Stein des Anstoßes

Kino Roland Emmerichs „Stonewall“-Film erfindet sich einen schwulen Helden, der heterosexuellen Kinogängern gefallen soll
Ausgabe 47/2015

Unter den Pressefotos, die Roland Emmerichs Spielfilm Stonewall illustrieren sollen, zirkuliert vor allem eines – das oben stehende (das wir allein aus diesem Grund ausgewählt haben). Gegen die titelgebende Backsteinmauer, genauer: durch ein Fenster der von der Polizei gerade besetzten queeren Bar Stonewall Inn in New York, fliegt, wie man im Gegenschuss des Films sieht, der Stein des weißen Jungen im Vordergrund.

Die Aktion, so erzählt der Film, ist Teil der historischen „Stonewall Riots“, die am frühen Morgen des 28. Juni 1969 begannen und als Wendepunkt im Kampf gegen die Diskriminierung von Homosexuellen gelten; heute wird daran weltweit mit Christopher Street Days erinnert. Was genau die Energien an diesem Tag freisetzte und welche Aktion die Aufstände konkret losbrechen ließ, weiß man nicht genau – es gibt darüber „so viele Legenden, wie es Dragqueens in New York gibt“, wie eine Figur in Nigel Finchs Spielfilm Stonewall von 1995 sagt. Aber jetzt gibt es dieses Bild, und dieses Bild kursiert: Den ersten Stein warf ein weißer Junge.

Die Stonewall Riots gab es wirklich. Den weißen Jungen, Danny Winters, der aus einer Kleinstadt in Indiana in der ersten Reihe eines Aufstands landet, gab es nicht. Seitdem das Bild und der Trailer zum Film veröffentlicht wurden, hat sich die Irritation über die Präsenz der Danny-Winters-Figur in einem Film über Stonewall ihrerseits in Protesten, Beschimpfungen und Boy-kottaufrufen entladen. Vom „Weißwaschen“ eines der zentralen Momente der queeren Geschichte ist die Rede, von einem Neuschreiben gar. Denn es fehle nicht nur ein historisches Vorbild für Danny Winters, es fehlten im Film diejenigen, die mutmaßlich in der ersten Reihe der Riots standen: die schwarze Dragqueen Marsha P. Johnson (im Film durch eine hanebüchene Kidnapping-Aktion gerade zu einer anderen Bar unterwegs), eine lesbische Frau, die sich minutenlang gegen ihre Festnahme wehrte (im Film sieht man sie in einem kurzen Gerangel), und die puerto-ricanische Dragqueen Sylvia Rivera, die mit Johnson später die „Street Transvestite Action Revolutionaries“ gründete.

Falsche Marktlogik

Roland Emmerichs Stonewall-Erzählung täuscht zu keinem Zeitpunkt hinweg über die fiktionale Gestaltung eines Wendepunkt-Moments, den Barack Obama einmal im gleichen Atemzug wie „Selma“ und „Seneca Falls“ nannte. Die Fiktionalisierung geht allerdings auf Kosten derer, die nicht reibungsfrei in die dominante Kultur integrierbar scheinen: der Nicht-Weißen, der Nicht-Gender-Konformen, der Nicht-Bürgerlichen. Emmerichs Film könnte genauso gut Danny heißen.

Denn er erzählt, wie dieser Danny nach dem Bekanntwerden einer sexuellen Beziehung zu einem anderen Jungen aus dem Elternhaus geworfen wird und früher als zum geplanten Studium nach New York kommt. Die Geschichte folgt einem klassischen Muster des globalisierten US-Erzählfilms, das Emmerich im Interview mit der Siegessäule beschrieben hat; es geht darum, „eine unschuldige Person in eine Situation zu werfen, in der es richtig hart zugeht“. Danny Winters ist dabei ausdrücklich als Identifikationsangebot an heterosexuelle Zuschauer gedacht, mit deren Kinobesuchen ein Film mit dem Budget von Stonewall (wenn auch nur ein Bruchteil dessen, was Emmerich-Filme sonst kosten) sich refinanzieren muss. Emmerichs Argumentation folgt einer Marktlogik, die – so muss man nach dem gefloppten Kinostart in den USA sagen – nicht aufgegangen ist. Durch die queere Szene ging nach der Veröffentlichung des Trailers ein Riss, der symptomatisch dafür ist, wie aktuell über Repräsentationen von LGBTIQ-Figuren in den Medien diskutiert wird. Sahen einige in der erzählerischen Situierung von Charakteren, die nicht cis-männlich und weiß sind, in der zweiten Reihe hinter dem fiktiven Danny eine Fortschreibung der homonormativen Fortschrittserzählung des schwulen bürgerlichen Mainstreams (die bei den Stonewall Riots ihren Anfang nahm), baten andere darum, einen Spielfilm nicht schon auf Grundlage seines Trailers zu verurteilen und damit jeden Versuch zu verhindern, LGBTIQ-Geschichte zu erzählen.

Für beide Positionen gibt es Argumente. Deutlich wird nach den mehr als zwei Stunden des Films, wie verzweifelt hier mit den Formeln des Erzählkinos eine queere Position in eine heteronormative Passform gepresst werden soll. Die Trans-Freunde dienen nur als Stichwortgeber für Dannys Politisierung und schwuler Sex wird in grotesken Prostitutionsszenen erzählt – „conservative camp“ (Bruce LaBruce). In den Riot-Szenen kann sich die Kamera nicht zwischen Angreifern und Angegriffenen entscheiden, weil sie es gewohnt ist, sich mit letzteren zu identifizieren.

Würde der Film die Geschichten von Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera ernst nehmen, müsste er anders vorgehen. Stonewall wäre dann nicht der Film über einen Bruch und dessen Heilung in einer bürgerlichen Familie (Dannys Schwester und Mutter stehen beim ersten Pride March ein Jahr später am Straßenrand und applaudieren), es wäre auch keine Lektion in schwuler Geschichte für ein marktwirtschaftlich ausgerechnetes Cineplex-Publikum. Es wäre vielleicht ein Film, der seine erzählerische Lust darin finden würde, einen fragilen Knotenpunkt aus vielen Legenden zu erzählen, in denen viele verschiedene Steine gegen heute noch stehende Ziele geworfen worden wären. So aber ist Emmerichs Stonewall ein Film, der letztlich niemanden trifft.

Info

Stonewall Roland Emmerich USA 2015, 129 Min.

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