schul- und Gesellschaftsreform, die Bildungsdebatten den hierzulande so beliebten fundamentalistischen Unterton unterlegt, ist endlich aufzugeben. Die Idee, über ein »anderes Lernen« in »neuen Schulen« eine »andere Republik« herbei zu pädagogisieren, mag zwar die Allmachtsphantasien von unbelehrbaren Gesamtschulzauseln befriedigen, macht aber die Schule (und auch die Kinder) nur zu Projektionsflächen jener Träume und Obsessionen, mit denen sich die Älteren plagen.

Jetzt, da das von der schwedischen Lehrerin Ellen Key 1900 so enthusiastisch ausgerufene »Jahrhundert des Kindes« zuende geht, ist es hohe Zeit, sich endlich von den schwärmerischen Erlösungshoffnungen zu verabschieden, die auf die kommenden Geschlechter gerichtet sind. Nicht neuer Utopismus ist angesagt, sondern nüchterner Realismus. Dazu gehört zuerst und vor allem, daß man die so eingängige Verknüpfung der Schule mit »dem Leben« prüft und genauer bestimmt.

Auch wenn die Kinder »nicht für die Schule, sondern fürs Leben« lernen sollen, so ändert das nichts daran, daß die Schule nicht »das Leben« ist. Während aller reform pädagogischer Eifer darauf gerichtet ist, die Grenzen zwischen beiden möglichst niederzulegen, die Schule ganz weit zu öffnen und ihr am Ende (in einem Bericht des NRW-Kultusministeriums) sogar die Verantwortung für »eine persönlich zufriedenstellende Lebensgestaltung« aufzuladen, ist darauf zu beharren, daß solcherlei »Ganzheitlichkeit« den Geist vormoderner Romantik atmet. Man lasse sich nicht länger von den apokalyptischen Szenarien schrecken, nach denen Schule nur noch dann eine Chance habe, wenn sie alle Regungen und Strebungen der Kinder und Jugendlichen in sich aufnimmt und dafür Angebote entwickelt. Die Spaltungen der modernen Gesellschaft sind nicht auf dem Wege romantischer Regression zu heilen, die geradewegs in eine pädagogisch-therapeutisch restlos kolonisierte Lebenswelt führen muß, in der die Lehrerrolle ins Maßlos-Unscharfe diffundiert und von niemandem mehr professionell erfüllt werden kann.

Es ist daran zu erinnern, daß die Schule Produkt einer funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme ist, die eine spezifische Leistung erbringen kann: Die Veranstaltung von Unterricht ist ihr Kern. Und Unterricht meint immer die Verknüpfung von sachlich-fachlichem Lernen mit sozialen Erfahrungen in einer lange Zeit stabilen Gruppe. Mit diesem Arrangement unterscheidet sich Schule von dem, was in den Familien, in den peer-groups, in der Freizeit oder beim Medienkonsum geschieht. Nicht die ewig verspätete Anpassung an echte oder vermeintliche gesellschaftliche Trends oder Problemlagen sollte im Vordergrund stehen, sondern eine von ihrem Funktionssinn her gedachte Antwort auf die Frage »Wozu ist die Schule da?« (Hermann Giesecke).

Wenn aber die »Sache der Schule die Sache ist«, wie auch der Bochumer Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart meint, dann muß der Lehrer wieder als Anwalt der Inhalte stark gemacht werden. Nicht immer neue Pädagogisierungs- und Psychologisierungsschübe braucht die Lehrerausbildung, sondern die Erinnerung daran, daß Fachkompetenz und Beherrschung fachlicher Vermittlungsmethoden Schüler fasziniert und überzeugt. Wer Gelegenheit hat, regelmäßig Unterricht in verschiedenen Schulformen zu beobachten, weiß: Schüler sind längst schon vom Sozialkitsch metakommunikativer Verständigungs- und Einigungsrituale gelangweilt, die heute unverzichtbar zum »schülerorientierten Unterricht« zu gehören scheinen. Gerade weil sie ihre Zeit in der Schule nicht freiwillig verbringen, erwarten sie etwas, was das Verweilen lohnt. Und das ist eine spannende Physikstunde, die Auseinandersetzung mit einem herausfordernden literarischen Text oder ein perspektivenreicher Blick auf historische Ereignisse. Nun wird auch der Liebhaber bayerischer Verhältnisse nicht behaupten können, daß solcher Unterricht heute in wünschenswertem Umfang schon gelingt. Es geht aber darum, ihn wieder als zentrales Ziel von Schule zu rehabilitieren, die Lehrer wieder (oder zum ersten Mal?) mit Methoden vertraut zu machen, die ihn ermöglichen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Wiedereinsetzung der sogenannten »direkten Instruktion« in ihr Recht als sehr wirkungsvolle Lehrstrategie.

Die Erinnerung an das, was Sache der Schule ist, muß auch zur Revision des herrschenden Antirationalismus und Anti-Intellektualismus führen, die in Schuldebatten heute Standard sind. Beklagt wird gern die »Verkopfung« des Unterrichts, der ein »Lernen mit Kopf, Herz und Hand« gegenübersteht. Verkleidet als kindertümelnde Parteinahme für die Schüler ruiniert diese besinnungslose Erlebnispädagogik die besten Teile europäischer Aufklärungs tradition. Statt den Kindern beizubringen, wie man den Kopf sinnvoll und effizient nutzt, unterstützt man die heute ohnehin bei Birte Karalus, Arabella Kiesbauer und ihren Klonen gepflegte Bauchrednerei der Gefühle.

Natürlich ist die Schule auch ein Ort für die Erziehung der Gefühle. In der Auseinandersetzung mit den Sachen erlebt jeder Schüler Angst vor Versagen, das Hochgefühl des Gelingens, das Glück freundschaftlicher Hilfe oder den Schmerz des Scheiterns. Jeder Lehrer muß wachsam sein und seinen Schülern Hilfen für den Umgang mit solchen emotionalen Erfahrungen geben können, aus deren Verarbeitung sich ein realistisches Selbstbild entwickeln soll. Gute Lehrer haben das immer getan. Dennoch bleibt ein Unterschied zwischen Schule und Familie, der nur bei Strafe des Funktionsverlustes von Schule eingeebnet werden kann. Denn nicht der Kult der Nähe und Wärme, die Aufladung mit familialen Werten und Kommunikationsformen ist Aufgabe der Schule, sondern die Zivilisierung der Kinder fürs republikanische Gemeinwesen. Wer Kinder aber auch in der Schule in den Bann des Privaten schlägt, der verhindert diesen heute immer wichtigeren Prozeß: Denn »Zivilisiertheit bedeutet, mit den anderen so umzugehen, als seien sie Fremde und über diese Distanz hinweg eine gesellschaftliche Beziehung zu ihnen aufzubauen« (Richard Sennett).

Spätestens jetzt packt vermutlich den reform pädagogisch bewegten Leser der heilige Zorn des Rächers der Enterbten: Wo kommt in einer solchen Schule der Scheidungswaise vor, der beim trinkenden Vater lebt? Ist sie nur eine Spielwiese für die happy few? Man lasse sich von der Wucht solcher sozialen Empathie, von der suggestiven Parteinahme für die Schwachen und Hilfsbedürftigen nicht überwältigen. Selbstverständlich muß ihnen geholfen werden. Nur: Sache der Schule ist das nicht. Warum sollen, statt endloser Fummelei an der Schule für eine bestimmte Klientel, nicht begleitende Institutionen der Sozialpädagogik eingerichtet werden? Soziale Probleme müssen entsprechend professionell gelöst werden, damit die darunter leidenden Kinder fähig werden, am Unterricht teilzunehmen, der trotz aller apokalyptischer Schulkritik an den Gymnasien und Realschulen, aber auch an vielen Haupt- und Gesamtschulen immer noch staunenswert gut funktioniert. Man lasse sich doch von den grellen Horrorgemälden aus sozialen Brennpunkten in den großen Metropolen nicht einreden, die Schulen seien flächendeckend nur noch Orte brutalster Schülergewalt und »entfremdeten« Lernens. Ein Bildungs- und Erziehungswesen der Zukunft kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn es sich nicht überfordert, sondern funktional sinnvolle Verbindungen mit anderen sozialen Systemen eingeht.

Das bedeutet allerdings auch, daß Bildungspolitiker und Pädagogen dem so bequemen Entsorgungsdenken vieler Eltern entgegentreten, die ihre Kinder am Schultor abgeben, ohne weiter eine eigene Verantwortung für Bildung und Erziehung zu übernehmen. Die Debatte über die Schule muß deshalb auch sehr klar die Grenzen dieser Einrichtung benennen, gerade, um sie zu bewahren. Auch Pädagogen werden akzeptieren müssen, daß sie nur Stückwerk leisten können. Der Verzicht auf den umfassenden Betreuungs- und Fürsorgeanspruch einer Lebens-Schule mag ihnen freilich die größten Schwierigkeiten machen. Für die Schüler ist das schon lange kein Thema: »Hey teacher, leave us kids alone« (Pink Floyd), denn selbstverständlich gibt es ein aufregendes Schülerleben auch und gerade jenseits des Schulhofs. Das ist aber kein Argument gegen die Forderung: Rettet die (Unterrichts-) Schule, denn wir haben (noch) nichts Besseres!

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