Vier Theatergroßbauten brachte die Spielzeit 1912/1913 hervor. Keine ungewöhnlich hohe Zahl in diesen geschäftigen Jahren. Drei dieser Häuser gibt es in restaurierter Form noch heute.
Sie begehen nun ihr 100. Jubiläum: Das Thalia-Theater in Hamburg, das vom hanseatischen Architekturbüro Lund & Kallmorgen gebaut wurde. Max Littmanns Stuttgarter Opernhaus (ehedem Königliches Hoftheater) und das von Martin Dülfers konstruierte Duisburger Theater. Nur das im Krieg zerstörte Deutsche Opernhaus in Charlottenburg von Heinrich Seeling, eröffnet im November 1912, wurde Anfang der sechziger Jahre durch den Glas- und Kiesel-Kasten von Fritz Bornemann ersetzt. Und im Herbst 2013 wird dann auch das Königliche Hoftheater Dresden seinen 100. Gebur
100. Geburtstag feiern – mit dem Projekt 100 Prozent Dresden von Rimini Protokoll.Das Gros der deutschen Theater- und Opernhäuser verdankt sich also jenem Theater-Boom, der im Deutschen Reich von etwa 1880 bis zum Weltkriegsbeginn im Jahr 1914 anhielt. Nie zuvor waren in vergleichsweise kurzer Zeit derart viele Theater neu errichtet worden – selbst der vorerst letzte Boom, die Neubauwelle der Periode nach 1945, konnte damit nicht gleichziehen.Werbeträger für HaushaltsgeräteDiese Bautätigkeit um 1900 war eine Folge des rasanten Wirtschaftswachstums, das eine Landflucht und ein rasches Anschwellen der urbanen Bevölkerung nach sich zog. Um dem gesteigerten Unterhaltungsbedürfnis entgegenzukommen, wurde dereguliert. Die Gewerbefreiheit 1869 im Norddeutschen Bund (und bald darauf im Kaiserreich) brachte zunächst eine Fülle kurzlebiger Etablissements: Tingel-Tangel, Rauchtheater, Varietébühnen und Spektakelpodien bis hin zum Zirkus. Pantomimen, allegorische Apotheosen, Tableaux vivants, Ausstattungs-, Spektakel- oder Schaustücke, Bilderfolgen und optische Medien waren Teil des Programms. Zum Repertoire des Berliner Kroll-Theaters zählten Schauexperimente und Opern. Dessen Vorhang diente zugleich als Werbeträger für Haushaltsgeräte.Das Theater sei zum Geschäft geworden, Friedrich Schillers „moralische Anstalt“ zu einem Spekulationsobjekt und Börsenphänomen verkommen, so eine seinerzeit häufig geführte Klage der Kultur- und Theaterkritik. Nach einer Phase zumeist kurzlebiger Spektakel-Betriebe beförderte die bürgerliche Bildungs- und Kunstbeflissenheit den Bau üppig ausstaffierter Musentempel.Selten aber dürfte dabei eine Phase des Auf- und Ausbaus so sehr auch als Zeit der kulturellen Krise und Regression empfunden worden sein wie die vor 100 Jahren. Eine ideologisch aufgeladene Debatte über Kultur- und Geschäftstheater, Traditionswahrung und Reizbefriedigung begleitete die Abkehr von der Ära des höfischen Theaters. Die Bauherrenverhältnisse hatten sich gravierend gewandelt. Der Privatbauherr oder die Bauherrengemeinschaft, die auf Aktienbasis oder als gemeinnützige Einrichtung entstand, trat in Erscheinung. Auch die Kommunen taten sich stärker als Auftraggeber hervor.Eine Handvoll Architekturbüros war auf die Projektierung von Theaterbauten spezialisiert. Unter ihnen die österreichischen Architekten Ferdinand Fellner (1847 – 1916) und Hermann Helmer (1849 – 1919) – bei beiden handelte es sich um Workaholics einer anspruchsvollen Theaterarchitektur, deren Tätigkeit sich über ganz Mittel- und Südosteuropa erstreckte. Unter ihren über 40 Opern- und Theaterbauten waren die Komische Oper in Berlin (1891/92) und das Schauspielhaus in Hamburg (1899/1900).Heinrich Seeling (1852 – 1932) – der produktivste deutsche Theaterarchitekt – entwarf unter anderem das wuchtige Opernhaus in Charlottenburg, das Theater am Schiffbauerdamm (1892) und das Berliner Ensemble als die spätere Brecht-Bühne. Erinnert sei an den Reformer Max Littmann (1862 – 1931), der erst das Hofbräuhaus baute und dann das egalisierende Raumkonzept des Bayreuther Festspielhauses ins Münchner Prinzregententheater (1900/01) übertrug, bevor er schließlich den Bau des Berliner Schiller-Theaters (1906) sowie der Hoftheater in Weimar (1906/07) und Stuttgart (1909 – 1912) besorgte.Flucht nach PalästinaUnd schließlich Oskar Kaufmann (1873 – 1956), der Berliner Architekt des Hebbel-Theaters (1906 – 08) und der Volksbühne am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz (1913/14). Kaufmann musste vor den Nazis nach Palästina fliehen, wo ihm das zwischen 1935 und 1945 errichtete Habimah-Theater in Tel Aviv zu verdanken ist.All diese Architekten haben zu einer Ablösung von der monarchisch organisierten Repräsentationsbühne beigetragen. Im Zentrum der Wahrnehmung lag nun nicht mehr die Fürstenloge – wie noch in Sempers Opernhaus in Dresden –, der Fokus verschob sich nicht zuletzt unter dem Einfluss von Richard Wagners Festspielhaus in Bayreuth auf das Parkett. Zwar wurde der Perspektivschacht – also der illusionistische Tiefenhorizont – einer flachen Reliefbühne weiterhin vorgezogen, doch brachte die konsequente Ausrichtung des Parketts auf die Szene eine soziale Enthierarchisierung mit sich.Tatsächlich aber hat sich die eigentliche Revolution des Theaters um 1900 auf dem diskreten Weg der Sicherheitstechnik vollzogen. Kein Richard Wagner oder Adolphe Appia, kein Naturalismus und Expressionismus haben die Theatererfahrung so nachhaltig zu prägen vermocht wie die Normierung der Sicherheitsvorgaben für den Theaterbau.Auslöser waren die beiden verheerenden Brandkatastrophen im Jahr 1881 in Nizza und am Wiener Ringtheater. Dem Feuer fielen mehrere hundert Menschen zum Opfer. Die Kulturbehörden in etlichen Staaten Europas sahen sich gezwungen, die Grundsätze zu überprüfen, nach denen Spielstätten bis dahin errichtet worden waren.Für das Deutsche Reich wurde eine 1889 in Preußen erlassene Polizeiverordnung maßgeblich, die bis ins Jahr 1969 Gültigkeit besaß. Sie legte Mindestmaße für alle Gebäudeteile fest, die Zuschauerzahl wurde begrenzt, die Beleuchtung elektrifiziert und die Zahl der Ränge reduziert. Bühnenturm und Eiserner Vorhang, das heißt eine strikte Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum, wurden an jedem Haus zur Pflicht. Feuerpolizeilich fand sich jene funktionalistische Baumassen-Gliederung festgeschrieben, die seit Karl Ferdinand Langhans beim Bau des Leipziger Neuen Theaters und Gottfried Sempers Arbeit am Wiener Burgtheater bereits architekturästhetisches Prinzip gewesen war.Durch die Trennung der Funktionsbereiche sollte ein Übergreifen der Flammen im Brandfall verhindert werden. Dies ließ Theaterbauten strukturell ähnlich erscheinen: Auf das Zuschauerhaus folgten die niedrigeren Treppenhäuser, dann das Bühnenhaus mit dem hoch aufragenden Bühnenturm, schließlich die vielen Bühnennebenräume, Künstlergarderoben, Werkstätten, Verwaltungsbüros und Magazine.In der Spielzeit 1912/13 sind Theaterbrände zwar nach wie vor häufig, die Bedrohung der Theater wird nun aber ganz woanders gesehen. Im Bühnen-Jahrbuch aus dem Jahr 1914 heißt es im Rückblick: „Die Tatsache, daß die bekannten Filmgesellschaften in unseren Großstädten immer neue Prachtbauten, die unsere Luxustheater an Eleganz und Bequemlichkeit vielfach übertreffen, errichten, spricht dafür, daß man in den Kreisen der Kinoindustrie an ein baldiges Abflauen der Bewegung nicht glaubt.“ Doch bestehe in der „Kinofrage“ Hoffnung für die deutschen Bühnenkünstler: „Immerhin sollten Meldungen aus New York, daß die dortigen Filmtheater ihr Repertoire neuerdings um Singspiele und Varieté-Nummern haben bereichern müssen, auch unseren Kinomagnaten zu denken geben.“