Wir fuhren von Schanghai mit dem Zug nach Nanjing. Es war noch früh am Morgen, doch vor dem Bahnhof wogte schon eine unüberschaubare Menschenmenge. Das waren Reisende, zumeist aber die Leute, die in China Wanderarbeiter heißen. In Deutschland würde man sie Tagelöhner nennen. Dann saßen wir auf weichen Sofas im Wartesaal für den Schnellzug. Als wir zu den Gleisen gingen, brach aus einer Tür eine Menge heraus, die auf dem Weg zu einem anderen Bahnsteig war. Als wir an der offenen Tür vorbeikamen, sahen wir, dass im Wartesaal für den einfachen Zug einfache Bänke standen.
Im Bahnhof von Nanjing, der fast genauso aussieht wie der von Schanghai, aber noch nicht ganz fertig gebaut ist, waren wieder so viele Leute. Wir schoben uns mit der Menge
der Menge langsam hinaus; draußen wartete die Studentin, die uns abholte und sich als "Edith" vorstellte. Viele Chinesen geben sich einen europäischen Namen, wenn sie mit Westlern zu tun haben, vermutlich, weil diese ihre chinesischen Namen sowieso immer falsch aussprechen. Edith begleitete uns fünf Ausländer zur Universität von Nanjing.Auf der Taxifahrt sahen wir, dass Nanjing gerade genauso gründlich neugebaut wird wie Schanghai. Dort ist die einstige Stadt schon fast verschwunden, und auch hier sahen wir in erster Linie Hochhäuser zwischen den Baustellen.Wenn man den Campus betritt, steht man zuerst vor einem etwa dreißig Jahre alten großen Gebäude. Dies sei ein Studentenwohnheim, erklärte uns Edith, es lebten dort jeweils acht Studenten in einem Zimmer zusammen. In dem Gästehaus gleich daneben jedoch bekam jeder von uns ein riesengroßes Zimmer mit zwei einzeln stehenden Betten und einem großem Bad. Das nächste Gebäude, das wieder nur ein paar Schritte entfernt lag, war noch größer als das Studentenwohnheim. Darin befand sich die Mensa. Die unteren beiden Etagen bestanden ganz und gar aus großen Speisesälen; im dritten Stock gab es einen kleineren Saal für die islamischen Studenten, dazu ein großes Restaurant und außerdem etwa zwanzig Separées, von denen eins uns zugewiesen wurde. Wir saßen um einen großen runden Tisch, und der Mann, der beim Goethe-Institut arbeitete, aber dennoch die Landessprache perfekt beherrschte, orderte bei einer der drei Kellnerinnen die große Menge von Speisen, die für ein chinesisches Essen benötigt werden, egal, wie viele Personen daran teilnehmen.Nach dem Essen fuhren wir vor die Tore der Stadt zur Grabanlage des ersten Ming-Kaisers. Der Goethe-Praktikant, der seit Monaten nicht aus Schanghai herausgekommen war, bejubelte den Anblick von Bäumen auf eine Weise, wie sonst vielleicht ein Verdurstender das Wasser preist. Anschließend besichtigten wir in der Stadt die Rudimente eines Palastes sowie einen imposanten buddhistischen Tempel, in dessen Teestube wir uns labten, bis sie um fünf geschlossen wurde und wir noch eine gute Weile auf den Resten der Stadtmauer herumspazierten, bis es dunkel wurde. Der Taxifahrer auf dem Weg zurück raste durch sehr belebte, aber unbeleuchtete enge Straßen, ohne je auf die Bremse zu treten.Zum Abendessen hatte uns die Professorin in das Restaurant im obersten Stock der Mensa eingeladen. In China isst man früh, und so konnten wir uns schon gegen neun Uhr aufmachen, die Stadt noch ein wenig zu erkunden, Luft zu schnappen und zwischen Liebespaaren im Park der pädagogischen Hochschule herumzusitzen. Auf dem Weg kaufte ich zehn verschiedene Schachteln Zigaretten in einem winzigen Straßenverkauf und der Grafiker Bier- und Limonadedosen in dem kleinen Laden, von dem aus er seine Freundin in Deutschland anrief.Gegen Mitternacht wieder auf der Straße, sahen wir die vielen kleinen Fressstände, die vor der nächtlich geschlossenen Chinesischen Industrie- und Handelsbank aufgeschlagen waren. An manchen Ständen wurden glibbrig kandierte Früchte verkauft, an anderen an sehr dünnen Spießen gegrilltes Fleisch. Am besten aber waren die kleinen Teigtaschen, die im Sud gekocht wurden. Ein Ehepaar stellte sie gemeinsam her. Der Mann klopfte dünne Flädchen aus dem Teig aus Wasser und Mehl, seine Frau belegte sie mit etwas Grünem und drückte sie zu Chow Mei zusammen, die dann vielleicht drei Minuten in einem großen Topf kochten. Für zwei oder drei, vielleicht auch fünf Renminbi, also zwanzig oder dreißig oder auch fünfzig Cent, bekamen wir Schüsselchen mit Sud und je fünf Chow Mei, die wir, als etwas Platz freigeworden war, an einem der provisorischen Tische aßen. Voller Wonne. Mitten in der Nacht, als die Banken schon längst geschlossen hatten, auf einer Straße voller Menschen, die alle etwas zu essen in den Händen hielten.