Griechenland Die Linksallianz Syriza wollte lange vom Regieren nichts wissen. Nun stimmt sie sich doch darauf ein, möglichst bald die Geschicke des Landes zu leiten
Alexis Tsipras versucht, mit Syriza die Gesellschaft umzugestalten
Foto: Milos Bicanski / Getty Images
In der palastähnlichen Szenerie des griechischen Parlaments eröffnet der Syriza-Vorsitzende Alexis Tsipras eine Sitzung seiner 71 Abgeordneten mit der für ihn charakteristischen Mischung aus Gelassenheit und guter Laune. Zur gleichen Zeit betreiben im ganzen Land Syriza-Mitglieder Solidaritätsküchen und Basare, arbeiten in medizinischen Einrichtungen, schützen Immigranten vor Angriffen der faschistischen Partei Goldene Morgenröte und sind in etlichen Gewerkschaften aktiv. Sie treiben den Wandel der aus zwölf Organisationen bestehenden Koalition (mit zuletzt mehr als 1,6 Millionen Wählern) zu einem neuartigen politischen Organismus voran. Mittendrin finden die Mitglieder noch Zeit, ein dreitägiges Antirassismus-Festival mitzuorganisieren, da
nisieren, das 2012 zum 16. Mal stattfindet. Erwartet werden 30.000 Besucher im Athener Goudi-Park.Bei alldem geht es immer auch darum, wie mit den Wahlerfolgen von Syriza eine sich selbst organisierende soziale Kraft wächst, die eines nicht fernen Tages die Regierung stellen könnte. Als Syriza am 6. Mai 17 Prozent der Stimmen erhielt, waren die meisten Mitglieder von dem Erfolg überwältigt. Immerhin war die Allianz noch vor drei Jahren mit 4,7 Prozent nur knapp über den drei Prozent gelandet, die für den Einzug ins griechische Parlament nötig sind. Seit dem 17. Juni aber, als Syriza auf 27 Prozent der Stimmen kam, begannen die Parteimitglieder ernsthaft an eine Übernahme von Regierungsverantwortung zu denken.Geben und NehmenDimitris Tsoukalas aus Athen gehörte früher der sozialdemokratischen Pasok an, der größten Mitte-Links-Partei des Landes. Jetzt ist er Syriza-Parlamentarier und beschreibt das Wahlergebnis als „Ausdruck einer Notlage“. Die Stimmen für Syriza könnten wieder verweht werden „wie Sand am Meer“. Der werde zwar nicht zur Pasok zurückgeweht, aber die konservative Nea Dimokratia, die im Juni über 30 Prozent der abgegebenen Stimmen einsammeln konnte, dürfte ihre Strategie – zusammen mit privaten Medien Angst vor einem etwaigen Syriza-Triumph zu schüren – bei einem nächsten Wahlgang noch verstärken.Und dass möglicherweise in diesem oder nächsten Jahr die Bürger erneut an die Wahlurnen gerufen werden, erscheint nicht unrealistisch. Eine extreme Gefahr, so sagt es Tsoukalas, drohe von den Faschisten. Die täten nichts weiter, als Einwanderer und Flüchtlinge für die von der Troika-Sparpolitik verursachten Verheerungen des sozialen Lebens verantwortlich zu machen. Das finde Zuspruch, in den Städten mehr als in ländlichen Regionen.Suppenküchen und KlinikenBei ihrer außerparlamentarischen Arbeit räumt Syriza Netzwerken Priorität ein, um die in der Gesellschaft traditionell verwurzelte Kultur der gegenseitigen Hilfe zu fördern: Suppenküchen schließen sich mit Landwirten zusammen, Ärzte und Schwestern richten medizinische Zentren ein, es werden Händler unterstützt, die Lebensmittel zum Selbstkostenpreis abgeben. Man hilft bei Aktionen gegen die Stromabschaltungen oder sorgt für rechtlichen Beistand, um bei Hausbesitzern verringerte Hypothekenzahlungen zu bewirken. Dass sich Syriza hier so stark engagiert, hängt eben auch mit den Gefahren zusammen, die von den Ultrarechten ausgehen: „Wenn die Linken diese gesellschaftlichen Kontakte nicht pflegen, dann übernehmen das andere für sie“, meint Dimitris Tsoukalas.Die Partei Goldene Morgenröte sei längst dabei, eine eigene soziale Infrastruktur nur für Griechen und gegen Einwanderer zu schaffen. Eine Horde von Schlägern habe Mitte August im proletarisch geprägten Vorort Nikea in der Nähe des Hafens von Piräus die Läden pakistanischer Lebensmittelhändler überfallen und ihnen gedroht, sie hätten eine Woche Zeit, um zu verschwinden. Syriza gewann in Nikea am 17. Juni 38 Prozent der Stimmen. Nach dem Angriff rief die Partei zu einem Marsch der Solidarität mit den Ladenbesitzern auf, an dem sich 3.000 Menschen beteiligten.Geben und NehmenDiese Netzwerke, bei denen Syriza nur ein Akteur unter vielen ist, verstehen sich als basisdemokratisch. „Wir erklären den Leuten, dass Solidarität auf Geben und Nehmen basiert“, sagt Tonia Katerini. Doch seien die Netzwerke kein Ersatz für den Wohlfahrtsstaat. „Die Menschen haben existenzielle Sorgen, die wir nicht lösen können. Dennoch lässt sich etwas für ihre Sozialisierung tun.Syriza-Mitglieder, die sich in Hospitälern engagieren, setzen sich dafür ein, dass genügend Medikamente vorhanden sind und Bedürftige notfalls kostenlos behandelt werden. „Wir wollen den Menschen eine Vorstellung davon geben, wozu sie selbst in der Lage sind. Sie sollen ein Gefühl für ihre Macht bekommen.“ Natürlich wolle man dadurch auch Wähler halten und Rückhalt gewinnen, den Syriza in der Regierungsverantwortung brauchen werde. Tonia Katerini: „Sollten wir in ein paar Monaten oder einem Jahr die Regierung übernehmen, werden die Leute besser darauf vorbereitet sein, für ihre Rechte zu kämpfen und es mit den Banken aufzunehmen.“Umgestaltung des StaatesAristedes Baltas aus der Syriza-Führungsriege und der älteren Generation von Synaspismos, der größten Vereinigung in der Syriza-Allianz, lektoriert ein detailliertes 400-Seiten-Programm, das auf einen selbstbewussten Umgang mit Regierungsbeteiligung oder -verantwortung zielt. Einer von vier Abschnitten ist mit Umgestaltung des Staates überschrieben. Baltas resümiert darin, was Syriza in einem Ministerium tun möchte, falls es dessen Führung übernimmt – eine ehrgeizige Strategie zur Demokratisierung eines institutionell korrupten Staates.Damit wird gleichzeitig die Aussage der Troika von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds infrage gestellt, Griechenlands Staat sei nur durch Privatisierungen zu modernisieren – es gebe keinen anderen Weg. Aristedes Baltas hält es hingegen für geboten, die Bastionen der Korruption in den Ministerien zu schleifen und Raum für unterdrückte und ungenutzte Ideen der Mitarbeiter zu schaffen.Seit Nea Dimokratia und Pasok mit der Demokratischen Linken (Dimar) regieren, bringe jeder Minister 40 bis 50 Berater mit, die über so gut wie alles zu entscheiden hätten. Das – so Baltas – sei eine „tödliche Struktur“, die quer durch das ganze System neuralgische Punkte schaffe und für Korruption anfällig sei. „Wir würden das anders machen. Wir würden alle Mitarbeiter eines Ressorts zusammenrufen und sie zur Eigeninitiative ermutigen, um den Staat für die Bedürfnisse der Menschen zu öffnen.“ Untere und mittlere Chargen eines Ministeriums sollten animiert werden, „sich zu beteiligen. Es wäre das erste Mal, dass so etwas in Griechenland geschieht.“Eine zweite Pasok?Neben derartigen Einstimmungen auf eine Zeit des Regierens sind die Syriza-Aktivisten sensibilisiert für die Gefahr, soziale Wurzeln zu verlieren und eine „zweite Pasok“ zu werden. Sollte Syriza von einem Bündnis mehr und mehr zu einer Partei mutieren, dann bleibt es für den Abgeordneten Theano Fotiou eine Priorität, „Strukturen zu haben, die es ermöglichen, dass die Menschen stets mit uns in Verbindung stehen, auch wenn sie kein Mitglied sind. Damit sie Syriza kritisieren und ihre Vorstellungen formulieren können ...“Ein Umstand, der andere, für soziale Bewegungen offene Parteien stets in Bedrängnis brachte, sind die Ressourcen, mit denen der Staat sie unterstützt. Durch den Wahlerfolg im Juni hat Syriza mit acht Millionen Euro das Dreifache bisheriger Zuwendungen erhalten. Überdies werden jedem Syriza-Abgeordneten im Parlament fünf Mitarbeiter zugeteilt und bezahlt. Welchen Einfluss haben die schweren sozialen Konflikte in der Gesellschaft auf die Verteilung dieser Ressourcen?Andreas Karitzis gibt darauf folgende Antwort: „Der größte Teil dieser zusätzlichen Gelder fließt in Nachbarschaftsinitiativen, die sich um ein bestimmtes Stadtquartier, um eine bezahlbare medizinische Behandlung oder um Kontakte zwischen städtischer Bevölkerung und ländlichen Produzenten kümmern. Das sind Dinge, bei denen wir die Leistungsfähigkeit der Partei außerhalb des Parlaments nachweisen können. Und von den fünf Mitarbeitern, die einem Abgeordneten zustehen, arbeiten zwei direkt für ihn, einer für einen Parlamentsausschuss und zwei für die Partei innerhalb der sozialen Bewegungen und der Nachbarschaftsnetzwerke.“Radikalisierte GewerkschaftenDer Zusammenbruch der alten politischen Ordnung hat auch die Gewerkschaften radikalisiert, die eng an Parteien wie die Pasok, die Kommunisten der KKE oder Nea Dimokratia gebunden waren. Welche Konsequenzen dies für den Aufbau tatsächlich unabhängiger Gewerkschaften haben wird, ist momentan noch offen. Es lässt sich allerdings nicht ausschließen, dass eine starke gewerkschaftliche Basis ihrerseits Syriza radikalisieren könnte, sollte die Allianz einmal die Regierung stellen oder daran beteiligt sein.Auf jeden Fall zeigt Syriza exemplarisch, wie sich eine Politik der sozialen Bewegungen mit einem disziplinierten Eingriff ins politische System verbinden lässt, um dadurch Rechte zurückzuerobern, die bei etablierten Parteien heute als durchaus verzichtbar gelten. Wenn dieses Beispiel, das unter den Bedingungen extremer sozialer Auszehrung stattfindet, Schule macht, kann dies die politische Topografie Europas verändern.Der Text ist im Original unter dem Titel "Greece Shines a Light" in der August-/September-Ausgabe von Red Pepper erschienen
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