Die rumänische Literatur der vergangenen 17 Jahre ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Amnesie. Bis vor kurzem fehlte es an dem großen Roman über die Zeit der feudal- und nationalkommunistischen Herrschaft der Stalinisten Georghiu-Dej und Nicolae Ceausescu. Autoren der älteren Generation sind verstummt oder haben sich, wie Ion Grosan, der Publizistik zugewandt. Jüngere Schriftsteller greifen Themen auf, die zu kommunistischen Zeiten verboten waren oder wollen absichtlich schockieren. Krude Sexualität ist ein Lieblingsgegenstand der neuen Literatur, die daher literarisch selten spannender ist als ein Beate-Uhse-Porno. Erst in diesem Jahr erschien mit dem dritten Teil von Mircea Cartarescus Romantrilogie Orbitor - der erste Teil wurde kürzlich vom Zsolnay Verlag unter dem Titel Die Wissenden veröffentlicht -, fast zeitgleich mit der offiziellen Verurteilung des Kommunismus durch den Staatspräsidenten Basescu, eine literarisch ambitionierte, episch-magische Auseinandersetzung mit der verdrängten Vergangenheit.
Bisher war die kommunistische Usurpation der Macht in einem Land, in dem die kommunistische Partei der Zwischenkriegszeit nie mehr als tausend Mitglieder zählte, allenfalls Gegenstand von Grotesken, wie in der wilden Satire Daniel Banulescus Ich küsse dir den Hintern, geliebter Führer. Gabriela Adamesteanu hingegen verwendete als Grundlage für ihren Roman über die Ceausescu-Zeit mit dem Titel Die Begegnung eine Erzählung, die sie bereits in den achtziger Jahren geschrieben hatte. Spuren der vergangenen Welt ließen sich indes in den literarischen Werken zahlreiche finden, nicht zuletzt deshalb, weil sie ja noch überall gegenwärtig waren und bis heute sind.
Das trifft insbesondere auf den satirischen Roman Dan Lungus Das Hühnerparadies zu, der die Vergangenheit in den Geschichten, Erinnerungen und Ansichten seines Personals wiederbelebt. Da hocken sie, die Rentner einer moldauischen Vorstadtstraße in der Kneipe mit dem Spitznamen "Zum zerknautschten Traktor", diskutieren sich die Köpfe heiß, ob es damals nun besser oder schlechter war als heute und geraten sich so in die Haare, dass der Wirt ihnen jede Auseinandersetzung über Ceausescu untersagen muss.
Der 1969 geborene, moldauische Autor Dan Lungu arbeitet als Soziologiedozent an der Universität Iasi. Seinem Roman merkt man das soziologische Interesse an. Lungu hat mit seiner Vorstadtstraße und ihren Bewohnern einen gesellschaftlichen Kosmos geschaffen, der, wie die berühmte Leibnizsche Monade, die rumänische Welt idealtypisch in sich vereint. In dieser Welt regieren bäuerliche Mentalität und kleinbürgerliches Bewusstsein. Von der urbanen Erfahrung ist sie umso weiter entfernt, als die beschriebene Vorstadt nicht einmal an eine moderne Stadt grenzt, die ihrerseits nur aus lauter "Hühnerparadiesen" besteht.
Die eigentliche Tragik für die Bewohner seiner Malhala besteht darin, dass in ihr absolut nichts passiert. Die große Politik findet sowieso woanders statt, und die Menschen sind es gewohnt, dass sie nicht zu ihrem, sondern zum Wohl der politischen Klasse gemacht wird. Folglich schauen sie aus dem Fenster oder, ab fünf Uhr nachmittags, wenn die Telenovelas beginnen, auf den Fernsehschirm. Jedes noch so banale Ereignis lädt sich entsprechend mit Bedeutung auf. Da ist das geheimnisumwitterte Haus des Oberst, das nie ein Mensch betreten hat, oder der Garten Relu Covalciucs, der eines Tages von Regenwürmern überschwemmt wird. Das wäre für den Leser auf Dauer so belanglos, wie es das Leben für die Bewohner der Akazienstraße ist, wenn Lungu nicht zwei Dinge zur Hilfe kämen: Seine Sympathie mit der armseligen Vorstadtwelt und die Freude der Rumänen an Geschichten.
Nicht nur, dass es den Gerüchten in der Vorstadt so geht wie dem geflüsterten Wort beim Kinderspiel "Stille Post". Nicht nur, dass gerade in Ermangelung eines rationalen Diskurses die Fabulierkunst der Menschen umso buntere Blüten treibt. In den Kneipengesprächen der Männer geht es nicht darum, ob eine Geschichte wahr oder erfunden ist. Es geht darum, ob sie gut erzählt wird. Und hier deckt sich das Interesse des Schriftstellers mit dem seines Personals. Mitus urkomische Erzählung über seinen Besuch bei Ceausescu muss nicht zwangsläufig der Fantasie des Autors entsprungen sein - er könnte auch nur der Chronist abgelauschter Geschichten sein. Das liegt an der erwähnten Sympathie Lungus für seine Figuren. Der satirische Abstand dient nie denunziatorischen Zwecken. Er ist lediglich ein Mittel, um dem Stimmenwirrwarr, das aus dem "Zerknautschten Traktor" dringt, zum roten Faden zu verhelfen.
Lungus Buch bezieht seine Sprachkraft aus der Nähe zum Argot der Vorstadtbewohner. Die kommentieren die inzwischen vollen Geschäfte, in denen sie aus Geldmangel nichts kaufen können, mit den Worten: "Du glotzt in die überfüllten Regale, schluckst kräftig und gehst wieder nach Hause. Die Spucke-Produktion ist so gestiegen, dass man welche exportieren könnte." Herr Spataru hingegen, der in betrunkenem Zustand stets bereit ist, seine Frau zu schlagen, muss einsehen, dass seine Ohrfeigen keine Wirkung zeigen, weil seine Frau nicht einmal weiß, "wie viele Ohren sie hat." Mit der lebendigen Sprache, die Lungus Buch bereits lesenswert macht, verbinden sich wunderbare Beobachtungen, sei es kleiner Alltagsdetails, sei es der psychischen Verfassung der von der Geschichte ausgespuckten Menschen. Das Porträt Frau Covalciucs, die absolut nichts wegwerfen kann und ihre Hühner mit abgelaufenen Penicillintabletten füttert, ist so wahrhaftig und vergnüglich, wie es die Schilderungen der "Krankheitsvorbereitungen" bei Frau Socoliuc sind.
Am Schluss des bei aller Lebendigkeit doch statischen Buchs - wie sollte es bei diesem Gegenstand auch anders sein! - deutet sich dann aber doch eine Entwicklung an: Der Ausgang aus dem Reich der Vorstadtfabel. Denn es stellt sich heraus, dass die Unmengen von Regenwürmern im Garten Herrn Covalciucs infolge eines durch Reparaturmaßnahmen der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft ausgelösten Stromstoßes an die Oberfläche gekommen sind und sich keineswegs einem übersinnlichen Ereignis verdanken. Und zusammen mit Herrn Covalciuc neigt auch der Leser dazu, diese rationale Erklärung eher zu bedauern, als erleichternd zu finden.
Dan Lungu: Das Hühnerparadies. Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen. Aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu. Residenz, Salzburg 2007, 208 S., 17,90 EUR
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