In den aktuellen Debatten über den Atomenergie-Ausstieg spielt die Frage eine entscheidende Rolle, ob es einen Ersatz für die Atomenergie geben kann, dessen ökologischer Preis nicht die Erhöhung beziehungsweise ein anhaltend hoher Verbrauch von fossilen Energiequellen ist. Fast alle konventionellen Experten bestreiten das. In der Tat muß es um einen nicht-fossilen Ersatz der Atomenergie gehen - also um erneuerbare Energien. Daß diese nicht nur die Atomenergie, sondern auch die fossilen Energien tendenziell ablösen könnten, bezweifeln selbst Politiker der Grünen und die meisten Umweltinstitute. Meine These ist dagegen: Ein solares Deutschland - also ein vollständiger Ersatz atomarer und fossiler Energien - ist möglich. Die Realisierung
ng kann sicher nicht in fünf Jahren erfolgen, aber im Laufe von fünfzig Jahren schon - wenn dafür die richtigen politischen Rahmenbedingungen und Impulse gesetzt werden.Das Ausmaß, die Geschwindigkeit und die Kosten zur Einführung erneuerbarer Energien hängen von politischen Entscheidungen ab. Ziel ist eine vollständige Energieversorgung aus erneuerbaren Energien. Von der Energiewirtschaft wird eine solche Möglichkeit allein deshalb abgestritten, weil die Fortführung atomarer und fossiler Energienutzung gerechtfertigt werden soll. Aber schon 1978 wurde von französischen Energiewissenschaftlern - ausgehend vom damaligen Stand der Technik! - der Nachweis geführt, daß und wie eine vollständige Energieversorgung aus erneuerbaren Energien möglich ist. Ein solcher Nachweis kann auch für Deutschland geführt werden.Möglich ist erstens ein neues System der Stromversorgung: mittels Solarzellen, Windkraftanlagen, Wasserkraftanlagen, Blockheizkraftwerken auf Biomasse-Basis, Elektrifizierung organischer Abfälle, auf der Basis der Verstromung von Wasserstoff und eventuell durch den Import solarthermisch erzeugten Stroms aus Südeuropa. Um den gegenwärtigen deutschen Strombedarf von 500 Milliarden Kilowattstunden aus Solarzellen mit heutigem Wirkungsgrad (15 Prozent) zu decken, müßten dafür 3.750 km2 Solarzellenflächen in vorhandene Gebäudestrukturen integriert werden. Das wären weniger als zehn Prozent der überbauten Fläche.Mit Windkraftanlagen einer Kapazität von 1,5 Megawatt lassen sich heute jährlich durchschnittlich drei Millionen Kilowattstunden erzeugen. Mit 165.000 Anlagen wäre die gesamte Strombedarfsmenge produzierbar. Angesichts von mehr als einer Million Hochspannungsmasten wäre eine solche Zahl von Windkraftanlagen kein prinzipielles Standortproblem. Außerdem läßt sich durch off-shore-Anlagen im Küstenflachmeer die Leistungsfähigkeit der Windkraft weiter steigern.Diese beiden Beispiele zeigen: Für den anzustrebenden Energiemix aus erneuerbaren Energien ist es keineswegs nötig, das gesamte Potential der jeweiligen erneuerbaren Energien auszuschöpfen - zumal die Technologieentwicklung noch an ihrem Anfang steht und erhebliche zusätzliche Leistungssteigerungen zu erwarten sind.Möglich ist weiterhin eine Wärmeerzeugung aus der thermischen Nutzung der Sonnenkraft (passive und aktive Solarenergienutzung), aus Blockheizkraftwerken, Kachelöfen und aus Wärmepumpen. Längst gibt es bereits Beispiele für Nullenergiehäuser. Da 40 Prozent des Energieverbrauchs in Wohngebäuden stattfindet, ist das solare Bauen der bedeutendste Ansatz für die Ökologisierung der EnergieversorgungAuch für die Verkehrssysteme und für den Hochtemperaturbedarf der Industrie kann das Energieproblem auf neue Weise gelöst werden: durch den Einsatz von Elektromotoren, Pflanzenöl, vergaster Biomassen und von Wasserstoff (aus organischen Abfällen oder durch elektrolytische Wasserspaltung gewonnen), eingesetzt zum Beispiel in Fahrzeugen mit Brennstoffzellen oder auch in Flugzeugen mit veränderter Antriebstechnik. Eine wiederzubelebende Möglichkeit umweltfreundlichen Flugverkehrs sind Luftschiffe für den Tourismus und den Frachtflugverkehr.Um diese Potentiale an Sonnenenergie auszuschöpfen, bedarf es überwiegend einer dezentral und regional orientierten Energieversorgung. Dies bedeutet die Nutzung der vor Ort verfügbaren Ressourcen an erneuerbaren Energien: An den Küsten mehr die Windkraft, in ländlichen Gebieten mehr die Biomasse, in bebauten Gebieten Photovoltaik sowie die passive und aktive solare Wärmenutzung. Der Austausch der Überschüsse der Regionen mit Hilfe eines überregionalen Netzes ist ein weiteres Merkmal dieser Energieversorgungsstruktur. Denkbar sind ein Stromnetz, aber auch ein Gasnetz für vergaste Biomasse, in das dezentral eingespeist wird. Dieses überregionale Netz dient auch der Speicherung von Überschüssen. Als Speichermedium kommen sowohl Biogas als auch mit Strom erzeugter Wasserstoff in Frage. Selbst größere Kraftwerke könnten mit solchen Energieträgern betrieben werden.Die Schritte zur Förderung der regenerativen Energien sind abhängig vom Zielwert und den Etappen, in denen die erneuerbaren Energien eingeführt werden. Da die verschiedenen erneuerbaren Energietechnologien auch in unterschiedlichem Maße in den Markt eingeführt werden können, müssen sich die Maßnahmen auch nach den zu fördernden Technologien unterscheiden. Entscheidend ist die Überwindung jener Barrieren, die der Markteinführung erneuerbarer Energietechnologien entgegenstehen. Das kann durchaus gelingen: mit einem umfassenden Programm, das in allen Feldern politischer Entscheidungen, die direkt und indirekt Einfluß auf die Energieversorgung haben, die Weichen neu stellt. In diesem Sinne sind die Privilegien atomarer und fossiler Energien zu beseitigen und statt dessen Barrieren gegen ihre fortgeführte Nutzung aufzubauen.Die EU-Kommission fordert in ihrem Weißbuch von 1997 bis zum Jahr 2010 einen Anteil von 12 Prozent erneuerbarer Energien an der Energieversorgung. Wird dieses Ziel erreicht, könnten in der EU 1,2 Millionen und allein in Deutschland etwa 400.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Auf der Basis eines solchen, auch beschäftigungspolitisch bedeutsamen Szenarios wird die weitere Einführung erneuerbarer Energien im Zeitraum nach 2010 viel schneller erfolgen können: Eine Verdoppelung ihres Anteils bis zum Jahr 2020 auf 24 Prozent und anschließend, bis 2030, auf 50 Prozent ist erreichbar. Mitte des nächsten Jahrhunderts könnte die Nutzung fossiler Energien vollständig auslaufen.Hermann Scheer, SPD-MdB, ist Präsident der Europäischen Sonnenenergievereinigung EUROSOLAR