Die Löcher unter der Erde

Festival Insgesamt 24 Filme hatte Festivaldirektor Marco Müller auf die 67. Filmfestspiele von Venedig eingeladen. Ästhetisch überzeugend waren vor allem die Dokumentarstücke

Das Filmfestival von Venedig fand auch in seinem 67. Jahr am Lido statt – noch immer am Rande einer riesigen Baugrube. Die Arbeiten ruhten zwangsläufig, die Stargäste führte man trotzdem lieber durch die Hintertür zu den Pressekonferenzen. Vom Schreibraum im dritten Stock des alten, übers Jahr still gelegten Casinos sah man geradewegs hinaus aufs Meer, über die Grube und manches andere hinweg. Nach morgendlichen Gewittern löste sich der Putz von der Decke, gefährlich nah an den riesigen Lüstern. Solche und andere äußerliche Vergänglichkeitserscheinungen produzierten eine schön desolate Kulisse und mahnten zur Konzentration aufs Wesentliche.

24 Filme hatte Festivaldirektor Marco Müller in diesem Jahr in den Wettbewerb eingeladen und dabei eine vielfältige Auswahl auf akzeptablem Niveau getroffen: computerunterstützte Schwertkampfmärchen aus China, minimalistisch spröde Alltagsbeobachtungen aus Griechenland, unterschiedlich gelungene filmische Auseinandersetzungen mit Zeitgeschichte, ein furioses japanisches Kriegerdrama, eine französische Boulevardkomödie oder eine deutsche Beziehungsdreiecksutopie. Das US-Kino war in diesem Jahr stark vertreten, nicht als Hochglanz- und Star-Lieferant wie andernorts oft üblich, sondern mit profilierten Autoren- und Autorinnenpositionen bis hin zum Comeback des New-Hollywood-Veteranen Monte Hellman. Eine Präsenz, die am Ende in der Preisvergabe sichtbar wurde: Die Internationale Jury, als deren Präsident Quentin Tarantino fungierte, würdigte Hellman, kürte den US-Exzentriker Vincent Gallo zum besten Darsteller und erkannte den Goldenen Löwen überraschend Sofia Coppolas Somewhere zu.

Der vierte Kinofilm der 39-Jährigen variiert ihr Debüt Lost in Translation ins Heimspiel: Ein Filmschauspieler mit dem schönen Allerweltsnamen Johnny Marco ­(Stephen Dorff) hat in einer Suite des legendären Hotels Chateau Marmont in Los Angeles Quartier bezogen. Er schlägt die Zeit tot, bricht sich einen Arm, hat mehr oder weniger befriedigende sexuelle Erlebnisse mit fremden Frauen, hängt mit alten Kumpels ab, fährt in seinem schwarzen Ferrari durch die Gegend. Das Auftauchen seiner elfjährigen Tochter Cleo (Elle Fanning) zwingt ihn zu einer gewissen Fokussierung, aber Cleos Platz im Feriencamp ist bereits gebucht, Johnny muss irgendwie alleine mit seiner unbestimmt unglücklichen Befindlichkeit fertig werden.

Kolonialismuskostümfilm

Der Film hat wie die anderen Arbeiten Coppolas eine eigenwillige atmosphärische Qualität, was wiederum ihrem feinen Sinn für Orte, Räume und Situationen geschuldet ist. Sobald in einer Szene allerdings das Driften, die stummen Glücksmomente und die Melancholie bei Johnnys Tagediebereien einer dramatischen, geschriebenen Handlung Platz geben müssen, schleichen sich falsche Töne und Banalitäten ein.

Die Juryentscheidungen kann man als Absage an ein sich vorwiegend über gewichtige Stoffe definierendes Kino verstehen, welches zwar Engagement vermittelt, aber nicht unbedingt im Hinblick auf ästhetische Entscheidungen. Was letztere betrifft, so waren unter den Dokumentarfilmen der Sektion Orizzonti die wesentlich spannenderen Arbeiten zu finden – so etwa Guest von José Luis Guerin, ein filmisches Reisetagebuch, das den katalanischen Regisseur als Gast internationaler Filmfestivals stets an deren Peripherie, aber mitunter ins Herz der Städte führt: Auf öffentlichen Plätzen in Mittel- und Südamerika hört er den Mühseligen und Beladenen beim Politisieren, beim Singen und Predigen zu. Oder das Filmessay Robinson in Ruins von Patrick Keiller: Der britische Filmemacher lässt sein Alter Ego ausgehend von genauen Betrachtungen blühender Landschaften in Großbritannien komplexe Verbindungen zwischen unscheinbaren Straßenpfosten und kanadischen Pensionen, zwischen historischen Bürgererhebungen in Oxfordshire und der Globalisierung samt Krise ziehen.

Der französische Filmemacher Abdellatif Kechiche hingegen, der nach Couscous mit Fisch 2007 mit Vénus noire seinen ersten Kostümfilm im Wettbewerb präsentierte, setzt auf Schauspielnaturalismus. Er erzählt die Geschichte jener Südafrikanerin, welche in den 1810er Jahren als „Hottentot Venus“ auf britischen Jahrmärkten auftrat und das Interesse französischer Naturwissenschafter weckte, denen sie nach einem elenden, frühen Tod als Forschungsobjekt diente.

Es geht um einen realen Fall von ökonomischer, sexueller und rassistischer Ausbeutung – die sterblichen Überreste der Sarah Baartman wurden erst vor wenigen Jahren aus Frankreich in ihre Heimat überstellt. So wie in früheren Filmen praktiziert, verdichtet Kechiche diese Geschichte in intensiven Episoden. Yahima Torres spielt die sich mit Alkohol betäubende, den Versprechungen immer wieder erliegende und zugleich widerstrebende Hauptfigur und verleiht ihr eine eigentümliche somnambule Präsenz; Olivier Gourmet umgarnt, umschmeichelt und erniedrigt „Saartjie“ als perfider, manipulativer Impresario. Durch die Historie schimmern Bezüge auf jüngere Vergangenheit und Gegenwart.

Islamist in Polen

Der Chinese Wang Bing, bisher als Dokumentarist bekannt, war mit Le fossé/The Ditch, seinem Spielfilmdebüt, auf dem Überraschungsticket im Wettbewerb platziert: Dass sein Film karger ausfällt als Vénus noire liegt im Stoff begründet. The Ditch ist in den 1960er Jahren in einem chinesischen Umerziehungslager in der Wüste Gobi angesiedelt. Die Häftlinge sind in Erdhöhlen untergebracht, weil im ganzen Land Nahrungsmittel knapp sind, werden sie erst recht nicht ausreichend versorgt. Die Männer sterben wie die Fliegen, vorher beschreibt der Film in materialistischer Genauigkeit ihre Versuche, irgendetwas essbar zu machen. Wang folgt ihnen mit wendiger Kamera, hält die Einstellungen über der Erde weit – umso beklemmender wirken die Gänge ins Halbdunkel unter Tag, wo die geblümten Steppdecken die noch Lebenden mangelhaft wärmen und den Toten zum Leichensack werden.

Vor diesen beiden monumentalen Arbeiten verblasste die physische Anstrengung des ausgezeichneten Vincent Gallo ein bisschen: Der polnische Veteran Jerzy Skolimowski, Mitinitiator und Wegbegleiter mehrerer neuer Wellen des europäischen Kinos, jagt ihn durch eine Passionsgeschichte. In Essential Killing setzt er einen von der CIA heimlich außer Landes verbrachten, mutmaßlichen islamistischen Kämpfer (Gallo) im tiefsten polnischen Winter im Wald aus. Anfangs ein souverän voran getriebener Actionfilm, wechselt Essential Killing allmählich das Register und entwickelt sich zu einer mystisch gefärbten Parabel.

Für das kommende Jahr ist einiges offen: Direktor Müller, noch bis 2011 unter Vertrag, hat laut über eine vorzeitige Beendigung seiner Tätigkeit nachgedacht. Das neue Festivalgelände wird er wohl auch 2011 nicht bespielen können. Gleichzeitig verschwindet weitere Infrastruktur am Lido – eines der beiden traditionsreichen Luxushotels wird bereits in Apartments umgebaut: Eine „legendäre Zukunft“ versprechen die Werbeprospekte.

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