Natürlich gab es für das Konzert einen Vertrag. Unter Stapeln von Papier war er wieder aufgetaucht, allerdings erst drei Tage vor meiner Abfahrt. Als ich ihn endlich las, ging es nicht um das Kleingedruckte, sondern um das, was gänzlich fehlte. Zu der ohnehin schmalen Gage wollte der Club kein Fahrgeld übernehmen.
Mich auf eigene Kosten auf den Weg Berlin - Ulm - Berlin zu machen und zwei Arbeitstage am Rechner zu verlieren, nur um ein Sofakonzert im Studentenclub zu geben - war dafür jetzt nicht mal das Wort Zumutung angebracht, wenigstens vor guten Freunden?
Ich schickte eine Mail an Berni, hakte wegen des Fahrtkostenpostens nach. Sicher ein Versehen. Berni verneinte, gab aber unumwunden zu, dass er sich über meine Naivität von Anbeginn gewundert hätte. Für ihn wäre "das Höchste der Gefühle", sich in der Mitte zu einigen: Die Hinfahrt zahle Ulm, zurück der Musiker.
Der Ton war mir zu bestimmend, überdies tat meine Dummheit weh. Um ruhig zu bleiben, half nur, drüber zu schlafen. Am Morgen, noch ohne Entschlussfähigkeit, sah ich direkt hinter dem Sportteil drei riesige Traueranzeigen für Adolf Merckle. Ein Firmengründer, Chef, doppelter Ehrendoktor, Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse. Nun sein Tod, der aber "auf tragische Weise". Auch sagte eine der Annoncen, Merckle habe für die Wirtschaftsregion Ulm Großes geschaffen.
Da sollte ich also hin, das war Ulm: Man versuchte, Großes zu schaffen und starb dabei tragisch. Aber Galgenhumor war gar nicht mein Stil. Die schlechte Laune also, noch immer. Ich starrte auf "Wirtschaftsregion Ulm" und dachte an den Halsabschneider Berni, bis meine Freundin sagte: "Du spielst doch viel zu gerne, um Spielverderber zu sein." Das war das Wort zum Samstag.
Am Sonntag stieg ich mit Tasche und Gitarre in den Zug, ich hatte widerwillig zugesagt. Aber sicher würde ich Berni noch ein paar Takte zu seiner Einkaufspolitik sagen.
"Stillgelegte Gleise / mit unsern alten Waggons / unbewegt und leise / gleiten sie in mich zurück und mit mir davon." Ich konnte nicht umhin, im Zug das eigene Zugreiselied vor mich hinzusummen. Kurz vor Weihnachten, bei einem Auftritt in Berlin, hatte ich ganz ehrlich gesagt, ich gönnte mir heute einen Luxus. Weil ich jetzt solo und frei sei, mein eigener Herr, ganz ohne Band auf der Bühne, hätte ich die Songs zum ersten Mal alphabetisch angeordnet. Einen Moment lang fanden die Leute das so komisch wie ich - dann waren ihre Gesichter umgekippt, sie schienen zu sagen: "Alphabetisch? Dich hat wohl die Lustlosigkeit gepackt, seit du ohne Band auftrittst!" So war das, selbst die kleinste Geste hatte zwei Seiten.
Im Zug lag eine Zeitung herum, darin ein Bericht über Herrn Merckles Tod. Er war Milliardär gewesen, einer der reichsten Männer Deutschlands, und hatte sich, wie die Zeitung sogar unterstrich, "freiwillig vom Zug zerfetzen lassen". Es geschah auf der Strecke von Ulm nach Sigmaringen. Von wegen stillgelegte Gleise. Kam Sigmaringen etwa vor Ulm? Ich hatte sechseinhalb Stunden Zeit, um mir den letzten Tag im Leben eines Menschen vorzustellen, also flogen Leichenteile vorbei, direkt unter meinem Fenster. Ich wühlte in meiner Tasche, ob ich die Kopfschmerztabletten von Merckles alter Firma dabei hatte. Ja. Auch für den Zweitagesausflug, immer dabei.
Es war keine lustige Fahrt, und am liebsten hätte ich in Ulm sofort Berni zur Rede gestellt, aber die Ulmer schickten eine Sandra vor. Sie holte mich vom Bahnhof ab und war guter Dinge, dass ein paar Leute zum Konzert kommen würden. Es gäbe dort keine Küche, ich möge schon mal von dieser Speisekarte wählen. Sie gab per Handy meine Bestellung durch. Sie sagte wunderbar entschlossen "So, dann wollen wir mal", um den Wagen dann wunderbar vorsichtig über die eisglatten Straßen zu lenken. Sie erklärte, dass in Ulm noch der komplette Befestigungsring um die Stadt intakt sei, und es dauerte einige Sekunden, bis der Satz Innenfrost auslöste. Ich dachte an jemanden, der sich eingeengt fühlt, um den sich ein Ring schließt, immer dichter, ich dachte wieder an den Unternehmer Merckle.
Auch der Club war ein alter Stützposten in der Stadtmauer, zwischen den drei Meter dicken Wänden ballte sich die Wärme. Die Techniker hatten aufgebaut. Auf der Anlage liefen Songs von Conor Oberst, einem der Größten dieser Zeit. Ich wurde hungrig - schon kam das heiße Essen. Danach gab es guten Kaffee, und plötzlich saß Berni mir gegenüber und bot süß-schwäbelnd Tabak an, und ob ich mir eine drehen wolle. Ich wollte loslegen gegen ihn, aber plötzlich war Berni, wie der Laden, dieser ganze Mist, einfach so verdammt sympathisch. Es ist schon ein Elend, sich so wohlzufühlen...
Sofas und Sessel standen im Raum, die Menschen hatten es sich gemütlich gemacht, jetzt wollten sie zuhören. Von Song zu Song kamen wir besser miteinander aus, das Konzert lief viel besser als jenes vor Weihnachten in Berlin. Den letzten aller Refrains sang ich ganz sanft und leise, an der Grenze zur Unhörbarkeit: "Und er zählt jeden Tag frische Scheine aus der Bundesdruckerei / und erzählt seinen Söhnen jeden Abend, dass die Welt verkommen sei / und dass nicht mehr viele Menschen existiern / die beim Anblick frischer Scheine ihre Nerven nicht verliern."
Nach dem Konzert stand ich mit Zuhörern im Vorraum. Obwohl der Name Adolf Merckle nicht ein einziges Mal fiel, drehte sich alles um Topverdiener. Zwei Assistenzärztinnen aus der Uni-Klinik formulierten die Ansicht, ihr neuer Chef könnte ja nur aus dem Osten kommen, denn der Bürokratiewahn dieses Postens sei heute nur noch von Leuten zu bewältigen, die sich "echt was beweisen müssten". Ich merkte, dass ich das Ossi-Wessi-Ding wirklich nicht mehr vertrug. Als würden Länder Lebenshaltungen verschreiben können. War es eigentlich nur für Autoren spannender, nach den Gemeinsamkeiten von Menschen zu suchen, jenseits von Regime und Fernsehprogramm? "Meine Kunden", sagte ein IT-Techniker aus Ulm, "immerhin zumeist Anwälte, die können sich noch nicht mal ne Pizza in den Ofen schieben." Ich lächelte befreit, von einem Thema befreit. Wir formulierten gemeinsam die nicht sehr steile These, dass der Markt zerfiel in Billiglohnarbeit, für die keine Ausbildung mehr vonnöten war und Spezialistenjobs, in denen immer weniger Menschen immer mehr Arbeit verrichteten. Von diesen seien aber mangels Zeitreserven wiederum viele im Alltag nicht lebensfähig (weshalb wir nur hoffen können, dass die sich später jenes Essen, das sie heute täglich in Restaurants zu sich nehmen, auf Rädern leisten können).
So ging der Abend dahin, kam der Morgen, an dem ich wieder im Zug saß. Die Rückreise führte mich durch den schneebedeckten Thüringer Wald. Es war Montag, es war der Tag, an dem in Blaubeuren nahe Ulm die Trauerfeier für Adolf Merckle stattfand. Ich hatte mich mit weiteren Zeitungen eingedeckt, und wenn ich sie alle zusammenlegte, ergab sich ein bestechend interessantes Bild von diesem Unternehmer. Es war so interessant, dass ich mich wieder einmal schämte, zu den Autoren zu gehören, die Figuren erfanden. Solange es Lebensläufe gab wie den Adolf Merckles, brauchte es eigentlich keine Fiktion: Die Firma 1881 vom Großvater in Böhmen gegründet; 1945 hinüber auf die Schwäbische Alb, von hier ab 40 Jahre Firmengeschichten und finanzielle Interessenpolitik, deren Verflechtung nicht einmal durch eine anständige Grafik zu verstehen war; zum schwäbischen Pietismus kam ein wenig Herrnhuter Menschenwärme und "null Glamour"; es gab zwei Söhne, die wollten, aber für den Vater nicht zum Nachfolger taugten; es gab einen dritten Sohn, natürlich der jüngste, der im sozialen Bereich arbeitete; und eine Tochter, die von dem Imperium nichts wissen wollte und nicht einmal mit Namen genannt wurde, sie hatte sich früh nach Berlin abgesetzt; zurück blieb eine protestantische Ehefrau, die mit Merckle noch im Alter Sechstausender in Nepal bestieg. Wenn das kein Roman war!
Schon kleine Details wären ein ganzes Kapitel wert gewesen. Der Milliardär, der bei Geschäftstreffen noch nicht mal Kaffee anbot. Oder dass unter einem Zeitungsfoto stand "Auf einem der wenigen Privatfotos..." - das war derart unmodern, rührend und fremd zugleich, dass ich, der ich im Zug dahinrollte, mich völlig darin vergaß.
Das plastische Bild, das Merckle mir in all seiner Widersprüchlichkeit von meinem Heimatland vermittelte, tat beinahe weh. Natürlich waren seine Lebensbedingungen westdeutsch, aber mich schmerzten ja kaum seine verlorenen Milliarden, sondern der überall durchs Papier schimmernde Satz, dass hier einer nie gezeigt hatte, was ihn innerlich bewegte, weil er es öffentlich nicht zeigen durfte, privat nicht konnte.
Der Schmerz, schien mir, war absolut gesamtdeutsches Terrain.
Ich sage, es schimmerte durch. Es bleibt Spekulation, auf einer Reise nach Ulm und zurück. Hier die verlorenen Milliarden und der Tod - dort mein Hadern um ein lächerliches Fahrgeld. Es gab keine Zusammenhänge ohne Konstruktion. Aber es gab auch keine Lebenszeit, die man nicht selbst vergeudete. Schon deshalb war ich froh, live gespielt zu haben, vor Berni und anderen Menschen.
Jan Böttcher lebt als Romanautor und Songwriter in Berlin. Zuletzt erschien sein Soloalbum Vom anderen Ende des Flures
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