Furie des Aufruhrs

Bolivien blitzt auf Erstürmen die Indios die politische Macht?

In Bolivien scheint jeder Wille zur politischen Veränderung unweigerlich mit einer sozialen Revolte verbunden zu sein. Erst wenn der Aufstand einsetzt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Welt auf das arme Andenland, von dem sie sonst kaum Notiz nimmt. Die Straße hat über das Schicksal des Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada entschieden, der unter dem Druck der mehrheitlich indianischen Opposition nach einem blutigen Konflikt mit über 70 Toten gehen musste. Der neue Staatschef Carlos Mesa sieht sich als "Mann des Übergangs".

Die Vollendung einer Revolte ist in Bolivien stets ungewiss. Sinn und Zweck des Aufbegehrens ergeben sich vielmehr im Prozess selbst, es wird mit schwer kalkulierbaren Maßstäben, aber mit einer in der Region kaum vergleichbaren Radikalität gehandelt. Spontaneität steht gleichsam als Markenzeichen für eine politische Kultur, die auf die Geschichte des Landes verweist. Die Instabilität, die eine solch eruptive Rebellion hervorruft, entspricht aber stets einer Vorahnung dessen, was der ganzen Region bevorsteht. Bolivien kann als Südamerika in potentia - als dessen seismographischer Ausdruck - bezeichnet werden.

Eingemauert durch die Anden, der Meeresküste allzu fern, die man an den Erzfeind Chile im Pazifikkrieg 1879 verlor, für den Weltmarkt als Binnenlandprovinz wenig attraktiv, bar aller tradierten Schemata zweckrationaler politischer Konfrontation - wirkt das Andenland in den Augen der Welt wie eine Schrulle des Unzeitgemäßen, das Vergangenes als Ideologie oder Künftiges als Utopie aufzuzeigen vermag, dem Takt der Gegenwart jedoch nicht folgt. In Zeiten des Aufruhrs - immer kurz, aber heftig - blitzt Bolivien auf. Sobald die Revolte abklingt, kehrt das Land zum gewohnten Schlummertrott zurück, bis es der nächste Aufruhr noch einmal aufflammen lässt.

Jedem Aufbegehren haftet etwas Ekstatisches an, das sich nach und nach zu realhistorischer Tendenz mausert, es erwächst aus den Urgründen der säkularen, brutalen Ausbeutungsgeschichte einer mehrheitlich autochthonen Bevölkerung, die zusammen mit Mischlingen und einer Handvoll deklassierter Weißer das Gewissen des Andenlandes verkörpert. Auf bolivianischem Territorium stehen noch Franziskaner-Kirchen, in denen Indios in einem von Geistlichen erlernten Latein aus dem 16. Jahrhundert bis heute voller Inbrunst die Messen singen, um einen Tag später dem Ruf des Generalstreiks zu folgen.

Im 20. Jahrhundert nun verblüffte Bolivien die Welt mit der an Einzigartigkeit und Radikalität kaum zu übertreffenden Aprilrevolution von 1952, die den jungen Ernesto Ché Guevara bald zum antiimperialistischen Fokus des Guerilla-Krieges inspirierte. Das "kolonialisierte Indianerding" schien dank der Umbrüche allmählich zum Menschen zu werden. Peruanische oder ekuadorianische Indios schöpften Hoffnung. Ihre jeweiligen Oligarchien zitterten vor möglicher Nachahmung. Eine tiefgreifende Bodenreform, eine demokratische Verfassung, die reale Abschaffung der Leibeigenschaft und umfassender ökonomischer Wandel schienen dem Land eine bessere Zukunft zu verheißen. Lateinamerikas Hoffnungen erwachten erneut.

Plötzlich waren auch die Augen der Welt auf das vergessene Land gerichtet, bis die noch immer feudale Nationaloligarchie mit Hilfe der USA den revolutionären Schwung ausbremste - Jahrzehnte der Militärputsche folgten, bei denen Bolivien einen traurigen Weltrekord hält.

Erst die Regierung des linksliberalen Hernán Siles Suazo beendete 1982 diese Periode. Die Demokratie verwies das Militär in die Schranken der Kaserne. Alles schien in die Bahnen einer erschöpfenden Modernisierung zu geraten, die mehr Freiheit und Gerechtigkeit bringen sollte. Doch die institutionelle, parlamentarische Phase setzte sich durch, ohne die unerlässliche soziale Frage zu beantworten, die auch in Bolivien immer den eigentlichen Grund von Rebellionen bildet.

Heute scheint sich eine Neuauflage der revolutionären Ereignisse vom 1952 anzukündigen. Eine etwa drei Monate dauernde Revolte beendete - von der Straße her - die Präsidentschaft von Gonzalo Sánchez de Lozada, der unter dem Druck der mehrheitlich indianischen Opposition nach einem blutigen Konflikt mit über 70 Toten gehen musste. Am gleichen Tag wuschen Kinder und Greise in La Paz und Cochabamba symbolisch Blutflecken aus der bolivianischen Fahne, um den Neuanfang zu bekunden.

Erstarkt durch den Erfolg stehen weitere politische Forderungen auf der Tagesordnung, während das bürgerliche Lager zu Mäßigung und Versöhnung aufruft - wie immer, wenn es schwach geworden ist. Während der Gringo "Goni" Sánchez mit den noch loyalen Ministern nach Miami flüchtete, wählte zeitgleich das Parlament verfassungsgemäß einen neuen Präsidenten. "Jetzt geht´s erst los!" riefen zugleich Demonstranten in La Paz und der Vorstadt El Alto. "Die Revolte ist nicht beendet! - auch nicht mit dem Regierungsantritt des 50jährigen Vizepräsidenten Carlos Mesa, einem parteiunabhängigen, als liberal geltenden Journalisten, der ein Referendum über den sogenannten "Gaskrieg" (s. Kasten) und eine Nationalversammlung versprochen hat. Mesa wird bis zu Neuwahlen provisorisch das Land führen.

Keine leichte Mission, einer permanenten Revolte entgegenzuwirken, bis vielleicht der erste indianische Präsident - der einstige Kokabauer Evo Morales hätte die besten Chancen - Bolivien regiert. Das Minimalziel der linksindianischen Opposition scheint erfüllt, aber Ruhe ist nicht eingekehrt.

Eine umfassende Reform von Legislative und Exekutive ist anvisiert, die Rücknahme der jüngst in Kraft getretenen Steuerreform auch. Alternative Strategien zum Export der Bodenschätze sind versprochen und beziehen sich auf das kürzlich entdeckte, auf Trillionen Kubikmeter geschätzte Erdgasvorkommen im Süden. Das von Morales geführte Movimiento al Socialismo (MAS), das bei den Wahlen am 30. Juni 2002 20,9 Prozent der Stimmen gewann, will nun - zusammen mit dem radikalen Aimara-Indioführer Felipe Quispe, der an der Spitze des Movimiento Indígena Pachakuti (MIP) steht - die Ausfuhr von Erdgas über Peru erzwingen und nicht wie bisher geplant über den vermeintlich kürzeren Weg zu einem chilenischen Hafen, von dem dann per Pipeline der Transfer via Mexiko in die USA führen soll. Wer die nötigen Investitionen zu dieser Option, die zweifellos Tausende Arbeitsplätze schaffen würde, aufbringen soll, ist nicht bekannt. Helfen könnten nur Argentinien und Brasilien, auch im eigenen Interesse, weil das bolivianische Gas als besonders ergiebig und preiswert gilt. Doch beide Staaten werden abwägen, ob sie deshalb einen Zwist mit den USA riskieren.

"Erdgas zuerst für die Bolivianer!" rief man in La Paz, Cochabamba oder Oruro. "Nieder mit dem Yankee-Imperialismus!" Bei guerillaartigen Blockaden der wichtigsten Straßen des Landes wurde die sofortige Einführung eines "bolivianischen Sozialismus" verlangt. "Die Weißen nach Spanien!" hört man zuweilen aus den Reihen des radikalen MIP. Ein umgekehrter Rassismus, unüberhörbar.

Auf jeden Fall sind das US-Establishment und das nationale Bürgertum bestürzt - soll das indianische Dienstmädchen etwa jetzt Herrin werden? Und der Kofferträger indianischer Herkunft auf dem Flughafen das Gepäck plötzlich fallen lassen, den weißen Herren umrempeln und selbst in das Flugzeug steigen, womöglich in der ersten Klasse Platz nehmen? Könnte sich das Jahr 1898 wiederholen, fragt sich die weiße Minderheit, als die Indios an die 100 Großgrundbesitzer und Kadetten in der damaligen Hauptstadt Sucre töteten, ihre Leichen zerstückelten, um dann die zerhackten Glieder zu verspeisen? Selbst ein Priester, erzählt man, der zur Versöhnung der Rebellen mit den in einer Kaserne verschanzten Weißen herbeieilte, soll keine Gnade gefunden haben. Die Indios hätten kurzerhand aus dem noch warmen Leib des Geistlichen das "weiße Herz" gerissen. Seitdem fließt auch weißes Blut in den Indioherzen, behaupten die Weißen. Alter Mythos? Die Angst jedenfalls sitzt tief, die säkulare Feindschaft ist noch nicht geschlichtet, und Bolivien scheint fast unregierbar.

In den Regionen erheben sich immer stärker föderalistische, gar separatistische Stimmen. Bolivien droht auseinander zu fallen. Im östlichen Santa Cruz de la Sierra etwa - inzwischen die bevölkerungsreichste Stadt des Landes - ist der rassistisch motivierte Regionalismus sehr stark geworden. Die weiße Elite regiert noch in der Stadt. Kürzlich bewaffneten sich dort Tausende zur Verteidigung der sogenannten "Camba-Nation" gegen die "Kollas" (die in den Anden lebenden Indios), die wie eine "schwarze Lawine" über das "spanisch-kastillische Camba-Land" hereinbrechen könnten. "Weg mit den Indios!" hieß es dort, wo die meisten Ölreserven des Landes liegen. Und im südlichen, an der Grenze zu Argentinien liegenden Tarija, wo das erwähnte Erdgas gefunden wurde, gibt es ähnliche Forderungen. Dem "Bolivien der Regionen", in dem immer noch zentralistisch - von La Paz aus - regiert wird, droht nun der Kollaps, wenn nicht der endgültige Zerfall als Nation. Der soziale Sprengstoff bürgt für Revolten, die den ganzen Subkontinent nicht unberührt lassen werden.


Das "Gas-Geschäft" - 1.300 Millionen Dollar für das amerikanisch-britische Konsortium, 40 Millionen für den bolivianischen Staat

Schon während seiner ersten Amtsperiode (1993 bis 1997) hatte Sánchez de Lozada mit einem Dekret die vollständige Privatisierung der Hydro-Karbon-Industrie Boliviens angeordnet. Darunter fiel auch die jetzt umstrittene Ausbeutung der südlichen Erdgasvorkommen, die seit 2001 von der Pacific LNG betrieben wird - einem Firmenkonsortium aus Repsol YPF, British Gas und Panamerican Gas, einer Tochterfirma von British Petroleum (BP).

Das Gemeinschaftsunternehmen widmete sich bisher nicht allein der Gasförderung, es plante zuletzt Investitionen zwischen fünf und sieben Milliarden Dollar, um den Transport des Gases an die chilenische Pazifik-Küste und die dortige Aufbereitung in Verflüssigungsanlagen zu ermöglichen. Per Schiff sollte das Gas nach Mexiko gebracht, dort wieder in seinen ursprünglichen Aggregatzustand versetzt und in die USA weitergeleitet werden. Die Umsatzerwartung lag nach Angaben von Pacific LNG und der Washingtoner Beraterfirma Council on Hemispheric Affairs bei einem Volumen von 1,3 Milliarden Dollar pro Jahr - der bolivianische Staat sollte mit 40 Millionen Dollar an Steuern und sonstigen Abgaben abgespeist werden.

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