Mit der sprichwörtlichen Geduld des Präsidenten Evo Morales, die ihm bisher national wie international viel Sympathie brachte, scheint es vorbei zu sein. Das Glas zum Überlaufen brachte das Massaker in der abtrünnigen Nordprovinz Pando am 12. September, als Dutzende von Bauern - zumeist Anhänger der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) - auf Geheiß des korrupten Gouverneurs und einstigen Banzer-Anhängers Leopoldo Fernández von paramilitärischen Milizen - teils rekrutiert aus brasilianischen und peruanischen Söldnern - ermordet oder schwer verletzt wurden. Die zuweilen unberechenbare, als putschfreudig bekannte Armee folgte danach dem Befehl von Morales, verhaftete am 18. September - noch während der Gespräche zwischen der Regierung und den anderen Gouverneuren der sezessionistischen Flachland-Provinzen - den Anstifter Fernández, um ihn nach La Paz zu bringen, wo er wegen Mordes und Verschwörung angeklagt werden soll.
Der "kleine Affe", wie der indigene Morales von seinen rassistischen Kontrahenten in Lateinamerika genannt wird (als "großer Affe" gilt der "Mischling" Hugo Chávez aus Caracas, während als "alter Affe" der Kreole Fidel Castro firmiert), will nicht mehr nachgeben, um wie bisher den Konflikt zu vermeiden. Warum auch einstige und heutige Putschisten tolerieren, die nichts mehr hassen als "degenerierte Indios", den "unnatürlichen Sozialismus" und eine soziale Demokratie, die ihre Privilegien bedroht? Warum sollte Morales die neuen Kräfteverhältnisse in Lateinamerika nicht zur sozialen Transformation nutzen, wie sie während der siebziger Jahre mit tatkräftiger Hilfe der CIA im Namen des Christentums, der Demokratie und des Abendlandes erstickt wurde? Wer sich wie der heutige Staatschef Boliviens auf einen breiten demokratischen Konsens stützen kann und am 10. August beim Referendum über eine mögliche Amtsenthebung über 67 Prozent der Stimmen erhielt, der kann den "zivilen Putsch" von abtrünnigen Provinzen nicht mehr fürchten.
Evo Morales teilt die brennende Ungeduld einer Mehrheit, der momentan nichts wichtiger erscheint, als die postkoloniale Lage Boliviens zu beenden. Er hat die Geduld auch deshalb verlieren dürfen, weil er sich auf viel internationalen Beistand verlassen kann - Morales greift auf die Faust des Gesetzes zurück, während sich die Opposition dem Gesetz der Faust unterwirft.
Zum Ärger seiner Widersacher wurde Morales von der UN-Generalversammlung Ende September ausdrücklich als demokratisch bestätigt, er bezeichnete in einer flammenden, pathetischen Rede den "global deregulierten Kapitalismus" als "Geißel der Menschheit", was der US-Botschafter mit Kopfschütteln quittierte. Selbst das Plädoyer des französischen Präsidenten für einen "Kapitalismus mit mehr Regulierung", zu dem sich Sarkozy wegen der Bankkrise durchrang, wurde durch den Auftritt von Morales medial überboten. Der Bolivianer hatte überdies eine 25-seitige, alttestamentarisch anmutende Botschaft unter dem Titel Zehn Gebote zur Rettung der Welt, der Menschheit und des Lebens mitgebracht, in der das Prinzip einer nachhaltigen Entwicklung aus Jahrhunderte alter "indigener" Erfahrung abgeleitet wird, aus der die Menschheit nur lernen könne - und sogar müsse.
Evo Morales, der "kleine Affe", gesellt sich nun zum "großen Affen" und besonders zum "alten Affen", dem Diagnostiker des weltpolitischen Geschehens. Ein Dreigestirn der "frechen Affen", die dem angeschlagenen "US-Tiger aus Papier" die Stirn bieten möchten.
Aus New York zurückgekehrt und mit den Hilfszusagen Venezuelas, Argentiniens, Brasiliens und Chiles ausgestattet, erklärte Morales am 27. September in Cochabamba - dort gab es seit Anfang September die Gespräche mit der rechten Opposition -, dass der Verfassungsentwurf (beschlossen am 9. Dezember 2007 in Oruro unter dem Boykott der Opposition) "entweder im Guten oder im Schlechten" durchgesetzt werde. Bereits am 15. September hatte in Santiago auf einem Gipfel von zwölf südamerikanischen Ländern die Gastgeberin, Chiles Präsidentin Michelle Bachelet, erklärt, was in Bolivien passiere, erinnere sie an den Putsch gegen Salvador Allende am 11. September 1973, als die chilenische Reaktion im Schulterschluss mit der CIA ein Blutbad anrichtete. Das Gipfeltreffen in Santiago fand nur wenige Tage nach dem Rauswurf des US-Botschafters Philip Goldberg aus Bolivien statt. Ein Schritt, der die Regierung in Washington dazu animiert hatte, Bolivien im Gegenzug auf die schwarze Liste der Länder zu setzen, "die den Drogenhandel begünstigen". Goldberg, ein persönlicher Freund von Rubén Costas, des mächtigen Gouverneurs von Santa Cruz de la Sierra, revanchierte sich ausgerechnet am 11. September mit dem Satz, "der Kampf gegen den Totalitarismus, der die demokratische Marktwirtschaft abschaffen will", gehe dennoch weiter.
Trotz vieler Vorteile für Evo Morales, trotz der bislang bewiesenen Loyalität der Armee - die virulente "Binnenlogik" der bolivianischen Politik ist nicht zu unterschätzen. Vor dem Votum über die neue Verfassung müssen Fragen beantwortet werden, über die sich kaum verhandeln lässt, ohne einen gravierenden politischen Gesichtsverlust zu riskieren: Was geschieht mit der Autonomie der Regionen? Wie werden die Einnahmen aus dem Erdgas- und Ölgeschäft national und regional verteilt? Wie sinnvoll ist die Autonomie von 36 Ethnien, die - laut Opposition - Bolivien das totale Verwaltungschaos bescheren würde?
Der erstarkte Morales und die angeschlagenen Gouverneure sind mit einem ersten Verhandlungsversuch gescheitert. Der Druck von "unten", der auf beiden Lagern lastet, könnte einen denkbaren Kompromiss verhindert haben. Sowohl die sozialen Bewegungen, die Morales schon oft eine viel zu konziliante Haltung gegenüber der Oligarchie vorgeworfen und sich nun im Nationalen Koordinierungsnetz zur Wende (CONALCAM) vereint haben, als auch der den sezessionswilligen Gouverneuren nahestehende Nationale Demokratische Rat (CONALDE) hatten zu verstehen gegeben, sie würden sich keinen Millimeter bewegen.
Morales weiß, dass ohne die Bereitschaft, einige Passagen aus dem Verfassungsentwurf zu streichen oder zu verändern, Verhandlungen auch künftig scheitern werden. Gleiches gilt für die Gouverneure, die mehr Geld aus den Gas-Erlösen für die Provinzen und eigene administrative Instanzen verlangen, was auf eine Föderalisierung des Landes hinausliefe. Außerdem wollen sie einen Passus in der Verfassung verankert sehen, mit dem das Privateigentum an Produktionsmitteln uneingeschränkt garantiert wird.
Mit anderen Worten: Boliviens Neugründung ist noch längst nicht gesichert, vor allem wird sie nicht ohne schwere Schmerzen erfolgen. "Aus Cochabamba muss Frieden mit uns selbst kommen", schreibt der linksliberale Journalist Oscar Peña Franco am 27. September in der Zeitung El Deber, "und damit die Garantie einer nationalen Einheit über die ethnokulturellen Fragen und die Blutbäder der zurückliegenden Jahre hinaus." Wer die abgründige Logik Boliviens kennt, wird sich diesem gewiss abstrakt anmutenden Urteil nur anschließen können. Auch wenn es legitim ist, dass die Geduld der Mehrheit brennender Ungeduld gewichen ist.
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