Tony Blairs »New Deal«

GROSSBRITANNIEN Beschäftigungslosigkeit auf tiefstem Stand seit 1980 - ein Modell für Deutschland?

Das Blair-Schröder-Papier zielt beim angestrebten Umbau des Wohlfahrtsstaates neben der Reduzierung von Sozialabgaben und Steuern auch auf die sogenannte Stärkung von Arbeitsanreizen, um die Beschäftigungslosigkeit abzubauen. Während eine solche Praxis in Deutschland - vor allem als Ziel eines sozialdemokratischen Kanzlers - noch befremdet, entspricht sie durchaus der seit zwei Jahren von der Labour-Regierung betriebenen Arbeitsmarktpolitik. Ein Blick auf die Insel gewährt daher unter Umständen auch Aufklärung über die deutsche Zukunft.

Die Lage auf dem britischen Arbeitsmarkt zeugt zunächst vom Erfolg der von New Labour verfolgten Strategie. Für Juni konnte der britische Arbeitsminister Andrew Smith einen Tiefststand der Arbeitslosigkeit seit 1980 vermelden. Während die Arbeitslosenrate auf 6,2 Prozent (1,3 Millionen) fiel, wurde mit 27,3 Millionen ein Beschäftigungshöchststand erreicht. Premier Blair hatte 1998 das Beschäftigungsprogramm New Deal oder Welfare to Work ins Leben gerufen, mit dem arbeitslose Jugendliche (unter 25 Jahre) und Langzeitarbeitslose (länger als zwei Jahre ohne Job) gefördert werden. Das Programm sieht zunächst eine Einführungsphase vor, die neben intensiver Beratung eine direkte Vermittlung in den Arbeitsmarkt anstrebt. Jugendliche, die während dieser Phase erfolglos sind, können anschließend zwischen drei Optionen wählen: einer einjährigen Vollzeitausbildung, einer Arbeitsbeschaffung im gemeinnützigen Sektor oder einer subventionierten Beschäftigung in einem Unternehmen. Langzeitarbeitslose werden im Anschluß an die Einführungsphase gegebenenfalls im Rahmen eines subventionierten Arbeitsverhältnisses in einem Betrieb beschäftigt. Finanziert wird das Ganze durch eine Sondersteuer auf Privatisierungsprofite, die umgerechnet rund zehn Milliarden Mark einbringt.

Insgesamt hatten bis Anfang dieses Jahres 233.000 Jugendliche am New Deal teilgenommen. Über 40 Prozent (43.760) derjenigen, bei denen die entsprechenden Maßnahmen im Januar ausliefen, konnten eine nicht subventionierte Beschäftigung annehmen. Bei den bisher geförderten 100.000 Langzeitarbeitslosen lag die Vermittlung in nicht-subventionierte Jobs bei 25 Prozent. Gleichwohl konnte trotz der Verschärfung finanzieller Sanktionen eine hohe Abbruchquote, vor allem bei Jugendlichen, nicht vermieden werden.

Die Größenordnung dieser Zahlen läßt bereits erkennen, daß der Aufwärtstrend am britischen Arbeitsmarkt nicht allein mit Erfolgen des New Deal erklärt werden kann. Hier zeitigen vielmehr Maßnahmen Wirkung, die bereits unter den konservativen Vorgängern von New Labour die Wende am Arbeitsmarkt einleiteten. Dazu gehört die von Margret Thatcher forcierte Schwächung der Gewerkschaften. Seither liegt in Großbritannien die ehemals hohe Streikrate unter dem EU-Durchschnitt. In Verbindung mit der traditionell eher betrieblichen Tarifverhandlungsstruktur und dem industriellen Strukturwandel hat die Domestizierung der Gewerkschaften dazu geführt, daß die Löhne für über 50 Prozent der Arbeitnehmer nicht mehr in Kollektivverhandlungen vereinbart werden. In der Konsequenz läßt sich am unteren Ende der Einkommensskala ein enormer Lohnverfall verzeichnen, so daß Großbritannien innerhalb der EU seit 1980 die stärkste Zunahme an Einkommensungleichheit verzeichnet.

Bereits 1996 bezogen etwa 725.000 Familien In-Work-Benefits, Einkommenssubventionen für Geringverdiener. Dies zeigt, wie groß der Anteil der sogenannten Working Poor, also der trotz Arbeit Armen in Großbritannien war und ist. Die Polarisierung der Einkommen korrespondiert mit einer Polarisierung von Beschäftigungschancen: Hinter der Arbeitsmarktentwicklung verbirgt sich der Trend, daß in Großbritannien etwa 20 Prozent aller Haushalte mit Kindern als »arm an Beschäftigung« gelten, da keiner der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter einen Job hat.

Die fast zwanzigjährige konservative Regierungsperiode hat das politische Klima derart verändert, daß ein Abweichen von einer angebotsorientierten Politik wie von einer weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (samt einem großen Niedriglohnsektor) politisch nicht durchsetzbar scheint. Blair optierte daher nach seinem Wahlsieg 1997 von Anfang an auf den weiteren Umbau des Versorgungsstaates zum »aktiven Sozialstaat«, wie Schatzkanzler Gordon Brown es nannte. Neben New Deal wurde vorzugsweise auf das Steigern der »Arbeitsanreize» gesetzt.

Die Einführung eines Mindestlohns (umgerechnet zehn Mark pro Stunde) im April soll nun dem weiteren Verfall der Löhne am unteren Ende der Einkommensskala Einhalt gebieten. Gleichzeitig wurde die Lower Earning Limit - die Grenze für Geringverdienende - auf etwa 800 Mark monatlich angehoben, was zu einer weiteren Zunahme der mittlerweile zwei Millionen Teilzeitjobs führen dürfte, die überwiegend von Frauen besetzt sind und keine Anrechte auf soziale Leistungen wie Arbeitslosenunterstützung oder Altersrente eröffnen. Gerade diese prekären Teilzeitverhältnisse tragen nicht unerheblich das britische Beschäftigungswunder. Geplant ist ferner, Arbeitsanreize für Geringverdiener mit Kindern durch eine Reform der In-work-Benefits zu stärken. Dabei wird die Bedürftigkeitsgrenze angehoben und die Anrechnung von Arbeitseinkommen auf Transferleistungen von gegenwärtig 70 auf dann von nur noch 55 Prozent gesenkt.

Die britische Arbeitsmarktpolitik hat also offenbar ein Beschäftigungswachstum durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Förderung von Niedriglohnbeschäftigung erreicht. Die Schattenseiten dieser Entwicklung ergeben sich aus einer vergleichsweise geringen Qualifikation britischer Arbeitnehmer, die durch die laufenden Programme bislang nur geringfügig verbessert wurde. Daher blieben Produktivität und Konkurrenzfähigkeit weit hinter anderen EU-Ländern zurück. Außerdem wurde die Armut trotz des Beschäftigungszuwachses keinesfalls beseitigt, weshalb auch die Sozialausgaben in Großbritannien weiterhin hoch sind. Ein solches Modell nachzuahmen, macht keinen Sinn.

Dr. Irene Dingeldey ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen

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