Es sind diese unscharfen Bilder einer Überwachungskamera, die bundesweit in Dauerschleife in fast allen Nachrichten liefen: Ein großer schlaksiger Typ schlägt einen anderen nieder und tritt mit voller Wucht vier Mal auf den Kopf des leblos daliegenden Opfers ein. Dann tänzelt er weg. Im nächsten Moment macht er wieder einen Schritt auf das Opfer zu. Ein Dritter greift ein und hält den Täter davon ab, weiter zuzutreten. Die Bilder scheinen bereits alles über die Tat auszusagen. Und das Urteil war nach dem U-Bahn-Überfall vor knapp fünf Monaten ebenfalls schnell gesprochen – zumindest in der Boulevardpresse: Wegsperren, und zwar für immer.
Genau das wollen auch einige Zuschauer, die am Montag zum Prozess gegen Torben P. gekommen sind. Gegen 13 Uhr stehen sie vor dem Berliner Landgericht Schlange. Jurastudenten sind darunter, aber auch ein paar interessierte ältere Bürger. Man wolle sehen, ob dem Opfer Recht gesprochen werde, sagt ein Mittfünfziger im gestreiften Polohemd. Er glaube nicht, dass die Richter in Deutschland so was könnten. Alles zu lasch.
Der Mann spricht aus, was in den vergangenen Monaten hundertfach in Internetforen und sozialen Netzwerken geschrieben wurde. Empörung gab es schon, als für Torben P. keine Untersuchungshaft angeordnet wurde. Dass es nach geltendem Recht keine Gründe gab – etwa Flucht- oder Verdunkelungsgefahr – und sich Torben P. selbst gestellt und die Tat gestanden hatte, spielte kaum eine Rolle.
Kein hoffnungsloser Fall
Eine neue Welle rollte, als es Anfang September in den Medien hieß, dass Torben P. vielleicht mit einer Bewährungsstrafe rechnen könne. „Bewährungsstrafe für einen Mordversuch? Geht’s euch noch gut?“, schallte es vom elektronischen Stammtisch. Dorothee Muchtenbrimm schrieb auf Facebook über einen Tagesspiegel-Artikel: „Nein! Bei aller angeblichen Reue hat er einen Menschen wissentlich, absichtlich und lebensbedrohlich verletzt und das aus reiner Willkür. Wenn bei so einer Tat eine Bewährungsstrafe auch nur in Erwägung gezogen wird, krankt das deutsche Rechtssystem noch mehr als bisher angenommen.“
Man muss nicht alle Kommentare lesen, um zu sehen, wie sehr im Fall Torben P. ein Klischee dem anderen folgt. Doch war der Täter eben nicht wegen Mordes angeklagt. Und er hat sein Opfer – trotz der in den Überwachungsbildern dokumentierten Brutalität – zum Glück nicht lebensbedrohlich verletzt. Möglicherweise hätte auch alles noch schlimmer ausgehen können. Tatsächlich aber konnte der zusammengeschlagene Markus P. nach seinem Schädel-Hirn-Trauma das Krankenhaus wenige Tage später wieder verlassen. So schlimm der Gewaltausbruch für das Opfer war – für die rechtliche Bewertung kommt es doch auf die Einzelheiten an. Und die Bilder sagen, trotz ihrer unheimlichen Macht, eben nicht alles. Der Fall Torben P. taugt nicht dazu, ein vermeintlich zu schwaches Rechtssystem anzuprangern – auch wenn der Laie vielleicht nicht weiß, dass für Mord, im Unterschied zu Totschlag, Heimtücke, Habgier oder ein anderer niedriger Beweggrund vorliegen muss. Dies sah das Gericht aber nicht, zumal der Täter anscheinend volltrunken war. Auch weiß der Laie vermutlich nicht, dass im Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke und eben nicht das Strafen oder die Abschreckung im Vordergrund stehen. Deshalb beträgt die maximale Jugendstrafe auch nur zehn Jahre.
Als sich um 13 Uhr die Türen des Saal 700 im Kriminalgericht Moabit öffnen, sitzt Torben P. wieder links auf der Anklagebank. Er trägt wieder ein hellblaues Hemd. Er guckt zu den Zuschauern, ganz kurz, ganz unsicher. Es ist das einzige Mal in den nächsten 90 Minuten, dass der fast zwei Meter große Schüler einen Blick zur Seite wirft.
Die restliche Zeit sitzt er fast regungslos da, mit hängenden Schultern, und hört an, was der Vorsitzende Richter zu seinem Fall zu sagen hat. Das Gericht hält dem jungen Mann zugute, dass er sich gestellt hat. Auch folgt es seiner Entschuldigung, dass er über sich selbst „entsetzt“ sei. Gleichzeitig stellt der Richter klar, dass dies seine Schuld nicht entfallen lasse. Er wende Jugendstrafrecht an, obwohl theoretisch auch das Erwachsenenstrafrecht möglich sei. Torben sei zum Zeitpunkt der Tat noch nicht lange 18 gewesen, wohnte noch zu Hause bei seinen Eltern, beide sind Rentner. Er sei ein junger Mann, der noch „Entwicklungsmöglichkeiten“ habe, und kein hoffnungsloser Fall, findet der Richter. Eine Bewährungsstrafe ist ihm aber nicht genug. Zwei Jahre und zehn Monate soll Torben P. in Haft.
Überrascht vom Urteil
Ist das nun die viel beschworene Kuscheljustiz? Die deutsche Justiz möchte so lange wie möglich versuchen, aus einem fehlgeleiteten Jugendlichen noch ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft zu machen. Den Sinn von Haftstrafen sehen Experten dabei durchaus kritisch. Nach Darstellung des Kriminologen Christian Pfeiffer werden 70 Prozent der Betroffenen nach Jugendhaft wieder straffällig. Nicht selten kommt es vor, dass sie erst in der Haft eine richtige kriminelle Karriere starten.
Im Saal 700 sitzt das Opfer seinem Peiniger als Nebenkläger genau gegenüber. Für Markus P., der nur mit großem Glück nach dem Überfall am Karfreitag keine körperlichen Schäden davongetragen hat, ist das Urteil gegen Torben P. nicht hart genug. Denn der Verurteilte kann erwarten, dass er nach Absitzen von zwei Dritteln seiner Haftstrafe wieder frei ist. Auch gilt für ihn der sogenannte offene Vollzug. Tagsüber darf er raus und weiter zur Schule gehen. So soll verhindert werden, dass die Tat seine Zukunft völlig verbaut, wie das Gericht erklärt. Ein knallhartes Signal an die Gesellschaft und an künftige Straftäter sähe sicher anders aus. Doch können solche Urteile letztlich gerade für die Opfer positiv sein: Schmerzensgeld kann ein weggesperrter, arbeitsloser Täter kaum zahlen, wohl aber einer, der doch noch seinen Schulabschluss und eine Ausbildung erreicht.
Einige der Besucher hat das Gericht offenbar überzeugt. Ein Mann im Anzug um die 60 faltet ein Transparent auf. „Mein 18-jähriger Sohn wurde am Ku’damm zusammengeschlagen.“ Deswegen sei er heute hier. Er sei „überrascht“, dass das Gericht so fair und angemessen geurteilt habe. Hunderte Facebook-Kommentatoren sehen das anders. Noch am Montagabend sind die Foren wieder voll mit den Urteilen der virtuellen Stammtisch-Gerichte.
Iris Marx ist Juristin und freie Journalistin in Berlin
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