Mein liebes Polen ist von einer bösen Wahrheit überfallen worden. Es geschah ganz plötzlich. Schon seit Monaten gab es nach ersten Publikationen der Rzeczpospolita diverse Artikel in Wochen- und Tageszeitungen, in denen das Wort "Jedwabne" auftauchte - doch schien es zunächst im Gedröhn von "Lustration" (*) und "Big Brother" zu verhallen. Erst das Buch Sasiedzi ("Die Nachbarn") von Jan Tomasz Gross, der im nordöstlichsten Winkel des Landes einen waghalsigen Verleger gefunden hatte, verhalf der schrecklichen Kunde zum Durchbruch: Am 10. Juli 1941 haben die Einwohner des nördlich von Lomza gelegenen, kaum 3.000 Seelen zählenden Städtchens Jedwabne (die Ortsbezeichnung deutet auf Seide) ihre jüdischen Mitbürger zuerst auf fürchterliche Weise misshandelt und dann umgebracht - verbrannt.
Wenn der Begriff "die Gesellschaft" auf eine dünne Schicht von Intellektuellen, die höhere Geistlichkeit und sogar noch auf die Quasi-Intelligenzler unserer sogenannten politischen Klasse bezogen werden kann, dann darf man wohl sagen: Polens Gesellschaft war von der Tatsache, dass es auch im - wie das patriotische Lied versichert - "edlen königlichen Stamm der Piasten" derartige Verbrechen gab, zutiefst erschüttert.
Die öffentliche Debatte, die nun über das Jedwabne-Syndrom stattfindet, verleiht dem polnischen Historikerstreit, der bisher fast ausnahmslos auf die "Überwindung der Kommune-Zeit" fixiert war, eine völlig neue Dimension: Die Nation steht nicht als Opfer, sondern als Täter vor dem Gericht des eigenen Gewissens. Zur "Trauerarbeit" muss jetzt nicht das gehören, was uns die Anderen angetan haben (obwohl man berechtigterweise davon auch nicht wegkommt) - die Frage lautet umgekehrt: Wie haben wir uns an den Anderen vergangen?
"Die meisten Juden waren doch mit den Russen getürmt"
Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte überkommen mich allerdings Zweifel bezüglich der Fähigkeit und Bereitschaft, sich dieser Frage zu stellen. Als Präsident Aleksander Kwasniewski - expressis verbis eine "Kollektivschuld" zurückweisend - von "unserer gemeinsamen Verantwortung für Jedwabne" sprach und im Namen der Nation die Juden um Vergebung bat, wurde er von etlichen rechten, streng katholischen und "super-patriotischen" Sejm-Abgeordneten und deren Gefolge wieder einmal in den antikommunistischen Schlamm gezerrt. Wenn Kwasniewski schon um Verzeihung bitte, dann möge er das für die Verbrechen der Moskau-hörigen Staatshalter der Volksrepublik Polen tun! Und das katholische Blatt Nasz Dziennik benannte ein quantitatives Problem: Können es denn tatsächlich 1.600 Juden gewesen sein, die in einer kleinen Scheune bei Jedwabne verbrannt wurden? Sollte man nicht lieber das Ende der vom Nationalen Gedächtnis-Institut (IPN) eingeleiteten Untersuchung abwarten, ehe man ein Urteil über den Ort fällt? - wird weiter gefragt. Und darf man wirklich der Zeugenaussage Glauben schenken, die von Szmul Wassersztajn 1945 vor der Jüdischen Historischen Kommission in Bialystok über die "Vorkommnisse" von Jedwabne am 10. Juli 1941 abgelegt wurde? Dieser Wassersztajn war doch Beamter des kommunistischen UB-Sicherheitsdienstes!
"Jedes Volk hat Gründe, um stolz, aber auch um beschämt zu sein"
Polens Primas Kardinal Jozef Glemp räumte in einem Rundfunkgespräch ein, der vor fast 60 Jahren mit polnischen Händen verübte Massenmord an jüdischen Mitmenschen könne nicht bezweifelt werden. Erzbischof Jozef Zycinski - Glemps Amtsbruder aus Lublin - mahnte in einem Zeitungsartikel, man solle nicht anfangen, "nach imaginären Dokumenten zu stöbern" und beweisen wollen, die Tragödie von Jedwabne sei eine belanglose Episode gewesen. Doch Stanislaw Stefanek, der örtliche Bischof von Lomza, wittert in dem "weltweiten Lärm" um Jedwabne "Geldinteressen" der Juden. Und der Ortspfarrer Edward Orlowski gibt bei einem Interview mit der Zeitung Nasz Dziennik zu Protokoll, dass die Zahl von 1.600 Ermordeten nach Meinung seiner katholischen Herde übertrieben sei. - "die meisten Juden waren doch mit den Russen getürmt!"
Die Aussage bezieht sich auf den Wechsel der Okkupanten im Sommer 1941. Nach den Geheimbestimmungen des Ribbentrop-Molotow-Paktes vom August 1939 war Jedwabne nach dem deutschen Überfall auf Polen zunächst dem sowjetischen Herrschaftsbereich zugeordnet worden. Dann aber - nach dem Angriff der Wehrmacht auf die UdSSR am 22. Juni 1941 - unter deutsche Besatzung geraten. Zuerst - so kolportiert es inzwischen die polnische Historiker-Debatte - hätten die Juden freudigst mit dem sowjetischen Geheimdienst NKWD kollaboriert, polnische Patrioten verfolgt und zu Tode gebracht. Was am 10. Juli 1941 - in der dritten Woche der zweiten Okkupation - geschah, könne also als Rache gelten, sie wurde durch die Deutschen forciert.
Es ist sicher richtig, dass die primäre Verantwortung auch für dieses Verbrechen bei denen liegt, die 1939 die Menschheit in den II. Weltkrieg gestürzt haben, aber damit wird nicht die ganze Wahrheit erfasst. Am deutlichsten hat das gerade Aleksander Malachowski - ein linker Intellektueller, der seit 1980 als Solidarnosc-Berater ein Verfolgter war - in seinem Aufsatz Brandfackel des Hasses veranschaulicht. Als gläubiger Katholik verweist er auf den durch die Kirche geschürten Antisemitismus, auf einen in den einstigen "Rayon-Gebieten" des Zarenreiches angestachelten Judenhass, der die dortige Mentalität beherrschte und die Menschen mit wenigen Ausnahmen (die Familie Wyrzykowski rettete 1941 in Jedwabne sieben Juden) zum Pöbel erniedrigte. Ähnlich hat sich Piotr Kuncewicz - Autor des vor wenigen Monaten erschienenen Buches Die Goyen und die Juden - geäußert: die Sünde des Antisemitismus belaste vor allem die Katholische Kirche Polens und das Erziehungssystem.
Ob man dies heute wahrhaben will? Die Kontroverse darüber, ob "der Pöbel von Jedwabne" ganz allein, aus eigenem Antrieb gehandelt hat oder auf Befehl der Deutschen, deren SS-Einsatzgruppen in der Umgebung von Jedwabne wüteten - sie ist zu einfältig, um darauf näher einzugehen. Polen haben ihre jüdischen Nachbarn gemordet! Dies ist das Faktum, dem wir uns zu stellen haben. Eine Revision unseres verehrten Selbstbildnisses ist angesichts der Offenbarung von Jedwabne ein Gebot der Stunde. Das Schurkenhafte kann sich nicht hinter den in Yad Vashem geehrten 11.000 Polen verbergen, die unter Lebensgefahr jüdischen Nachbarn das Leben gerettet haben. In einem Brief des Landesvorstandes des Demokratischen Linksbündnisses (SLD) an seine Mitglieder heißt es: "Jedes Volk hat Gründe, um stolz, aber auch um beschämt zu sein. In jeder Nation hat es Helden wie Schurken gegeben. Polen sind keine Ausnahme ... Von unseren früheren Generationen erben wir nicht nur Größe und Ehre. Wir erben auch das Unwürdige - sogar die Schande." Doch sich dieser Verantwortung wirklich zu stellen, es wird vermutlich ein langer Prozess sein.
(*) Bezeichnung für Überprüfungen wegen möglicher Kontakte zum ehemaligen Staatssicherheitsdienst.
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