Der Freitag: Herr Klare, wie viel sind Sie wert?
Jörn Klare:
1.129.381,21 Euro.
Gar nicht so wenig. Wie sind Sie auf die Zahl gekommen?
Ich habe recherchiert, mit welchen verschiedenen Methoden heute der Wert von Menschen berechnet wird. Am Ende habe ich alle halbwegs stichhaltigen Methoden genommen, jeweils meinen individuellen Wert ausgerechnet und aus den Ergebnissen den Mittelwert gebildet.
Wie sind Sie auf die Idee zu dieser Recherche gekommen?
Ausgangspunkt war, dass ich als Journalist vor Jahren eine Geschichte zum Kinderhandel gemacht habe. Da ging es um ganz konkrete Summen. Ein Mädchen in Albanien erzählte mir: ‚Meine Schwester wurde für 800 Euro verkauft.‘ Eines Tages saß ich dann in der Berliner U-Bahn und zwei Männer unterhielten sich über einen Mordfall. Der eine sagte, für 100 Euro begehe man doch keinen Mord. Der andere meinte, 10.000 Euro müssten es mindestens sein. Ich ertappte mich, wie ich mitüberlegte, wie viel ein Menschenleben wert ist.
Ich bin kein Volkswirtschaftler. Deswegen hatte ich mir überlegt, je naiver und direkter ich es angehe, desto besser kann ich diese komplexen Rechnungen verstehen. Jedes Gespräch habe ich mit der Frage begonnen: ‚Was glauben Sie, was ich wert bin?‘
Damit lassen Sie sich aber auf die Logik des Menschenwertberechnens ein.
Ja, um dieses Denken zu verstehen, wollte ich mit möglichst wenigen Vorbehalten in die Gespräche gehen. Was auch gefährlich sein kann, denn die Logik der Mathematiker und Ökonomen ist verführerisch. In diesen Rechnungen ist alles stimmig. Man muss einen Schritt zurücktreten, um zu verstehen, was das Problem daran ist.
Es ist sehr unangenehm, wenn man tatsächlich eine genaue Summe für sich genannt bekommt. Dann fragt man sich sofort: So wenig? Bin ich nicht mehr wert? Wie könnte ich teurer werden?
Sie beschreiben, dass diese Menschenwertberechnungen in vielen Bereichen zunehmen.
Mich hat überrascht, wieviel gerechnet wird. Nicht nur bei Versicherungen, die eine Auszahlungssumme für die Lebensversicherungen festlegen. Es gibt eine Tendenz, mehr und mehr Probleme – etwa die Finanzierung des Gesundheitswesens – mit Menschenwertberechnungen zu lösen. Wenn man eine Zahl hat, ist alles schön einfach. Dann kann man abwägen: Können wir uns dies und jenes leisten? An den Rand gedrängt werden die viel schwierigeren ethischen und politischen Fragen: Darf man das überhaupt? Oder: Wie könnte eine gerechte Verteilung aussehen?
Sie haben aber auch Ethik-Experten getroffen, die nicht von vornherein sagen: Man darf den Wert eines Menschen auf keinen Fall berechnen.
Die entscheidende Frage ist: Wer berechnet wen? Der Staat hat nicht das Recht, den Wert eines Menschen zu berechnen und dann zu kalkulieren, ob es sich lohnt, in dieses Leben zu investieren. Das Leben ist ein Rechtsgut, das der Staat auf jeden Fall schützen muss. Wenn ich als Privatperson hingegen sage, bei einer Entführung würde ich für meine Tochter mein ganzes Geld und noch viel mehr geben, aber für jemanden Fremdes würde ich das nicht tun, dann ist diese Überlegung – so wurde mir erklärt – durchaus ethisch legitim.
Wie wird der Wert eines Menschen denn genau berechnet?
Es gibt zwei Hauptlinien. Die eine ist der Humankapitalansatz: Was wird dieser Mensch im Laufe seines Lebens noch verdienen – das entspricht dann seinem Wert. Ein Investmentbanker hat hier also den vielfachen Wert einer Supermarktverkäuferin.
Und der andere Ansatz?
Das ist der Wert eines statistischen Lebens. Diese Modell beruht darauf, dass man Menschen zum Beispiel sagt: ‚Wenn du in dieses Auto steigst, ist dein Risiko zu sterben 1 zu 1.000. Was bist du bereit zu zahlen, um dieses Risiko auszuschließen?‘ Dann werden die Zahlen gesammelt und in Bezug zu dem genannten Risiko verrechnet. In Deutschland liegt der Wert eines statistischen Lebens zurzeit bei etwa zwei Millionen Euro.
Klingt ziemlich kompliziert.
Ja, und ist auch ein hanebüchener Umweg. Man könnte auch einfach direkt fragen: Was ist dir dein Leben wert?
In den USA wird mit dem Wert eines statistischen Lebens unter anderem entschieden, ob das Aufstellen einer Ampel so viele Menschenleben rettet, dass sich die Investition lohnt.
All diese Berechnungen laufen immer auf eine Kosten-Nutzen-Abwägung hinaus. In Deutschland wird das auch gemacht. Die Bundesanstalt für das Straßenwesen rechnet mit einer Summe von 1,2 Millionen Euro, die der Volkswirtschaft durch einen Verkehrstoten verloren gehen, weil er nicht mehr zum Bruttoinlandsprodukt beitragen kann. Die Summe wird benutzt, wenn es darum geht, Sicherheitsmaßnahmen zu begründen oder abzulehnen.
Für manche Entscheidungen wird aber auch mit einzelnen Lebensjahren kalkuliert.
Ja, das Umweltbundesamt rechnet zum Beispiel aus, wieviele Menschen durch Luftfilter in Industrieschornsteinen länger leben könnten, weil sie nicht an chronischen Atemkrankheiten sterben. Man geht da von einer Zahl zwischen 50.000 und 75.000 Euro aus, die ein verlorenes Lebensjahr wert wäre.
Das klingt alles sehr zynisch.
Das ist es auch. Es gab mal einen Bericht des Weltklimarates, in dem in einer Fußnote stand, dass der Wert eines statistischen Lebens bei einem Bewohner der Industriestaaten fünfzehn Mal so hoch ist wie bei einem Bangladeshi, der ja viel weniger zahlen könnte, um sein Todesrisiko zu minimieren. Ich habe einen Ökonomen, der ein Verfechter dieser Rechenmodelle ist, darauf angesprochen. Er sagte: ‚Ja, das ist zynisch. Ist aber richtig gerechnet.‘ Da war ich sprachlos.
Ein indischer Freund hat Ihren Wert aber ganz ohne Formeln bestimmt.
Er ist in einem indischen Slum aufgewachsen. Ihm kam die Vorstellung, den monetären Wert eines Menschen zu bestimmen, bei weitem nicht so abwegig vor, wie vielen meiner deutschen Freunde, die ich auch gefragt hatte. Er peilte über den Daumen, was ich kann, wie alt ich bin und schätze meinen Wert dann auf 600.000 Euro. Offenbar ist mein Marktwert doch sehr schwankend.
Das Gespräch führte Jan Pfaff
Jörn Klare, geboren 1965, lebt als Journalist in Berlin. Er schreibt Reportagen und Features, unter anderem für den Deutschlandfunk. Sein Buch Was bin ich wert? Eine Preisermittlung ist Ende Mai bei Suhrkamp erschienen.
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