Alle wollen Berlusconi heißen

LEGALER UND REALER STAAT Das Beharrungsvermögen der italienischen Gesellschaft

Einen Blick zurück, und das meistens im Zorn, wirft der bekannte Journalist Giorgio Bocca, Jahrgang 1920, in seinem Buch Il secolo sbagliato auf das verfehlte italienische Jahrhundert. Harsch rechnet er mit einer Gesellschaft ab, in der organisierte Kriminalität, Politik und Justiz ineinander verzahnt sind und die Korruption längst nicht gebannt ist. Damit setzt Bocca die lange Tradition italienischer Selbstkritik fort, deren Beschreibungen des sozialen Gewebes seit Leopardi keine wesentlichen Änderungen erfahren hat. Das mag ein starkes Indiz dafür sein, dass die italienische Gesellschaft bis heute, unter radikal veränderten ökonomischen und technologischen Bedingungen, ein erstaunliches Beharrungsvermögen an den Tag legt. Die erhellende Analyse Fabio Cusins aus dem Jahr 1945 hat nichts an Gültigkeit verloren. Der Italiener, schrieb Cusin, bewege sich in zwei Welten, seiner Familie und einem feindlichen Außerhalb. So bestehe das soziale Gewebe aus zahlreichen Mikrokosmen. Und wo sich Verwaltung und Staatsapparat Familieninteressen zu beugen hätten, litten sie automatisch an Ineffizienz und Korruption. 20 Jahre später stellte Luigi Barzini junior eine Liste der typischen italienischen Defekte zusammen: Moralische Trägheit, Flickschusterei, Kompromisslertum und tiefes Misstrauen gegen den Staat.

Wenn Giacomo Leopardi ein Jahrhundert früher das italienische Volk das zynischste aller Völker nannte, so scheint Girgio Bocca diesen Befund bloß zu aktualisieren: "Und wieviele Anstrengungen werden jetzt unternommen, um Tangentopoli und die Ermittlungsergebnisse von Mani pulite unter den Teppich zu kehren. Aber der nachträgliche Freispruch reicht den ... Betrügern nicht, sie benehmen sich wie Opfer, erheben Anspruch auf Wiedergutmachung. Die mutigen Richter sind besiegt ...". Die Absolution Giulio An dreottis, der nachweislich mit Mafiosis verkehrte und zu seiner Verteidigung kühn behauptete, er habe nie gewusst, um wen es sich handelte, mag als Beleg der bitteren These Boccas ausreichen.

So erstaunt es auch nicht, dass der ehemalige Staatspräsident und heutige Senator auf Lebenszeit, Francesco Cossiga, just in den Tagen der Regierungskrise nach Hammamet zu einem alten Bekannten flog: dem wegen Bestechnung verurteilten und nach Tunesien geflüchteten, inzwischen verstorbenen Bettino Craxi. Der Fuchs Cossiga wollte mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen das Land reif machen für eine Rehabilitierung aller "Opfer" des Kampfes gegen die Korruption. Zweitens, die halbherzig mit ihm verbündeten Sozialisten beeindrucken, die nichts sehnlicher wünschen, als ihre beispiellos korrupte Vergangenheit vergessen zu machen.

Cossiga hatte, nach dem Sturz Prodis, dem Ex-Kommunisten D'Alema zu den nötigen Stimmen verholfen und dann das Regierungsschiff mit Einschüchterungen und Erpressungsversuchen konsequent auf Schlingerkurs gehalten. Jetzt wollte er D'Alema beweisen, dass dieser nichts als seine (christdemokratische) Kreatur ist. Am Ende enthielten sich die Sozialisten bei der Vertrauensabstimmung und ermöglichten die Regierungsbildung. Aber D'Alema musste nicht nur eine Kommission versprechen, die die Geschichte von Mani pulite untersuchen soll (und die Einberufung der Kommission gilt hierzulande schon als Eingeständnis, dass die Anti-Korruptionsjäger "übertrieben" haben). Seine Regierung steht außerdem auf äußerst wackligen Füßen.

Kein Wunder, dass die liberale Presse neidisch nach Deutschland schaut, scheint der Zustand der Parteien und demokratischen Institutionen jenseits der Alpen vergleichsweise mustergültig. "Während in Berlin (Europa)", schreibt die Tageszeitung La Repubblica, "schon darüber diskutiert wird, ob es nicht angebracht sei den großen Helmut Kohl ... in Haft zu nehmen, kann der Befehl eines Korruptionsflüchtigen aus Hammamet (Afrika) über das Schicksal der nächsten italienischen Regierung entscheiden."

Francesco Cossiga ist ein exemplarischer Fall. Mag das Ex-Staatsoberhaupt auch ganz persönliche Interessen (sprich: Leichen im Keller) haben, um als Königsmacher eines D'Alema oder notfalls eines Berlusconi die Restauration voranzutreiben. Mag er, alter Christdemokrat, der er ist, den Traum von der wiedererstehenden Democrazia Cristiana träumen. Im ewigen Taktiker Cossiga kristallisiert sich außerdem der Byzantinismus der ersten Republik. Seine bestimmende Präsenz in der Gegenwart zeigt, dass dieser Byzantinismus aus "guten" Verbindungen, sei es zur Mafia, sei es zu den Geheimdiensten, Postenschacher, Korruption und Anpassung keineswegs besiegt ist.

Den bitteren Ausspruch des Nationaldichters Leopardi vom zynischsten aller Völker, möchte man jedenfalls umgehend auf die politische Klasse anwenden. In der laufenden Legislaturperiode haben fast 200 von 630 Parlamentariern Partei und Fraktion gewechselt (bisweilen von finanziellen Angeboten verlockt). Einige liefen zur Opposition über, ein paar zur Regierungsmehrheit. Der napolitanische Abgeordnete Nicola Miraglia Del Guidice brachte es dabei auf fünf Parteiwechsel (die anderen selten auf mehr als zwei oder drei). Gewählt auf einer Liste der "postfaschistischen" Alleanza Nazionale gelangte er auf einigen Umwegen bis zur Zentrumspartei Udeur, die die Mitte-Links-Regierung unterstützt. Dabei zeigt sich nicht nur eine verheerende Überzeugungslosigkeit. Es herrscht eben der Individualismus, der einem Deutschen als fröhliche Anarchie erscheinen mag, der aber vor allem Verachtung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen ausdrückt, und seine Entscheidungen nach Maß von Ehrgeiz, Eitelkeit und Opportunismus modelt.

Rechte Intellektuelle in Italien hingegen werfen den Kritikern vom Schlage eines Giorgio Bocca vor, sie seien in Wahrheit "Wächter der imperialen Erbschaft, des römischen Mythos und der klassischen Kultur" gegen die katholisch geprägte, nach-antike Gesellschaft. Ernesto Galli della Loggia, der vor anderthalb Jahren mit der Herausgabe einer Buchreihe über die "Italianita" ("die italienische Identität") begann, möchte mit Gleichgesinnten und im Einklang mit der Kirche das volkstümlich-christliche, familiengeprägte und antistaatliche Italien gegen die laizistischen Intellektuellen verteidigen. Dieser Rechten, die sich zum Teil aus linksextremen Kreisen der 70-er Jahre rekrutiert - man war antiimperialistisch und geriert sich heute antiimperial -, schwebt die "Versöhnung" der traditionellen Gesellschaft mit dem modernen Wirtschaftsliberalismus vor.

Nicht umsonst schart sie sich um den Oppositionschef und Medienzar Silvio Berlusconi. Berlusconi kann als Modell dafür gelten, wie sich das pratikulare Interesse im "sozialen Gewebe" des verhassten Staates bedient, um nicht nur den persönlichen Reichtum zu mehren (Berlusconi ist der reichste Italiener auf dem alten Kontinent), sondern um ein Monopol aufzubauen, mit dem sich Staat und Gesellschaft schließlich dominieren lassen. Deshalb erkennen sich auch die kleinen Geschäftsleute im Unternehmer Berlusconi wieder - alle wollen Berlusconi heißen.

Die "neue Moralität", die Berlusconi neuerdings für sich in Anspruch nimmt (ohne näher zu erklären, was man sich darunter vorzustellen habe), könnte ein erfolgversprechendes Bündnis mit der traditionellen moralischen Trägheit eingehen. Vielleicht handelt es sich ja am Ende um ein und dieselbe Moral, oder um mit Niklas Luhmann zu sprechen, um Moral als ein bestimmtes Funktionssystem unter anderen, das sich nach dem "Code" "Haben" und "Nichthaben" reguliert. Wird in der Luhmannschen Analyse nicht der geachtet, der gut ist, sondern der als gut betrachtet, der geachtet wird - weil sein System "funktioniert" - haben wir in Silvio Berlusconi die Probe aufs Exempel der soziologischen Theorie.

Freilich nimmt sich Niklas Luhmann in seiner Theorie vor, eine avancierte, moderne Moral zu kennzeichnen (und Michael Jäger hat sie jüngst im Freitag auf den Spenden skandal von Helmut Kohl angewandt). Vielleicht lehrt das Beispiel Italien, dass es sich eher um ein altes Modell handelt, unberührt von Moraltheorien, die ein protestantisches Bürgertum, die "rechtschaffene Kaufmannschaft" der nördlichen Länder im 18. Jahrhundert kreierte.

Politisch beginnt Berlusconi sich schon jetzt neu zu positionieren. Es weht der Wind der Restauration, und da muss sich seine Bewegung Forza Italia nicht mehr als das schlicht Neue vorgeben, das sie nie war. Mittlerweile aufgenommen in den erlauchten Kreis der Europäischen Volkspartei (Helmut Kohl sei dank!), versucht der Medienzar nicht nur, Brüssel zu italianisieren und den der Korruption verurteilten Getreuen Dell'Utri in die Justizkommission(!) zu hieven. Vorsichtig distanziert er sich auch von den mit ihm alliierten "Postfaschisten" und besinnt sich auf eine Wiederbelebung der Democrazia Cristiana.

Die Schwäche der Regierung und der linken Parteien spielt den restaurativen Kräften in die Hände. Schreibt Bocca: "Die moderne Linke hat die Maximierung der Profite und die Verringerung der Kosten inzwischen akzeptiert, die sozialistischen Parteien Europas haben auf dem Gipfel in Mailand beschlossen, dass das siegreiche Modell jenes von Clinton ist, das bedeutet die fortschreitende Abschaffung des Sozialstaats...". Dieses Projekt lässt sich von einer wirtschaftsliberalen Rechten aber besser verwirklichen. Was als linkes Projekt übrigbleibt, erweist sich als das moralische Vorhaben, eine stabile parlamentarische Demokratie mit funktionierenden Institutionen zu schaffen. Es ist dasselbe Projekt, das der katholische Politiker Guido Gonella schon 1947 umriss: "Wir müssen den Zustand beenden, zwei Staaten zu haben, einen legalen und einen realen, einen, der auf dem Papier steht, und einen davon verschiedenen, gegensätzlichen, der in den Institutionen nicht anwesend ist ...".

Man sage nicht, es handele sich dabei um ein Minimalvorhaben. Die Anstrengung ist nicht nur lobenswert, sie ist gewaltig. Es spricht aber viel dafür, dass gerade in Zeiten der Globalisierung, der unkontrollierten Finanzmärkte und supranationalen Konzerne, das alte italienische Modell zweier Staaten im Staat, eines legalen und eines realen, extrem exportverdächtig ist.

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