Farre Färse

Archäologie des Verlorenen Die Beschwörung einer untergegangenen Welt in einem Roman und neuen Gedichten des rumäniendeutschen Autors Johann Lippet

Der rumäniendeutsche Autor Johann Lippet, der 1951 im österreichischen Wels geboren wurde und wenige Jahre später mit seinen Eltern nach Rumänien übersiedelte, erzählt in seinem Roman mit dem unspektakulären Titel: Die Tür zur hinteren Küche offenbar ein Stück autobiographischer Geschichte. Im Buch heißt die Familie Lehnert und nicht Lippet, aber die Überschneidungen mit der Lebensgeschichte des Autors sind unübersehbar.

Die Eheleute Anton und Maria Lehnert teilen das Schicksal anderer deutschstämmiger Familien, die der Krieg auseinandergerissen und versprengt hat, sei es, dass sie als Soldaten der Wehrmacht in Kriegsgefangenschaft geraten oder als Daheimgebliebene der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt zur Zwangsarbeit verschleppt werden. Diese Geschichte skizziert Lippet freilich nur. Wenige, protokollhafte Sätze widmet er den Motiven der Lehnerts, ins Heimatdorf zurückzukehren: "In Rumänien war ein Dekret über die Erleichterung der Repatriierung und die Amnestie der Repatriierten erschienen, das Gastgeberland (Österreich) drängte die Flüchtlinge nach dem Abzug der Besatzungstruppen, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Und sie hatten dem Drängen und den Wunschvorstellungen derer von zu Hause nachgegeben: ...Arbeit gebe es doch überall und schon wegen der vier Kinder sei es zu Hause sicherer."

Vermutlich wird die Vor-Geschichte der dramatischen Verluste der Kriegs- und Nachkriegszeit so kurz und bündig abgehandelt, weil sie sich nicht mit dem Erfahrungshorizont des Autors decken. Der interessiert sich für die Versagungen, kleinen Hoffnungen und den schleichenden Verfall im Rumänien von den 50ern bis in die 80er Jahre. Überhaupt ist er kein dramatischer, sondern ein äußerst diskreter Erzähler. So beginnt der Roman beinahe idyllisch in der Tradition der provinziellen rumänischen Dorfliteratur: "An einem Oktobermorgen 1956 holperte ein Pferdewagen über den Feldweg auf Wiseschdia zu."

Es ist auch kein soziologisches Interesse, das den Autor leitet. Obwohl sein Buch plastisch darüber Auskunft gibt, wie man in den deutschen Dörfern des Banat unter der Herrschaft der Kommunisten lebte, wie der Alltag der Arbeit und sozialen Verhältnisse aussah, erinnert die präzise Beschreibung der Realien immer wieder auch an eine Beschwörung der untergegangenen Welt. Hier erzählt jemand voller Trauer darüber, dass diese Welt nicht mehr existiert, und dass die Sehnsüchte und Wünsche derer, die sie bevölkerten, nie in Erfüllung gegangen sind.

Was dem Leser mitunter in seinem Realismus übertrieben scheint, weil er es so genau gar nicht wissen will ("Das Schulgebäude war L-förmig angelegt, bestand aus zwei Klassenzimmern, der Lehrerwohnung und dem Pionierzimmer"), findet seine erzählerische Legitimation im Angesicht des Verlustes, dessen Chronist Johann Lippet ist. Auf den letzten Seiten des Romans erfahren wir vom Zerfall des Dorfes, weil die Pressionen des Staates und seine Misswirtschaft die Menschen nach Deutschland oder sogar in den Selbstmord getrieben haben. "...das Ansiedlerhaus...war ein von Gras überwucherter Erdhaufen...das nächste Haus stand leer, der hintere Teil war eingestürzt...vom Haus des Thomas Ritter standen nur noch die Grundmauern...der Schulbus verkehrte nicht mehr. Treibstoffmangel."

Die genauen Beschreibungen erst machen es dem Leser möglich, die erlittenen Verluste zu erahnen. Gleichzeitig birgt solche Genauigkeit, die der Autor schon bei seinem Protokoll eines Abschieds und einer Einreise von 1990 bewies, einige erzählerische Risiken. Was nämlich im Protokoll gelang, die Registratur ebenso absurder wie entwürdigender bürokratischer Mechanismen, wirkt im Kontext einer Familien- und Dorfchronik auf die Dauer ermüdend. So baut Lippet im ersten Teil des Romans keinerlei Spannungsbogen auf, die Verwandtschaftsverhältnisse sind kompliziert und werden immer unübersichtlicher, die einzelnen Episoden, die von Kollisionen der Familienmitglieder untereinander oder mit den Verhältnissen berichten, bleiben zu kleinteilig und erzeugen bloß über eine oder zwei Seiten lang Leselust.

Im zweiten Teil des Buches konzentriert sich der Autor hingegen auf die Geschichte der Studentin und späteren Lehrerin Susanne Lehnert, der Tochter von Anton und Maria - man darf vermuten, dass Lippet hier seine eigene Geschichte vor Augen hatte - und augenblicklich beginnt der melancholische Stil zu fesseln. Denn hier wird nicht detailreich re-konstruiert, sondern fließend erzählt.

Wenn Lippet im Roman dazu neigt, die untergegangene Welt möglichst komplett wiederzuerschaffen, so gelingt die Beschwörung in seinen Gedichten wesentlich überzeugender, weil sich dort die Vergangenheit in den Vokabeln eines verschwundenen Lexikons frei und assoziationsreich reflektieren kann. Schmerz und Glück werden in Lippets Versen beredt, und dass beides zutiefst mit den Erfahrungen aus Kindheit und Jugend in Rumänien verknüpft bleibt, belegt schon das Anfangsgedicht. Ich wünschte die Zeit zurück, als Unglück mich beflügelte,/ mich aufwiegelte...// Unmut kommt auf, der lähmt den Tag. Wenn das Ich, das einst rebellierte, zum Mut gezwungen war, so wird der "Unmut" der Gegenwart, der den Begriff des alltäglichen Sprachgebrauchs als Verdrossenheit oder Missmut bei weitem übersteigt (oder unterläuft), zum Anlass wahrer Verzweiflung.

Lippet ist beileibe kein Nostalgiker. Er weiß und sagt es sehr wohl, dass die Verzweiflung nicht nur der Gegenwart geschuldet ist. Auch in der rumänischen Vergangenheit wurde die Sprache zugerichtet. Der Verlust gehört zur europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, ist die Folge der brachialen Zuordnung von Identität und Sprache, der alles Nichtidentische, der nationalen oder ethnischen Definition nicht Ent-sprechende, zum Opfer fiel. Nicht umsonst wählt Lippet im vielleicht schönsten Gedicht des Bandes Auf der Pirsch die Metapher der Jagd, die ja nicht zufällig eine Lieblingsbeschäftigung der sozialistischen Diktatoren war, um von der Gewalt zu berichten, die der Sprache angetan wurde: "da gehen wir hin Worthülsen im Mündungsfeuer".

Wenn Lippet in seinem großen Gedichtzyklus das verschwundene Lexikon des Banater Alphabets noch einmal durchbuchstabiert, dann eben im schmerzlichen Bewusstsein, dass er auch er, der Dichter, sich "im eigenen Fadenkreuz" bewegt. Umso anrührender wird das Durch-die-Wörter-Gehen zur poetischen Archäologie des Verlorenen. Von A bis Z ruft Lippet mit den Worten die vergangene Welt herauf, etwa unter dem Buchstaben F wie "Fernsucht": aber weißt du noch wie du mir Fickmühle beibrachtest/ und wie man Karten filiert/ und du feurio riefst als es beim Nachbarn brannte. Das Banater Alphabet aus der Ebene bei Hegyeshalom an der ungarischen Grenze wird zum beeindruckenden Gesang, in dem die verlorenen Worte noch einmal und ohne Gewalt zur Sprache kommen.

Johann Lippet: Die Tür zur hinteren Küche. Roman. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000, 280 S., 39,80 DM
Banater Alphabet. Gedichte. Edition Künstlerhaus im Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2001, 45 S., 26,- DM

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