Wieder sorgte das Werk Heiner Müllers für intensive Gespräche. Auf einem dreitägigen Workshop an der Berliner Akademie der Künste am vergangenen Wochenende räsonierten Dichter, Dramaturgen, Schauspieler, Soziologen und Philosophen über die Aktualität des ostdeutschen Dichters und Dramatikers, der in diesem Jahr 75 geworden wäre. Explosion of a Memory lautete das diesjährige Motto der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft, die seit 2001 solche Workshops und Symposien organisiert. Auffallend war noch einmal die Produktivität in der Rezeption des Dramatikers: "Herzstück"; "Wenn sie mit Fleischmessern durch eure Schlafzimmer geht"; "Die Sonne zergeht auf der Zunge" - so zierte die geschliffene Diktion des Dichters den Veranstaltungsplan. Diesmal stand wieder der Müller im Mittelpunkt, der seine Gedanken über das Denken selbst vor dem zivilisatorischen Abgrund der kapitalistischen Verwertungsspirale thematisierte. Vom philosophierenden Dramatiker, der in den Siebzigern in der DDR Gespräche über den "sich eigens aushöhlenden Marxismus" (zum Beispiel mit dem Berliner Philosophen Wolfgang Heise über Lessings Nathan der Weise oder Benjamins Revolution als Notbremse) führte und produktiv umsetzte, war weniger die Rede. Obwohl dann doch, wenn auch ihres eigenen Kontextes beraubt, Müllers philosophische Perspektive zur Sprache kam. Insbesondere als der italienische Philosoph Toni Negri, Autor des weltbekannten Buchs Empire, die Bühne betrat, um seine politische Philosophie mit Müllerschen Versatzstücken aufleuchten zu lassen. Von da aus verband sich der warme Strom von Negris "Multitude", der Ethik Spinozas entlehnt, mit Müllers dramatischem Werk. Nicht die Postmoderne, eine ausgefeilte Häresie des Marxismus, könne indes der Welt das mondäne (das plebejisch-rebellische, Blochsche Element) Antlitz zurückgeben, sondern die Ontologisierung des revolutionären Widerstands im Subjekt der "Multitude" selbst: in Gestalt der Parias, der durch die Welt Wandernden, deren Widerstandständigkeit gegen die Biopolitik unerschöpflich sei, so der Italiener. Multitude als dynamische Latenz, Potenz und Tendenz, von der Statik des traditionell liberalistischen und auch des marxistischen Klassenbegriffs befreit. Aber auch wenn Negri zum Anfang seines ausgedehnten Vortrags, der mit geistreich illustrierenden Kommentaren von Peter Kammerer ergänzt wurde, zugab, Müllers Werk nur partiell zu kennen, war letzterer allgegenwärtig - aus aktuellem Anlass natürlich. Müllers Bestandsaufnahme des Lebens im Zeitalter des Abgrunds kehrte mit Negris politischer Philosophie zurück. Und so verwies Negri auf die Aufhebung der Dialektik ("These-Antithese-Synthese"), auf die postbrechtianische, antagonistische Zäsur im Müllerschen Denken, das triadisches, hoffnungsgetränktes Einverständnis ablegt, Repräsentativität vernichtet, um zur Lebenskunst des Direkten zurückzufinden. Wie ist aber Widerstand in dieser Zeit immanenter Obdachlosigkeit, die ihrer "modernen" Transzendentalität "postmodern" entwachsen sei, noch möglich? Wie können diese immer wiederkehrenden Lebensverlegenheiten der Menschheit, diese anthropologischen Bruchstellen, angesichts des Verschwindens des "Weltaußens" (das das Kapital selbst konstituierte) gedacht, gewusst und gefühlt werden? Müller, der berufliche "Landvermesser", Franz Kafka gleich, so Milena Massalongo, suchte die Antwort in der mannigfachen Zäsur, in der Zerschneidung des Reiches von Freiheit und Notwendigkeit, in der Zerstörung ihrer Binarität. In diesem Zusammenhang referierte Negri über den epochalen Übergang von Moderne zur Postmoderne, von Fordismus zum Postfordismus. Da werde die "Multitude", jene unzerstörbare Vielfalt, sichtbar, die dem Offizier in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie gleicht, der den Folterapparat zur Selbstvernichtung bringt, indem er ihn gegen sich wendet. "Auch die Sintflut dauerte nicht ewig" (Brecht). Könnte diese "Hoffnungstranszendenz" noch sinnstiftend sein, indem man sich einen "metaphysischen" Abschluss der kapitalistischen Ausbeutung vorstelle? Schwer zu sagen. Negri lehnte die "moderne" Dialektik als nicht-antagonistisch ab und zog Müller in seinen Bann - oder war es Müller selbst, der dem Italiener das unversöhnliche, zerschneidende Ironisieren der Geschichte beibrachte? Schwer zu sagen. Indes taten sich mehr Fragen auf als Antworten. Schließlich war zu erfahren, Negri bereite gerade den zweiten Empire-Band mit seinem Kollegen Michael Hardt vor, in dem es um die Ausformulierung des "Multitude"-Begriffs gehe. Vielleicht wird man hier auch bald den deutschen Dramatiker wieder finden.
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