„Ich finde es nicht so verwunderlich, dass es in Ostdeutschland Frustrationen gibt. (…) Deshalb fragen die Leute jetzt: Wie lange soll es denn noch dauern? (...) Deswegen ist es heute insgesamt eine herausragende Aufgabe von Politik, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen.“, sagt nicht eine Oppositionspolitikerin, sondern die Kanzlerin im Januar der Wochenzeitung DIE ZEIT – als ob sie mit dem, was im Osten vor sich geht, nichts zu tun hätte. Und in der Tat hat sie als ostdeutsche Kanzlerin kein politisches Projekt vorzuweisen, was Ost und West näher zusammenführt. Im Gegenteil: Ihre Politik hat das Land, aber gerade auch die ostdeutsche Gesellschaft sozial, politisch und mental weiter auseinander getrieben. Dies findet seinen Ausdruck auch in einem gefährlichen Rechtsruck - ein Ergebnis der Politik von 14 Jahren Merkel. Zum Gesamtbild gehört zudem: Vor Merkel erreichten SPD und LINKE bei der Bundestagswahl 2005 im Osten über 55 Prozent. 12 Jahre später sind es nicht einmal 32 Prozent.
Vier zentrale Spaltungen der Gesellschaft vertieften sich in diesem Zeitraum: soziale Entsicherung, gesellschaftliche Entsolidarisierung sowie eine politische und kulturelle Entfremdung der Menschen untereinander. Über 40 Prozent der Bevölkerung haben Wohlstand seit den 1990er Jahren verloren. Abstiegsangst und soziale Unsicherheit haben sich bis in die Mitte gefressen. Ganz oben sprudeln die Kapitaleinkommen, unten bröckeln die Existenzen. Kulturell stehen sich diejenigen, die mit der Globalisierung und Digitalisierung Schritt halten, von ihr profitieren und sie befürworten und diejenigen, die bei diesen Prozessen auf der Strecke bleiben, immer unversöhnlicher gegenüber. Wie Paul Collier in seinem aktuellen Buch zeigt, vertiefen sich die kulturellen Gräben zwischen Hoch- und Geringqualifizierten und zwischen Metropolen und Provinzen zusehends. In der Folge haben wir es mit einem extremen Vertrauensverlust gegenüber der Politik, der Demokratie insgesamt zu tun. Ostdeutschland hat hier einen bitteren Erfahrungsvorsprung.
Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse
Hinzu kommt eine spezifische Anerkennungs- und Sicherheitskrise der ostdeutschen Gesellschaft. Kränkungen und Demütigungen aus der Treuhand- und Nachwendezeit sind bei vielen noch immer präsent. „Achtung, das Lob und die Würdigung des Geleisteten“ - diese Definition des Dudens von Anerkennung muss für viele Ostdeutsche wie Häme klingen. Zudem wurde die Umbruchzeit der 1990er Jahre nie angemessen aufgearbeitet. Wie Jana Hensel und Wolfgang Engler in ihrem Gesprächsband „Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ argumentieren, ist diese Zeit für die Wut und die Unzufriedenheit im Osten viel entscheidender als die DDR-Jahrzehnte. „Wir brauchen eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Verwerfungen und Verletzungen der Nachwendezeit“, fordert die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping in ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns!“. 30 Jahre Mauerfall und 30 Jahre Deutsche Einheit sollten eine gesellschaftliche Diskussion über die Schocktherapie der 1990er Jahre auslösen. 100:1 lautet die Privatisierungsquote, die das ganze Ausmaß unterstreicht: Die Treuhand hat in einem halben Jahr hundertmal mehr Betriebe privatisiert als die Thatcher-Regierung in Großbritannien in zehn Jahren (Marcus Böick). Hinzu kommen die spezifischen Benachteiligungen bei Lohn und Rente, die Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse ausweisen. In führenden Positionen in Politik und Gesellschaft sind Ostdeutsche selbst im Osten marginalisiert. Diese Anerkennungskrise der Ostdeutschen muss bearbeitet werden, aber die Probleme liegen deutlich tiefer. Es geht um eine Sicherheitskrise in mindestens dreifacher Hinsicht.
Dreifache Unsicherheit zerstört die Abwehrkräfte einer Gesellschaft
Wenn ein Drittel der Rentnerinnen und Rentner im Osten im Jahr 2030 tatsächlich in Altersarmut abrutschen sollte, wie derzeit prognostiziert, hätte dies unabsehbare Folgen. Eine Mehrheit hätte dann kaum eine auskömmliche Alterssicherung. Demokratie kann dieses Ausmaß an sozialer Unsicherheit auf Dauer nicht aushalten. Schon heute ist ein Drittel der ostdeutschen Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beschäftigt. Unsicherheit regiert dementsprechend nicht erst im Alter. Ein Mindestlohn von 12 Euro ist auch aus dem Grund im ganzen Land überfällig. Es ist aber nicht nur die soziale Unsicherheit, sondern auch die zunehmende Kluft zwischen Stadt und Land, die den Menschen in der Provinz die Kontrolle über ihr Leben nimmt und Unsicherheit produziert. Der Staat hat sich seit Jahren aus der Fläche zurückgezogen und der Osten ist bis auf wenige Ausnahmen durch den ländlichen Raum, nicht durch Metropolen geprägt. Umso verrückter ist der Vorschlag des Wirtschaftsinstituts aus Halle, ländliche Regionen im Osten (noch weiter) aufzugeben. Wer politisches Vertrauen schaffen will, braucht nicht die Abkehr aus den Regionen, sondern die Rückkehr des Staates in die Fläche. Deren Rückzug ist ein Signum der heutigen Wirtschaftsordnung, die nicht mehr sozial ist und in dem der Staat kaum noch eine Rolle spielt.
Rückzug des Staates
Bis in die 1980er Jahre näherten sich Stadt und Land in den westlichen Gesellschaften an, wie Collier zeigt. Trump, Brexit und die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich sind ohne diesen Konflikt zwischen abgehängte Provinzen und Metropolen gar nicht zu verstehen – in die eine wie die andere Richtung. Wer den Rechtsruck zurückdrängen will, muss den ländlichen Raum und die Menschen dort stärken. Das gilt für Ost wie West, wo die Probleme mit abgenutzter Infrastruktur und Strukturwandel ebenfalls zum Himmel schreien. Das heißt, mehr Ärzte und Gesundheitspersonal, mehr Nahverkehr und Mobilität, Ausbau des öffentlichen Eigentums, kein Ausverkauf von Ackerland, mehr Daseinsvorsorge und Glasfaser, mehr Nachfrage vor Ort durch höhere Renten und (Mindest-)Löhne und mehr Strukturförderung, die viel effektiver ist, wenn der Staat stark ist. Stark ist schon heute so manches Unternehmen in der Fläche - häufig Zulieferer westdeutscher Konzerne. Fläche bedeutet oft Technologieführer. Die Rückkehr des Staates ist auch notwendig für die Demokratie: Nur dann gibt es wieder mehr zu entscheiden, nicht zuletzt in den Kommunen. Politik muss auf allen Ebenen Entscheidungs- und Gestaltungsmacht zurückgewinnen, um Menschen zurückzugewinnen.
Zu einer Politik der Sicherheit gehört auch die Innere Sicherheit, u.a. mehr Polizei. Denn eine „verbesserte innere Sicherheit ermöglicht den Menschen, den rasanten Wandel der Gesellschaft anzunehmen“ (Marc Saxer) statt zusätzliche Unsicherheit zu schüren. Es geht dabei nicht um „law and order“, sondern um Mindeststrukturen der inneren Sicherheit, die es vielerorts aufgrund der Einsparpolitik nicht mehr gibt. Wir erleben im gesamten Land, wie innere Sicherheit zunehmend zur sozialen Frage wird. Sicherheit und Halt sind entscheidend: Um den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, muss Politik wieder dafür kämpfen, den Menschen Sicherheit und Kontrolle über ihr Leben zurückzugeben.
Milieuproblem – ein Ansatz, der Brücken baut
Nicht erst mit dem Flüchtlingsthema ist ein Auseinanderdriften unserer (potenziellen) Wählerschaft festzustellen. Eine neue Konfliktlinie zwischen kommunitaristischen und kosmopolitischen Einstellungen durchzieht auch das linke Lager. Bei der Bundestagswahl haben wir nicht den Osten, sondern bundesweit in schwächeren Milieus verloren, die im Osten mehr Menschen umfassen. Derzeit verbindet DIE LINKE nicht Milieus, sondern wir verlieren bundesweit tendenziell bei Wählern im links-kommunitaristischen Lager, die einkommensschwächer, älter, politikverdrossen, formal schlechter gebildet, traditionelle Vorstellungen haben und nicht aus den Metropolen kommen. Wir haben weniger eine Ostschwäche als ein gefährliches Milieuproblem.
Wenn wir im Osten wieder stärker werden wollen, müssen wir dieser Entwicklung entgegentreten. DIE LINKE hat nicht die Kraft, sozial-kulturelle Konfliktlinien zu verschieben. Aber es ist eine Frage linker Strategie, sich so auszurichten, möglichst viele Menschen auf beiden Seiten der beschriebenen Konfliktlinie zu erreichen. Dabei sollte die Devise gelten, vor allem um die Schwächsten und vom sozialen Abstieg Bedrohten zu kämpfen.
Mindestlohn, höhere Steuern für Reiche, Renten frei von Armut, ein Stopp von Rüstungsexporten. Eine Mehrheit der Gesellschaft unterstützt uns in diesen Zielen. Wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Tim Wu aufzeigt, existieren die beschriebenen gesellschaftlichen Spaltungen, aber wir begehen einen Fehler, wenn wir uns davon den Blick auf das verstellen lassen, was über die Spaltungen hinweg mehrheitsfähig ist. DIE LINKE hat da einiges zu bieten. Um daraus Erfolge zu machen, ist es aber nötig, die Wählerinnen und Wähler mit anderen Augen zu betrachten. Es ist nicht unsere vordringliche Aufgabe die Haltung der Menschen zu messen, sondern ihnen Vorschläge für ihren sozialen Halt zu geben.
Sozialstaatsdialog statt Zerfall der Gesellschaft
Das Thema Rente sollte bundesweit und gerade im Osten zu einem Schwerpunkt unserer Politik werden, weil es milieu- und generationenübergreifend mobilisieren kann und weil es das soziale Problem schlicht erfordert. Laut OECD sorgen sich 76 Prozent der Deutschen um ihre Absicherung im Alter. Jede Partei spricht zwar über die Rente - über (zu) hohe Beiträge, (zu) niedrige Renten, über die Alten oder die Jungen. Aber es sollte zu unserem Markenkern werden, die Partei zu sein, die dafür kämpft, den Menschen die Angst vorm Abstieg im Alter zu nehmen. Ein konkretes Beispiel aus dem Osten: Im Jahr 2025 sollen die Ostrenten an das Westniveau angeglichen werden. Gleichzeitig fällt bis 2025 die Umrechnung der strukturell geringeren Ostlöhne weg, die nach wie vor mehr als 20 Prozent unter dem Westniveau liegen. Unterm Strich wird diese Reform mehr Ostdeutschen schaden als nützen. Der Grund ist: Die Rentenungleichheit, die ausgeglichen wird, ist geringer als die Lohnungleichheit, die nicht mehr ausgeglichen wird. Bislang wird die Lohnlücke von 20 Prozent durch die Umrechnung um etwa die Hälfte ausgeglichen. Wenn dies wegfällt, ist das eine Rentenkürzung für alle, die heute im Osten arbeiten. Das trifft eine ostdeutsche Arbeitnehmergeneration, die seit der Wende mit Niedriglohn und prekären Jobs zu kämpfen hat, besonders hart. Die Bundesregierung organisiert geradezu eine künftige Generation Altersarmut Ost. Schon heute erhalten bundesweit 48 Prozent der Rentnerinnen und Rentner, also 8,6 Millionen Menschen, eine gesetzliche Rente unterhalb von 800 Euro ausgezahlt (62 Prozent, 11,3 Millionen Menschen, liegen unter 1000 Euro). Die Zahlen zeigen: Die Rente muss bundesweit Top-Thema werden.
Eine soziale Wende gibt es nur mit einer sozialen Bundesregierung
Wir haben seit 2009 elf Prozent im Osten verloren. Diese Entwicklung darf nicht nur nicht weiter gehen, sondern wir müssen verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Wer uns schon einmal gewählt hat, bleibt meist erreichbar für uns. Dafür gehören die Themen Anerkennung und Sicherheit zusammen: Wir sollten den Osten keineswegs identitätspolitisch auf Anerkennungsfragen reduzieren oder als Problem der Regionalpolitik verkürzen. Beides tun andere Parteien noch immer mit Versprechen, die sie nie gehalten haben. Der Osten ist vor allem eine soziale Frage, für deren Lösung es letztlich eine andere Bundesregierung und einen Politikwechsel in Deutschland braucht. Es geht um die Wiederherstellung des Sozialstaates als Bollwerk gegen die Fliehkräfte des globalen Finanzkapitalismus. Davon würde der Osten aufgrund der heutigen und für die nächsten Jahre prognostizierten Situation besonders profitieren und gleichzeitig könnten wir bundesweit wieder Anerkennung bei denen finden, denen es nicht gut geht.
Wählerpotenzial von 30 Prozent
Wir haben bei der Bundestagswahl 2009 im Osten nicht sensationelle 28 Prozent durch die Schärfung unseres Ostprofils geholt. Sondern weil Aufbruch und Protest gleichermaßen stark bundesweit mit uns verbunden waren. Auch Bodo Ramelow wurde nicht Ministerpräsident aufgrund seines Ostprofils, sondern auch weil er eine glaubhafte Machtperspektive vermittelte, für Thüringen einen Unterschied zu machen und genau diese Ambitionen eben lange zuvor zum Ausdruck gebracht hatte. Der Wille und die Perspektive zur Veränderung machen attraktiv. Es muss uns darum gehen, bei der nächsten Bundestagswahl im Osten wieder ein deutlich höheres Niveau zu erreichen. Unser Wählerpotenzial liegt im Osten bei rund 30 Prozent. Wir müssen versuchen, es auszuschöpfen - mit der Hoffnung und Zielsetzung, eine Regierung zu bilden, die eine soziale Wende in Ost und West einleitet.
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