Der Brand im Moskauer Fernsehturm, der am 27. August losschlug, schien die Befürchtung zu bestätigen, dass der August endgültig zu Russlands Katastrophenmonat avanciert ist. Die Medien begannen schon, vom »Augustfluch« zu reden - angefangen vom Anti-Gorbatschow-Putsch 1991 über den Rubel-Crash 1998 und die Attentate auf hauptstädtische Wohnviertel 1999 bis zur Explosion in der Unterführung am Moskauer Puschkin-Platz und dem Untergang der »Kursk« im laufenden Jahr fallen die schwersten Rückschläge ausgerechnet in diesen Monat. Die Beschwörung einer Art Vorsehung findet um so mehr Anhänger in der Bevölkerung, als sie durch Entwicklungen seit 1985 im höchsten Maße verunsichert ist. Alles, was anfänglich
8;nglich Hoffnung und Zuversicht auslöste, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Die »Perestroika« bereitete den Zerfall der Sowjetunion vor. Russische Demokraten entpuppten sich als Paladine der Oligarchen und Wegbereiter für die Verelendung des Volkes. Boris Jelzins Wahlversprechen von 1996 erwiesen sich als bewusster Betrug. Die Russen sind nahe daran, jeglichen Halt im Leben zu verlieren.Vor diesem Hintergrund lässt sich zum großen Teil der kometenhafte Aufstieg des Wladimir Putin erklären. Man brauchte unbedingt ein neues Gesicht, dem man vertrauen durfte, auf dessen Wort man sich verlassen konnte. Man suchte jemanden, der saubere Hände hatte und in erster Linie nicht an sich, sondern an das Land dachte. Man wollte keinen Guru, keinen Volkstribun, keinen Weltverbesserer - davon hatte Russland mehr als genug. Putin schien diese Erwartungen ausnahmslos zu erfüllen. Dazu war er jung und gesund, seine Kandidatur für die Präsidentschaft löste außerdem keine tiefen Spaltungen und Verwerfungen im Lande aus. Eine unverbrauchte Erscheinung, die für sich zu werben verstand. Das Volk empfand ihn als Retter aus der Not - als Geschenk des Schicksals, das Russland seit geraumer Zeit unablässig neue Prüfungen auferlegt.All dies verlieh dem neuen Präsidenten das Image eines Wundertäters, der sich mit einem fast schon fanatischen Glauben an seine Prädestination konfrontiert sah, Russland - schrittweise zwar, aber doch unaufhaltsam - aus der Misere zu führen. Solange er in dieser Hinsicht erfolgreich schien, wurde Wladimir Putin zu einer Art Leitstern der Nation verklärt. - Häufen sich allerdings Niederlagen und Katastrophen, wird eine solche Galionsfigur über Nacht zur Inkarnation von Verfall und Versagen und läuft Gefahr, den bedingungslosen Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren. Dann wird auch dieser Präsident zum Spielzeug der traditionellen Oberschichten. Die einzige Chance Russlands, seine Krise zu überleben, besteht jedoch gerade darin, dass Derartiges verhindert wird.Die Kette der tragischen Ereignisse im August 2000 hat in der Tat die Überzeugung von der Aktionsfähigkeit Putins erschüttert. Der verheerende Eindruck von Hilflosigkeit, den der Kreml angesichts der Terroranschläge und in den ersten Tagen nach dem Verlust der »Kursk« vermittelte, wurde durch eine geschickte und wirksame Anti-Putin-Kampagne in den Medien der Oligarchen sowie in der Regionalpresse - beeinflusst durch unzufriedene Gouverneure - noch gesteigert. Alle Anzeichen deuteten daraufhin, dass Putins Gegner mit brennender Ungeduld auf eine solche Gelegenheit gewartet hatten, um den Präsidenten dafür büßen zu lassen, dass er sich - bis auf die Armee - mit allen »Eliten« überworfen hatte. Verstärkt wurde die Schlagkraft dieses Angriffs durch ein teilweise dilettantisches Agieren des präsidialen Beraterkreises sowie die massive Assistenz aus dem Westen. Vor allem die Kommentare der deutschen Medien zum Unglück in der Barentssee grenzten an psychologische Kriegführung gegen ein Land, das offiziell immerhin als befreundete Nation Deutschlands gilt. Dabei wurde geradezu mit Nachdruck suggeriert, Wladimir Putin sei der eigentliche Urheber und Schuldige am Untergang der »Kursk« - Russland selbst ein Land der Lügen, das keinen Anspruch darauf habe, in die Familie der zivilisierten europäischen Staaten aufgenommen zu werden. Wie im Affekt wurden die Gesinnungen des Kalten Krieges präsentiert.Doch der Westen begeht einen folgenschweren Fehler, wenn er die Stimme der russischen Oligarchen, die heute weite Teile der TV- und Presselandschaft beherrschen, für die Stimme des russischen Volkes hält. Die neuesten Umfragen zeigen, dass Putin - allen Angriffen zum Trotz - nach wie vor das Vertrauen von über 65 Prozent der Russen genießt. Ohne Zweifel hat sich der Präsident einen schweren psychologischen Fehler zuschulden kommen lassen, als er sich auf die Versicherung der Admiralität verließ, für die Rettung der »Kursk« geschehe alles Nötige, und seinen Vier-Tage-Urlaub nicht sofort unterbrach. Aber der entscheidende Grund für die Katastrophe in der Barentssee und deren Folgen ist die groteske Unterfinanzierung der russischen Streitkräfte im zurückliegenden Jahrzehnt. Und wie der Brand im Moskauer Fernsehturm zeigt, muss das Erbe Boris Jelzins nicht nur im militärischen Bereich abgeschüttelt werden.Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen, Wladimir Putin trägt direkte Verantwortung für seine Präsidentschaft, deren erste 100 Tage soeben zu Ende gegangen sind, sowie für die Zukunft Russlands. Das Sinken der »Kursk« geht nicht auf sein Konto. Ihn deswegen zu diskreditieren, ist abwegig und kontraproduktiv. Wer heute versichert, mit Russland zusammenarbeiten zu wollen, muss sich mit diesem Staatschef arrangieren. Was dabei besonders gebraucht wird, das ist die Rückkehr zu gegenseitigem Vertrauen zwischen Russland und dem Westen. Eine anti-russische und Anti-Putin-Hetze hilft wenig. Man kann die Enttäuschung derjenigen begreifen, die auf eine Degradierung, ja möglicherweise Auflösung Russlands gesetzt haben. Die Russen werden alles tun, diese Enttäuschung noch zu verstärken, denn Russland ist und bleibt ein maßgebender Faktor im internationalen Leben, ohne den Sicherheit in Europa und der Welt nicht zu erreichen ist. Allein schon deshalb verdient es Respekt.