Bildung hat wieder Konjunktur, und das nicht erst, seitdem die jüngste OECD-Studie im Frühjahr der Bundesrepublik zu geringe Studentenzahlen und nur mäßige Bildungsausgaben attestierte. Die Angst um die künftige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus diesen Gründen grassiert schon länger. Aber sie wirft auch einen harten Schatten auf den Begriff Bildung, der zunehmend als ökonomische Größe gehandelt wird. Gerade auf dem Feld Weiterbildung zeigt sich das. Während in anderen europäischen Ländern sich die Diskussion um das lebenslange Lernen auf alle Bildungsbereiche erstreckt, ist sie in Deutschland fast ausschließlich auf das Feld der betrieblichen Weiterbildung begrenzt. Ein Grund für die allgemeine Beschränktheit, meint unser Autor J. Henning Schluss, ist, dass Deutsche über Bildung fatalerweise nach wie vor zu sehr in Erziehungskategorien nachdenken.
Lebenslanges Lernen scheint das neue Zauberwort der Pädagogik zu sein. Kein Zeitungsartikel, kein Vortrag, oder kein politisches Programm an dem dies Schlagwort nicht ganz vorn als allerneuestes Konzept für die »Wissensgesellschaft« auftaucht. Das macht vor allem eines, nämlich misstrauisch. Was soll das aufgeregte Wortgeklingel? Verbirgt sich dahinter wirklich etwas oder ist es lediglich die euphemistische Umschreibung der Allerweltsweisheit: »Man wird alt wie ne Kuh und lernt immer noch was dazu«?
In den meisten Fällen haben wir es wohl mit Letzterem zu tun. Und dennoch ist etwas dran an dem Slogan vom »Lebenslangen Lernen«. In unnachahmlicher Prägnanz hat der Karikaturist Tom es einmal zum Ausdruck gebracht, wie nebenstehend zu sehen. Am Ende verspricht der Bruder, Rache sei sauer, denn in zehn Jahren müsse sich der Papa von den Kindern die Welt erklären lassen.
Zehn Jahre, meint Tom. Das ist eine Erfahrung, die wir alle ganz schnell nachprüfen können. Denken wir an unsere Großeltern und deren Beziehung zum Videorecorder, zur Kaffeemaschine, zur elektrischen Brotschneidemaschine - vom Computer gar nicht zu reden. Oder in die andere Richtung. Begreifen wir noch die Computerspiele unserer Kinder? Wie viel Prozent der Funktionen unseres Textverarbeitungssystems nutzen, ja kennen wir? Haben wir nicht auch schon manches Mal ratlos vor den Fahrkartenautomaten an der Bushaltestelle gestanden?
Zwar gibt es Technikphilosophen, die fordern, Technik solle unsichtbar werden. Aber im Alltag erleben wir immer wieder, wie sich Computer nicht uns sondern umgekehrt wir uns den neuesten Versionen des Betriebssystems anpassen. Und es scheint schon fast vor unvordenklicher Zeit gewesen zu sein, dass die Alten ihr Wissen an die Jugend weitergeben konnten, ja manche alten Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung als weise galten - heute sind alte Menschen bestenfalls wunderlich. Ihre Erfahrungen nutzen nicht mehr viel in einer Welt, in der sich alles dauernd ändert. Diese rasante Entwicklung ist zwar nicht erst ein paar Jahre alt, sondern schon mindestens zwei Jahrhunderte, aber es gab immerhin Lebensbereiche, in denen die Entwicklung ein mäßigeres Tempo hatte: Familie, Religion, oder Moralauffassungen zum Beispiel. Heute sind auch diese Bereiche tendenziell nicht mehr gegen schnelle Änderungen immun.
Jahrhunderte lang Bezugsgröße: das Kind
In dieser Hinsicht sind die Zahlen, mit denen die Bits Bytes im Internet sich exponentiell vermehren, oft genug traktiert worden. Zuweilen werden sie so interpretiert, als handle es sich um die exponentielle Zunahme von Wissen. Das ist freilich absurd! Wer weiß denn schon all diese Informationen, die im Internet stehen? Und inwiefern handelt es sich überhaupt um etwas, das wir berechtigter Weise »Wissen« nennen könnten? Doch zeichnet es ganz deutlich ein Selbstgefühl der Gegenwart. Dies wird in dem Begriff der »Wissensgesellschaft« auf den Punkt gebracht. Lebenslanges Lernen ist darum die Antwort nicht so sehr auf das exponentielle Wachstum von mehr oder weniger sinnvollen Informationen, auf die man potenziell zugreifen könnte, wenn die Suchmaschinen nicht immer nur Sex-Seiten fänden, sondern auf ein Erleben, in dem sich sehr vieles sehr schnell ändert.
Diese rasche Veränderung beschert der Pädagogik ein Problem. Sie hat es ja schon der griechischen Bedeutung des Namens nach mit Kindern zu tun. Das Ziel jeglicher moderner Pädagogik, so kann man es schon bei deren Klassikern Rousseau, Schleiermacher und Herbart nachlesen, ist es, Kinder zur Mündigkeit zu führen. Pädagogik zielt demnach auf Unmündige. Auch jüngere Theoretiker denken ähnlich. Niklas Luhmann machte es sich und seiner Systemtheorie mit dem Erziehungssystem nicht einfach und brauchte mehrere Anläufe, um ihm näher zu kommen. Ihn verwunderte dabei, dass alle anderen seiner gesellschaftlichen Subsysteme sich auf ein binär codierbares Medium zurückführen ließen. Wissenschaft: wahr - falsch, Wirtschaft: zahlen - nicht zahlen, Justiz: schuldig - unschuldig etc. Im Erziehungssystem fand er nur das Medium Kind. Wenn man es negierte (Nicht-Kind), dann war das schon kein Fall des Erziehungssystems mehr. Denn Nicht-Kinder sind Erwachsene (= Mündige) und damit keine Bezugsgrößen des Erziehungssystems. Während alle anderen Teilsysteme sich durch die binäre Codierung ihres Mediums selbst verewigen, kam Luhmann deshalb zum Schluss, zielt das Erziehungssystem anscheinend sein eigenes Ende an, ist »teleologisch«. Es geht nur deshalb weiter, weil immer neue Kinder nachkommen.
Auf dem Weg zur Selbstinfantilisierung?
Das Problem ist nun offensichtlich: Wie verhalten sich pädagogische Theoreme, die Kinder als Medium des Erziehungssystems begreifen, zum Konzept des lebenslangen Lernens? Prinzipiell sind zwei Antworten denkbar.
Erstens, wir könnten annehmen, dass das Konzept des lebenslangen Lernens auf eine Selbstinfantilisierung zielt, in der wir nie erwachsen werden können, sondern immer Kinder bleiben. Die Sehnsucht nach der Rückkehr in die vermeintlich heile Welt der Kindheit ist alt, vielleicht erfüllt er sich ja nun? In Brahms Zeit war der Weg in die Kindheit noch unbekannt (»O wüsst´ ich doch den Weg zurück zum Kinderland« Brahms, op. 63 No.8), aber heute kann man zuweilen, und nicht nur bei der Love-Parade, den Eindruck gewinnen, als sei die psychoanalytisch für sinnvoll gehaltenen Regressionsphase zum einzigen Lebenssinn avanciert.
Lassen wir die erste Antwort beiseite, so bietet sich uns die zweite Alternative, dass das Phänomen des lebenslangen Lernens anscheinend nicht in Begriffen eines Erziehungssystems mit dem Medium Kind zu beschreiben ist. Man muss dafür zurück zu den Wurzeln der modernen Pädagogik. Sie unterschied, anders als Luhmann, zwischen Erziehung und Bildung als zwei Aufgaben eines Bildungs- und Erziehungs-»systems«. Während Erziehung sich auf die Frage nach einer eigenverantworteten Haltung bezog, zielte die Frage der Bildung auf die Dimensionen des Welt- und Selbstverhältnisses. (Die augenblickliche Diskussion um den richtigen Bildungskanon ist nur ein schwacher Abklatsch dieser Fragestellung.) Wenn wir diese alte Unterscheidung, die uns die deutsche Sprache so glücklich ermöglicht, wiederbelebten, dann könnten wir sehen, dass lebenslanges Lernen keineswegs lebenslange Erziehung bedeuten muss, sondern ein Auseinandersetzen mit der sich verändernden Welt, also lebenslange Bildung. Menschen, nicht nur Kinder, sind bildsame Wesen. Diese Fähigkeit zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbst zeichnet uns aus. Was es demnach brauchte, wenn diese Bildung nicht nur als Selbstbildung begriffen würde, ist ein Bildungs-System, das diesen Namen verdient.
Ältere lernen von Jüngeren - warum nicht?
Über die andere Aufgabe der Pädagogik, die Erziehung, muss auch nachgedacht werden. Weil sie, wenn man das Bildungssystem, wie Luhmann, insgesamt als Erziehungssystem beschreibt, Schlagseite bekommt. Vielleicht das Wichtigste beim Nachdenken über Erziehung ist deswegen die Frage nach ihren Grenzen. Wieweit ist Erziehung eigentlich möglich, wenn es sich doch um eigenständige Individuen handelt, die sich ihre Welt selbst erschließen beispielsweise? Oder: Wo endet legitime Erziehung und wo beginnt Indoktrination? Diese Fragen auch der Institution zu stellen, der wir gemeinhin nicht nur die Bildung, sondern zunehmend auch die Erziehung zuschieben, der Schule nämlich, wäre eine positive Rückwirkung des Diskurses um das lebenslange Lernen. Sie könnte dann wieder als Bildungsinstitution begriffen werden und wäre von unerfüllbaren Erwartungen, wie sie sich in manchem Schulgesetz finden und von Politikern in Sonntagsreden immer wieder geäußert werden, entlastet. Dann ließe sich neu überlegen, wie Erziehung als Unterstützung der Selbsttätigkeit ein Thema der Institution Schule sein kann.
Ältere lernen von Jüngeren - warum nicht? Eltern lernen von Kindern - warum nicht? Wenn uns Kinder helfen können unseren Weltbezug, unsere Bildung zu erweitern, was ist schlimm daran? Wer etwas lernt (Kinder), wird bislang auch erzogen. Werden die Kinder nun aber zu Lehrenden, werden sie dann nicht auch automatisch zu Erziehern? Zu welch absurden Peinlichkeiten das führt, lässt sich allenthalben im Klassenzimmer beobachten, zur Zeit vielleicht am schönsten in Informatikstunden. Da versucht ein hilfloser Lehrer, den Kindern das Internet zu erklären, und die surfen unterdessen auf Seiten, die der Lehrer noch nie gesehen hat, schicken Mails oder chatten. Wie viel entspannter wäre es doch, wenn pfiffige Schüler dem Lehrer erklärten, wie´s funktioniert. Aber nein, da droht der totale Autoritätsverlust, lieber wird weiterlaviert bis zur gähnenden Langeweile. Wenn wir uns alle als lernend verstehen, ließe sich diese Zeit produktiver nutzen. Der Effekt dieses Perspektivwechsels könnte ganz erstaunlich sein. Die Angst, uns als Lernende zu outen, wäre unnötig. Lernen könnte wieder ein spannender Prozess jenseits der nicht nur in der Schule gefürchteten Pädagogisierung sein. Auch wenn wir dann über das Tom-Comic nicht mehr lachen könnten. Was da erzählt wird, wäre auf einmal ganz alltäglich.
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