Weiß Fräulein Li, was ein Mindestlohn ist?

China Die "harmonische Gesellschaft", die Welt der Arbeit und die Badminton-Felder bei Honda

Einem sich ausbreitenden Sozialdarwinismus in der chinesischen Ökonomie hatte der XVII. KP-Parteitag im Oktober 2007 sein Programm der "harmonischen Gesellschaft" entgegen gesetzt. Dahinter verbirgt sich die Abkehr von einer extrem liberalen Wirtschaftspolitik. Die sozialen Belange der Beschäftigen sollen wieder mehr Gewicht haben.

Herr Cao Shengkui weist die junge Näherin Li und ihre knapp 100 Kolleginnen an, jetzt nicht in die Pause zu gehen. Schließlich, so der Chef der Bekleidungsfabrik, wolle der Besuch aus Deutschland nicht nur die fertige Kinderkonfektion im Ausstellungsraum sehen, sondern auch deren Produktion. Es gibt keinen Widerspruch, die Arbeiterinnen nähen weiter. Versteht man das im heutigen China unter einer "harmonischen Gesellschaft"?

Um dem ärmlichen Leben auf dem Land zu entfliehen, hat Fräulein Li ihre Heimatprovinz Hebei verlassen und wohnt in einem der vielen Industrievororte Pekings. Mit sieben weiteren Näherinnen teilt die schüchterne, noch mädchenhaft wirkende Frau ein Zimmer. Li ist eine von 150 bis 200 Millionen Männern und Frauen, die sich als Arbeitsnomaden in den industriellen Ballungsgebieten Chinas verdingen und zwischen 400 und 1.000 Yuan im Monat verdienen, umgerechnet 40 bis 100 Euro. Die 22-jährige Li kommt mit 1.000 Yuan auf einen Spitzenlohn für eine Wanderarbeiterin. Dafür arbeitet sie 50 bis 54 Stunden in der Woche.

Städtische Industriearbeiter können in der Regel auf ein wesentlich höheres Einkommen verweisen. So erhält ein Bandarbeiter bei der Autofirma Honda mit Überstunden drei mal so viel wie die Näherin Li - rund 3.000 Yuan im Monat.

Aber zurück zu Cao Shengkui und seiner Firma - der wortgewandte Textilunternehmer ist 1949 geboren, im Jahr der Gründung der Volksrepublik. Er strotzt vor Selbstbewusstsein. Als junger Mann diente er in der Volksbefreiungsarmee. Nach dem Studium wurde er Staatsbeamter - die Wirtschaftsreformen der neunziger Jahre ließen ihn reich werden. "Mein Sohn und meine Schwiegertochter haben in Frankreich studiert", erzählt der Fabrikant, dessen Firma Beijing Jiaman Garment Accesseory - Shuihaier etwa 1.300 Arbeiterinnen beschäftigt und mit Kindermode glänzend im Geschäft ist. Die chinesische Mittelschicht gibt viel Geld aus für den Nachwuchs - nicht zuletzt eine Folge der Ein-Kind-Politik.

Im Design-Atelier des Konfektionsbetriebes von Herrn Cao sitzen junge Chinesinnen vor flackernden Bildschirmen, auf dem Schreibtisch Modeblätter aus Italien und Frankreich. Die meisten von ihnen haben in Peking studiert und verdienen fünf mal so viel wie die Näherinnen. 5.000 Yuan im Monat, umgerechnet sind das knapp 500 Euro. Ihre Arbeitsplätze und die in der Verkaufsabteilung sind hell und geräumig. Ganz anders die Fabrikhalle, in der Fräulein Li ihr Tagespensum näht. Jeder Zentimeter ist ausgenutzt. Eine Näherin sitzt hinter der anderen. Akkordarbeit.

Wer vertritt die Interessen dieser Arbeiterinnen? Weiß Fräulein Li, was ein gesetzlich vorgeschriebener Mindestlohn ist oder was eine Gewerkschaft sein kann? Die junge Frau schüttelt den Kopf und zieht den roten Stoff durch die Nähmaschine. Die Naht ist fertig. Sie nimmt das nächste Teil und deutet an, dass sie nicht weiter sprechen will.

"Natürlich gibt es bei uns eine Betriebsgewerkschaft", sagt Cao Shengkui, der Besitzer und Unternehmer. Er kümmere sich höchst selbst um die sozialen Belange der Frauen, um die Abführung der Beiträge an die Krankenversicherung oder um einen Schwangerschaftsurlaub. Ist ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der betrieblichen Gewerkschaftsgruppen möglich? Selbstverständlich, sagt Cao Shengkui und lacht diesmal noch breiter als zuvor. "Das bin ich selbst." Ein Kapitalist mit dem Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei, der zugleich Arbeiterführer in seiner Fabrik ist? Ist es das, was die KP in Anlehnung an Konfuzius unter "harmonischer Gesellschaft" versteht?

In den vergangenen Jahren sei es erstmals gelungen, in Filialen der US-Handelskette Wal-Mart betriebliche Gewerkschaftsgruppen zu gründen, verkündet der Allchinesische Gewerkschaftsbund (ACGB) stolz, zunächst sei das in der Südprovinz Fujian geschehen. Schnell folgte ein Supermarkt nach dem anderen. Erst später wurde bekannt - es war einem Entschluss oder einer Initiative von KP-Generalsekretärs Hu Jintao zu verdanken, dass diese ersten Basiszellen entstanden. Auch wenn eine solche Autorität dahinter stand - wie ist es gelungen, dass in erstaunlich kurzer Zeit mehr als 60 Betriebsgruppen gegründet wurden?

Ortstermin in einer Wal-Mart-Dependance in Shenzhen, der Industriemetropole im Südosten, die direkt an Hongkong grenzt und in den achtziger Jahren als erste Ökonomische Sonderzone von sich reden machte. Junge Verkäufer in roten Wal-Mart-Shirts eilen durch eine große Warenhalle. Einer wühlt in den Körben mit Unterwäsche, ein anderer zeigt einem Kunden Bohrmaschinen der Firma Bosch. Eine junge Angestellte bestätigt, dass es seit kurzem eine Gewerkschaft in der Filiale gäbe. Das finde sie vorzüglich, auch als Nicht-Mitglied. Doch weder sie noch die umstehenden Kolleginnen haben eine Ahnung davon, was es mit einer solchen Basiszelle auf sich haben könnte. Welche Aufgaben ihr zukämen. Die Angestellte zeigt schließlich zum Büro der Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft, die Linda Wang heiße. Es handelt sich freilich nicht um das Gewerkschafts-, sondern das Personalbüro, denn Wang ist die Personalchefin des Marktes und soll gleichzeitig die Interessen der Belegschaft vertreten. Auch die Gewerkschaftschefs der anderen Niederlassungen stammen aus dem mittleren Management. Wal-Mart hat den Nutzen dieser Art von Gewerkschaftsarbeit inzwischen erkannt. Eine "harmonische Gesellschaft", bei der amerikanische Gewerkschaftshasser und chinesische Kommunisten in einem Boot sitzen?

Montage bei Honda in der südchinesischen Stadt Kanton: An den Bändern des japanischen Konzerns arbeiten Männer und Frauen in weißen Uniformen. Ihr Durchschnittsalter beträgt 23 Jahre, ist zu erfahren. Die klimatisierten Hallen wirken so sauber und steril wie ein deutsches Krankenhaus. Man sehe hier die produktivste Autofertigung in China, beteuert der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft. Chen Sui Sheng trägt unter dem weißen Kittel Schlips und Kragen und vermittelt eher den Eindruck eines Spitzenmanagers. 5.000 Menschen arbeiteten im Haupt- und im Nebenwerk. Jahresproduktion: Grob gerechnet 360.000 Fahrzeuge. Ein Bandarbeiter verdiene - ohne Überstunden - 2.800 Yuan, sagt Chen. Das reiche bei vielen, um Geld für ein eigenes Auto zurück zu legen. Chen führt durch einen großen Versammlungs- und Festsaal, eine professionell ausgestattete Tischtennishalle, einen Fitness- und einen Musikraum, er geht vorbei an Squash-Kabinen, Badminton-Feldern und Basketball-Arenen, er zeigt zu guter Letzt auf einen Fußballrasen und auf Tennisplätze, die ein großzügig angelegter Palmenhain umgibt. "Dieses Gelände ist jeden Abend und an jedem Wochenende knallvoll - und es ist für die Beschäftigten kostenlos."

Der Weg zum Konferenzraum führt am Büro der Betriebszelle der Kommunistischen Partei vorbei. Hammer und Sichel schmücken eine Schautafel, ergänzt durch eine Friedenstaube. Ein stattliches Foto zeigt Männer in schlohweißen Honda-Uniformen mit erhobener Faust beim Absingen eines Liedes. Japans Autobauer und Chinas Kommunisten - wieder eine Form von "harmonischer Gesellschaft"? Für Chen Sui Sheng ergibt das keinen Widerspruch. Als Chef der Betriebsgewerkschaft ist er in diesem Unternehmen gleichzeitig der KP-Sekretär. In etwa die gleiche Praxis wie in den Staatsbetrieben, wenn die von einem Triumvirat aus dem Manager, dem Parteisekretär und einem Gewerkschaftsfunktionär geleitet werden.

Die Gewerkschaft und die Partei in der Unternehmensleitung, das hat einen entscheidenden Vorteil: Es hilft, Türen zu öffnen bei den lokalen Parteigremien und Staatsbehörden, die der Privatwirtschaft das Leben schwer machen könnten - etwa bei Genehmigungsverfahren oder wenn es darum geht, die Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen durchzusetzen.

Wanderarbeiterinnen wie die Näherin Li bekommen davon freilich kaum etwas mit. Auch von Zuständen wie bei Honda können sie nur träumen. Oft sind sie schon froh, wenn ihnen der zugesagte Lohn auch ausgezahlt wird. Immerhin kommt es bei Bauarbeitern und in kleineren Fabriken hin und wieder vor, dass die Eigentümer oder ihre Manager die Firmenkasse plündern und verschwinden.

Fräulein Li kann noch von Glück reden, dass sie Arbeit in ihrer Kleiderfabrik gefunden hat. Ganz anders erging es der Kollegin Fu Hongqin aus der Provinz Sichuan, die als 19-Jährige in einer südchinesischen Fabrik für das Hongkonger Unternehmen Gold Peak (GP) damit begonnen hatte, Nickel-Cadmium-Batterien herzustellen. Jahre später starb sie an einer Kadmium-Vergiftung. Kein Einzelfall. Nach Fu sind drei weitere GP-Arbeiterinnen an einer solchen Verseuchung gestorben.

Ohne engagierte Nichtregierungsorganisationen wäre der Skandal kaum je bekannt geworden. Einige dieser NGOs übernehmen im heutigen China gewerkschaftsähnliche Funktionen, da die staatlichen Gewerkschaften dazu nicht willens oder in der Lage sind. Die NGO Globalisation Monitor sieht unter diesen Umständen in den meisten Wirtschaftsunternehmen alles andere als Biotope einer "harmonischen Gesellschaft".


Chinas neues Arbeitsvertragsgesetz

(in Kraft getreten am 1. Januar 2008)

Regelungen im einzelnen:

Gleicher Lohn
Es gilt in der gesamten Ökonomie das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

Gleiche Rechte
Alle Beschäftigten genießen gleiche Rechte. Es ist ab sofort verboten, Wanderarbeiter befristet oder unbefristet ohne Arbeitsvertrag zu beschäftigen.

Zeitarbeit
Ab 1. Januar 2008 dürfen Zeitverträge von einem Arbeitgeber nur dreimal befristet verlängert werden (bisher war das beliebig oft möglich). Wer länger als zehn Jahre im gleichen Betrieb angestellt ist, für den gilt automatisch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.

Gewerkschaftspräsenz
Alle Unternehmen sind dazu verpflichtet, die Einrichtung von Betriebsorganisationen der Gewerkschaften zuzulassen.

Kündigungsschutz
Bei betriebsbedingten Kündigungen gilt das Prinzip Sozialauswahl. Kriterien sind: Lebensalter, Beschäftigungsdauer, Familienverhältnisse, Unterhaltspflichten. Bei einer Betriebszugehörigkeit von 15 Jahren, einem in fünf oder weniger Jahren bevorstehenden Ruhestand oder einer Berufskrankheit besteht ab sofort weitgehend Kündigungsschutz.

Im internationalen Vergleich

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf/Jahr
(in Dollar / nach vergleichbarer Kaufkraft - Stand 2006)

USA: 39.676

Großbritannien: 30.821

Japan: 29.251

Deutschland : 28.303

China: 5.896

Quelle: Weltbank / Chin. Nationalbank

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