Der politische Krampf um eine Verhandlungslösung nach dem Vorschlag des G 8-Gipfels ist keineswegs allein aus dem störrischen Verhalten von Milosevic erklärbar. Tatsächlich sind sich die Regierungen der NATO nicht einig, ob sie - wie die deutsche und italienische Regierung - einen Verhandlungs-Frieden wollen - oder einen Sieg-Frieden, wie ihn wohl die amerikanische und britische Seite anstreben. Dieser Zielkonflikt stand bereits hinter dem G 8-Gipfel: Schon da machten Washington und London ihre Zustimmung davon abhängig, daß die kontinentaleuropäischen Regierungen ihrerseits akzeptierten, den Bombenkrieg zu verschärfen. Die offizielle Begründung: Man wollte den Druck auf Milosevic verstärken; tatsächlich aber zeigt sich, das amerikanis
nische Oberkommando kann eine potentielle Verhandlungslösung regelrecht kaputtbomben. Schizoider, aber auch eindeutiger in seinem Machtgefälle könnte der NATO-Auftritt kaum sein. Die USA eskalieren in dem Moment militärisch, da die kontinentaleuropäischen Regierungen de-eskalieren und zu politischen Initiativen zurückkehren wollen.Daß sich die Europäer offensichtlich selbst in elementaren sicherheitspolitischen Fragen der US-Regierung fügen müssen, ist das Kernproblem Europas. Wirtschaftlich sind die EU und die USA Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Der Euro wurde schließlich auch als Gegengewicht zum Dollar eingeführt. Gesellschaftspolitisch repräsentiert die EU den Gedanken einer sozialen und ökologischen Verantwortung der Wirtschaft, die USA vertreten den der ungezügelten Wirtschaftsfreiheit. Die EU plädiert für eine kooperative Zusammenarbeit mit Rußland. Die USA dagegen streben - notfalls gegen russische Interessen - nach einer Kontrolle der Ölressourcen im Kaukasus und Transkaukasus und riskieren damit das endgültige Zerbrechen der letzten GUS-Reste.Dies alles zeigt: Werte und Interessen der EU und USA sind nicht identisch - wobei Großbritannien seine Rolle wahrscheinlich mehr als amerikanischer Repräsentant in Europa sieht, um dadurch bevorzugt an der US-Hegemonie partizipieren zu können. Doch die so oft beschworene und behauptete Identität amerikanischer und kontinentaleuropäischer Sicherheitspolitik ist ein politischer Selbstbetrug. Die NATO ist nicht Staatsräson der Deutschen oder anderer Europäer. Staatsräson der EU-Mitgliedsländer muß eine eigenständige EU-Sicherheits- und Au ßenpolitik sein, und sei es notfalls und zu nächst ohne Großbritannien. Andernfalls riskiert die EU, von der US-dominierten NATO weit über sicherheitspolitische Fragen hinaus ferngesteuert und in Konflikte als Akteur wider die eigenen Interessen hineingezogen zu werden.Die amerikanische Militärpräsenz in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und in den Zeiten des Ost-West-Konflikts war unverzichtbar - für West- und Osteuropa. Damals gab es die übergeordnete Identität demokratischer Verfassungsstaaten und der allein vom noch zersplitterten Westeuropa nicht zu bewerkstelligenden gemeinsamen Sicherheitsgarantie. Es gab die Notwendigkeit der festen Verankerung der Bundesrepublik Deutschland in den Westen, besonders nach der deutschen Wiederbewaffnung. Heute ist in ganz Europa alles anders. Heute reicht die amerikanische Sicherheitsdominanz weit über das ursprüngliche NATO-Gebiet hinaus.Die »Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik« steht nun auf der Tagesordnung des EU-Gipfels. Der Europäische Rat der Außenminister hat diese Initiative am 7. Mai vorbereitet. Die Frage ist: Wird damit endlich eine für die EU längst überfällige Entwicklung eingeleitet? Die Antwort ist: im Prinzip ja. Doch andererseits in der geplanten Umsetzung auch wieder nicht - weil es die EU nicht schafft, sich ohne die USA zu definieren. Statt einer sicherheitspolitischen Emanzipation besteht mit dem vorgesehenen Konzept sogar die Gefahr, daß neben den europäischen NATO-Staaten die Europäische Union insgesamt zum quasi offiziellen Appendix amerikanischer Außenpolitik wird - trotz immer stärker auseinander strebender politischer Interessen.Dies ist der deutschen Vorlage für den Kölner EU-Gipfel deutlich zu entnehmen. Darin ist die Rede von »einer stärkeren Rolle Europas«, die »zur Vitalität des Bündnisses im 21. Jahrhundert beitragen wird.« Was heißt »stärkerer Rolle«? Mehr Eigenständigkeit - oder die Übernahme von mehr NATO-Aufgaben durch die EU? Wenn es mehr Eigenständigkeit geben soll, kann es nicht richtig sein, auch noch die EU mit der NATO institutionell zu verschränken und damit die amerikanische Dominanz in der EU zu verankern. Genau letzteres aber ist vorgesehen, wenn »alle Mitgliedsstaaten der EU sich uneingeschränkt an europäischen Einsätzen unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO beteiligen«. Damit erhält die Eigenständigkeit ein Doppelgesicht. Selbst EU-Staaten, die nicht Mitglied der NATO sind - wie Finnland, Österreich und Schweden - werden so indirekt in die NATO einbezogen. Gleichzeitig heißt es, daß »Vereinbarungen zur Einbeziehung der europäischen Mitglieder der NATO, die nicht Mitglied der EU sind«, getroffen werden sollen, »um sie so umfassend wie möglich in EU-geführte Operationen einzubeziehen.« Auch dies würde militärisch die weitere Verstärkung des NATO-Elements in der künftigen EU-Sicherheitspolitik bedeuten.Zwar unterscheidet das Dokument EU-geführte Einsätze mit oder ohne Rückgriff auf die NATO-Struktur. Doch im Klartext heißt das nur: Europa möchte vielleicht gern eigenständig sein; weiß aber nicht, ob es das tatsächlich auch darf oder will. Wenn die EU sich operativ auf die NATO stützt, ist kaum anzunehmen, daß Washington dies bedingungslos zuläßt. Vielmehr erwarten die USA von der »stärkeren Rolle der EU« in der NATO künftig in Konfliktfällen mehr militärische Mitwirkung und mehr Kostenbeteiligung, ohne am Oberbefehl rütteln zu lassen. Um sich einer solchen Situation nicht vollends auszusetzen, spricht die EU deshalb - parallel zur NATO-Verschränkung ihrer Sicherheitspolitik - von einem eigenen ständigen Gremium in Brüssel, einem EU-Militärausschuß und einem eigenen Stab. Sie spricht auch von »weiteren Streitkräften« und der Vermeidung »unnötiger Überschneidungen mit der NATO«. Damit aber verfolgt die EU zwei miteinander nicht kompatible Konzepte parallel.Nun mag man zugestehen, daß dies notwendige erste Schritte zur allmählichen Emanzipation von der NATO sind, um dieser nicht mit der Tür der europäischen Eigenständigkeit ins Haus zu fallen. Doch europäische Eigenständigkeit und eine von den USA dominierte NATO offenbaren einen grundlegenden Konstruktionsfehler, entstanden aus Angst der EU vor ihrer eigenen Courage.Werden die um der Eigenständigkeit willen vorgesehenen zusätzlichen Rüstungsanstrengungen unternommen, wird dieser Politikansatz nicht unbedingt populär. Werden sie unterlassen (was wahrscheinlich ist, weil die EU-Finanzminister Besseres zu tun haben), bleibt von der Emanzipation nur die Rhetorik. Mit anderen Worten: Der europäische Ansatz droht, sich in sein Gegenteil zu verkehren, weil er dem entscheidenden Punkt ausweicht - der Abkoppelung der europäischen Sicherheitspolitik von dem spezifischen Bündnisanliegen der NATO. Daß in europäischen Konflikt- und gar Schicksalsfällen die versammelten EU-Regierungschefs weniger zu sagen haben als der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber, ist ein untragbarer europäischer, ja weltpolitischer Anachronismus.Eine eigene EU-Sicherheitspolitik und die gleichzeitige Existenz der NATO beißen sich, solange es eine gleichzeitige EU- und NATO-Streitkräfte-Integration gibt. Zwei parallele Streitkräftestrukturen nahezu derselben europäischen Staaten gehen nicht. Sie würden sicherheitspolitischen Kuddelmuddel produzieren, in dem die EU das Aschenputtel und die USA sicherheitspolitischer Phönix in Europa blieben. Eigenständige EU-Sicherheitspolitik muß also bedeuten, die - im übrigen nicht einmal im NATO-Statut vorgesehene und erst seit Mitte der sechziger Jahre zur Einbindung der Bundeswehr geschaffene - NATO-Streitkräfteintegration aufzuheben zugunsten einer alleinigen der EU. Die NATO wäre dann ein Verteidigungsbündnis Nordamerikas, der EU-Länder und der nicht der EU angehörenden europäischen Staaten in einer Organisationsform ohne integrierte Streitkräfte. Also so, wie die NATO von 1949 an 15 Jahre lang existierte - ohne daß es deshalb (trotz des großen Warschauer Pakts) ein sicherheitspolitisches Vakuum gab. Die USA und die EU wären dann gleichberechtigte Partner, wie es der politischen und wirtschaftlichen Rolle Europas gebührt. Solange die EU nicht auf diesen Punkt kommt, bleibt ihre politische Emanzipation Schall unter amerikanischem Rauch.Unser Autor ist Mitglied des Bundestages und des SPD-Parteivorstandes.