Die Jugend von Gestern

Spurensuche Der britische Journalist Jon Savage geht der Erfindung des Teenagers in den Laboren der US-amerikanischen Traumökonomie nach

Die Jugend" ist noch gar nicht so alt. Früher gab es sie in der heutigen Form überhaupt nicht. Ludwig XIII. musste sich schon an seinem fünften Geburtstag im Jahre 1615 sagen lassen: "Monsieur, nun wurde die Knabenkappe von Euch genommen, Ihr seid jetzt kein Kind mehr; jetzt fangt ihr an, ein Mann zu werden". Noch bis zum 19. Jahrhundert trugen Jugendliche selbstverständlich Erwachsenenkleidung und kannten auch die Berufskrankheit "Pubertät" nicht. Erst die Aufklärer entwickelten ein Gespür für diese Übergangszeit. "Stimmungswechsel, häufige Zornesausbrüche, ununterbrochene geistige Erregung" attestierte Jean-Jacques Rousseau den Jungspunden in seinem Werk Emile.

Jon Savage zitiert die Diagnose in seinem Buch Teenage, setzt mit seiner Geschichtsschreibung jedoch später ein. Die Erfindung der Jugend, so heißt sein Werk im Untertitel, datiert der Autor, der früher unter anderem für den New Musical Express schrieb und mit England´s Dreaming (Freitag 30/2002) eine Geschichte des Punk verfasste, auf den Zeitraum von 1875 bis 1945. In dieser Periode haben sich für den Autor parallel zum Massenzeitalter mit seinem vom Konsum getriebenen Wirtschaftsmodell die Grundzüge des "Teenage" herausgebildet.

Den ersten Vorschein einer Überflussgesellschaft erblickt Savage in der Chicagoer Weltausstellung von 1893. Zehn Kilometer von dem Viertel entfernt, das den Ruf der Stadt als "Schlachthaus der Nation" begründete, entstand eine "kommerzielle Traumlandschaft". Die leuchtend-weiße, im Renaissance-Stil erbaute "Dream City" bot auf einer Fläche von 268 Hektar Platz für 50.000 Aussteller und schuf das passende Ambiente dafür, dass der neueste Pullman Car, die erste elektrische Hochbahn, Schweizer Uhren, Schmuck von Tiffany´s und Seidenstoffe aus Frankreich den Fetischcharakter der Waren voll entfalten konnten.

Von hier nahm für Savage die US-amerikanische "Traumökonomie" ihren Ausgang, die "Trieben und Visionen physische, ja warenförmige Gestalt" verlieh. Sie befeuerte die Unterhaltungsindustrie ebenso wie das produzierende Gewerbe und fand in dem Halbwüchsigen den idealen Gesamtkonsumenten.

Einen rechten Begriff von ihnen hatte die Gesellschaft allerdings noch nicht. Den lieferte ihr der Psychologe G. Stanley Hall. Hatte der Mitbegründer des "Child Study Movement" auf der Weltausstellung noch seine Erkenntnisse zum kindlichen Verhalten präsentiert, so brach er bald darauf ins unbekannte Land der Heranwachsenden auf und entdeckte die "Adoleszenz". Und in wissenschaftlichem Überschwang machte er diese Reifephase nicht nur bei seinen jungen Forschungsobjekten fest, sondern gleich bei der ganzen Nation: "Wir hungern nach einem Maximum an Leben. Wir wollen es in all seiner Tiefe und Breite, jetzt und für immer."

Dieser Hunger fand zunehmend Nahrung. Die Traumfabrik nahm ihre Arbeit auf und die Realwirtschaft bestückte die Schaufenster der Läden mit Phantasmagorien. Musikrichtungen wie Ragtime, Dixieland und Swing entstanden und bildeten subkulturelle Stile aus. "Die goldene Zeit, in der das Rhythmusgefühl entsteht", wie Hall schrieb, konnte mit dem Bunny Hug, dem Grizzly Bear, dem Kangaroo Dip und anderen Tänzen gefüllt werden und hatte auch genug Muße dazu, weil die High School für immer mehr Teenager die Jugend verlängerte. Auch das alte Europa wurde jünger. In England formierten sich die "Bright Young People", die "Neopagans", in Deutschland die Wandervögel.

Die Gesellschaft wirklich prägen konnten die jungen Leuten aber noch nicht. Das hedonistische "Teenage Wildlife" mit seinem Hang zu zivilisationsferner Ekstase erschien nicht wenigen Älteren als ein Beitrag zum Untergang des Abendlandes und rief Savage zufolge eine Domestizierungspädagogik auf den Plan. Diese reichte von körperlicher Ertüchtigung in der Schule über die mehr oder weniger paramilitärischen Pfadfinder Baden Powells bis hin zu den wirklichen Armeen, denn die Jugend war kriegswichtig. "Leicht trennt sich nur die Jugend vom Leben", befand 1883 der spätere Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz in seinem Buch Volk in Waffen.

Deshalb blieben jugendfrische historische Phasen lange Zeit auf relativ kurze Perioden beschränkt, und bevor es so richtig los geht, hört Teenage frustrierenderweise auf. "Dieses Buch endet mit einem Anfang", warnt Savage bereits im ersten Satz. Das Happy End, das nach 1945 einsetzt, hält für ihn offensichtlich keinen Erkenntnisgewinn mehr bereit. Hatte es nach Kriegen, in denen die Jugend generell den höchsten Blutzoll entrichtete, stets größere Freiräume gegeben, so sollte es nun für immer sein: Die Teenager hatten ihre Mission als Avantgarde der Konsumenten-Demokratie erfüllt. "Ihr seid jetzt die Bosse im Business", versicherte ihnen die Zeitschrift Seventeen. Das Coca-Cola-Logo ersetzte laut Savage die Hakenkreuze und demonstrierte damit ein für alle Mal die Überlegenheit einer Massengesellschaft, die über die Kaufkraft sozialen Einschluss gewährt.

Als Pop-Journalist konstatiert Savage das pflichtgemäß neutral bis wohlwollend. Die Jugendkultur ist seiner Ansicht nach auf Gedeih und Verderb mit dem Schicksal der Wohlstandsgesellschaft verknüpft, weshalb sich der Konsumkritiker in ihm kaum einmal meldet. Wenn er etwa Elizabeth Stevenson zitiert, die angesichts der Traumökonomie vor einer Verdinglichung des Unterbewusstseins warnt oder George Orwell, für den Fish-and-Chips, kunstseidene Strümpfe, Kino und Fußball-Toto die Revolution verhindert haben, so enthält er sich jeglichen Kommentars. Dabei wirkt seine Engführung von Überflussgesellschaft und jugendlichem Überschwang nicht immer überzeugend. Schließlich gab es für Savages Zielgruppe auch schon ein Leben vor der Music-Box und dem Kintopp. Die weit hinter 1875 zurückgehenden Geschichten der Boheme, der Generationenkonflikte, der Studenten und der Revolutionen sind voller Beispiele dafür.

Es passierte aber nicht nur vor Savages´ Vorgeschichte so einiges, sondern auch danach. 1968 zum Beispiel hätte Teenage zufolge eigentlich gar nicht hätte passieren dürfen, denn als neue herrschende Klasse hätte die Jugend damals eigentlich nicht auf die Barrikaden gehen müssen. Nach seiner Logik könnte der Autor die Proteste der Studierenden höchstens als kleinen Unfall im Paradies verbuchen. Zudem ist gar nicht ausgemacht, ob das Teenage den Zeitläuften wirklich standhält.

Der Jugendliche, so wie Savage ihn kennt, kommt nämlich in die Jahre. In einer sich altersübergreifend jugendlich gebenden Gesellschaft hat er kein Alleinstellungsmerkmal mehr, und sein kultureller Überbau, die Popkultur, droht ebenfalls durch Überdehnung zu sterben. Zudem gerät sein Biotop, die Ausbildungszeit, deren Länge Hall einst als "Gradmesser für den Stand der Zivilisation" bezeichnet hatte, durch die Verkürzung der Schul- und Studienzeiten zunehmend in Bedrängnis. Aber der Teenager dürfte wohl überleben, und über seine mittlere Frühgeschichte hat Jon Savage trotz aller Einwände eine materialreiche und viele interessante Archivalien bereithaltende Studie geschrieben.

Jon Savage Die Erfindung der Jugend (1875-1945). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Campus, Frankfurt-New York 2008, 522 S., 29,90 EUR

Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden