Seit den Enthüllungen von Edward Snowden über die flächendeckenden Überwachungs- und Bespitzelungsmethoden der NSA und anderer Geheimdienste sowie den anschließenden Äußerungen unserer Regierungsverantwortlichen dazu fühle ich mich wie in einem schlechten Film
Besonders dreist agiert die Kanzlerin: Sie lässt erklären und bestätigt in Interviews, dass sie nichts gewusst habe. Punkt! Dabei weiß jeder, dass Angela Merkel nicht erst seit gestern Kanzlerin ist. Die Aufsicht über und die Koordinierung der deutschen Geheimdienste findet im Verantwortungsbereich des Kanzleramts statt; die regelmäßigen Runden werden von einem ihrer Vertrauten geleitet. Redet der nicht mit seiner Chefin? Hält der so wichtige Informationen wie die flächendeckende Ausforschung eines ganz Landes und seiner Bürger zurück, Ministerien und Unternehmen eingeschlossen?
Dreiste Ahnungslosigkeit
Man braucht nicht Mitglied des Geheimdienst-Kontrollgremiums des Deutschen Bundestages zu sein, um das für mehr als unwahrscheinlich, ja, für eine besonders perfide Form der öffentlichen Rosstäuscherei zu halten. Man mag es als Humor empfinden, wenn die Kanzlerin verkündet, das Internet sei für sie Neuland, immerhin verschickt sie ja pausenlos SMS durch die Welt. Man mag ihr auch nachsehen, dass sie die exakten Namen und Methoden der aktuellen Bespitzelungs-, Speicher- und Auswertungsprogramme nicht kennt. Insgesamt jedoch ist diese vorgeführte Ahnungslosigkeit schon dreist.
Leider geben sich viel zu viele Journalisten damit zufrieden und wirken so bei der Verwirr-Inszenierung mit, die eine Auseinandersetzung mit dieser Geheimdiensttätigkeit selbst verhindert: Sie fallen auf die Finten von Angela Merkel herein und berichten brav und unkommentiert, sie sei erstaunt und erschüttert, wolle aber bei den Freunden aufklären und erst dann bewerten. Sie geben sich auch damit zufrieden, wenn Merkel – ganz treuherzig – hinzufügt, selbstverständlich müssten sich auch die ausländischen Geheimdienste in Deutschland an das Recht halten, das auch den BND binde.
Dann fährt der Bundesinnenminister in die USA, um die Aufklärung voranzutreiben, obwohl der weder Ahnung von, noch Verantwortung für ausländische Geheimdienste oder den BND hat. Aber er freut sich, dass auch US-Vizepräsident Biden mit ihm redet und bringt schöne Pressefotos mit. Und eine Zusage, es werde bald weitere Dokumente geben, darüber werde er dem parlamentarischen Kontrollgremium berichten. Ein Schelm, wer bei so vielen Neuigkeiten Böses denkt!
Das ganze Vorgehen legt nahe, dass die Regierung im Wahlkampf das Verwirrspiel fortsetzen und die Kritik der Opposition so lange als amerikafeindliches „Wahlkampfgetöse“ abtun will, bis die Öffentlichkeit das Thema leid ist und sich etwas Anderem zuwendet. Und alles bleibt, wie es war.
Es geht um die Freiheit
So darf es nicht kommen. Es geht hier nicht nur um die Kanzlerin und ihre Glaubwürdigkeit. Hier steht die Freiheit in unserer Bürgergesellschaft auf dem Spiel. Es ist naiv, darauf zu setzen, das flächendeckende Absaugen von E-Mails und anderer Kommunikation durch Geheimdienste, die Speicherung und Auswertung aller Daten behindere uns nicht wirklich. Das sei nicht so schlimm, angesichts der Terrorgefahr…
Wie naiv das ist, zeigt ein kleiner Vorfall aus den vergangenen Tagen: Nach den Berichten über die Bespitzelungen lädt ein junger Mann auf Facebook zu einem völlig legalen und harmlosen Spaziergang in die Nähe einer NSA-Station bei Darmstadt ein. Dann klopft auf Verlangen der US- Militärpolizei die deutsche Polizei morgens um 7.07 Uhr an seine Haustür und der deutsche Staatsschutz befragt ihn kritisch. All das wird natürlich auch gespeichert und ausgewertet. Leicht vorstellbar, was wir künftig nicht mehr dürfen – oder was wir nicht mehr riskieren, obwohl wir das dürfen…
Diskussionen, bitte
Es wird Zeit, dass Bundesregierung und Bundestag, unterstützt von der Öffentlichkeit, dieses jämmerliche Spiel beenden und Raum schaffen für die Diskussion der wirklich wichtigen Fragen. Erstens: Gibt es noch Restbestände an alliierten Rechten und die ihrer Geheimdienste, die bis in unsere Zeit hinübergereicht wurden? Wenn ja, wie sehen sie genau aus und wie gedenkt die Bundesregierung, sie zum Schutz von uns Bürgern abzulösen?
Zweitens: Berufen sich die Geheimdienste auf die Beistandsklausel des NATO-Vertrags als Rechtsbasis für ihre Bespitzelungen? Wenn ja, wie gedenkt die Regierung, dies zum Schutz der Bürger zu ändern?
Drittens: Die Kanzlerin muss öffentlich klarstellen, welche Methoden der BND im Ausland anwenden darf und anwendet; und welche Informationen er sich bei ausländischen Geheimdiensten beschaffen darf und beschafft. Sollten unsere Dienste ihre gesetzliche Grundlage verlassen oder in Grauzonen unterwegs sind, muss auch das schnell geändert werden.
Viertens: Da nicht nur bei uns und in der EU, sondern auch darüber hinaus verbindliche Regeln dafür geschaffen werden müssen, wo die Grenzen des Freiheitsverträglichen liegen, sollte die Bundesregierung umgehend ein Konzept dazu vorlegen.
Ich hatte gehofft, die Bundeskanzlerin mit ihrem Lebenshintergrund würde verstehen, dass flächendeckende Kontrolle durch Geheimdienste und Freiheit der Bürgerinnen und Bürger in einer freien Gesellschaft unverträglich sind. Sie braucht nur nachlesen, was unser Verfassungsgericht dazu entschieden hat: Zum Einen muss die Privatsphäre der Bürger geschützt werden. Aber der Datenschutz gehört zu den Schwachpunkten dieser Regierung. Die Union hat bis vor kurzem noch mit dem Slogan „Datenschutz ist Täterschutz“ Wahlkampf gemacht und zeigt bislang keinerlei bürgerschützenden Einsatz beim Arbeitnehmerdatenschutz oder bei der Ausarbeitung der EU–Datenschutzregelungen.
Zum Zweiten hat Karlsruhe aus gutem Grund den individuellen Grundrechtsschutz auf den Schutz der Kommunikationswege vor Überwachung ausgedehnt: Deren Ausspähung schadet nicht nur unserer Wirtschaft und deren Konkurrenzfähigkeit – auch unser aller Bürgerfreiheit bleibt auf der Strecke.
Vor einiger Zeit hat Angela Merkel von der „marktkonformen Demokratie“ gesprochen, um ihre verfehlte Euro-Rettungspolitik im Parlament zu verteidigen. Schon das war geradezu schrecklich verkehrt. Die Vorstellung von einer „geheimdienstkonformen Demokratie“ ist es noch mehr. Sie sollte auch die Kanzlerin schrecken.
Herta Däubler-Gmelin, geboren 1943, saß von 1972 bis 2009 für die SPD im Bundestag. Von 1998 bis 2002 war sie Bundesjustizministerin
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