Der Buchmarkt reagiert in diesem Herbst auf die weltpolitische Lage mit einer Welle von Russland-Büchern. Kaum ein Verlag verzichtet auf einen Titel, der versucht, das Land und seine Mächtigen zu erklären. Aus der Masse sticht Peter Pomerantsevs Nichts ist wahr und alles ist möglich (DVA) wegen des ungewöhnlichen Zugangs heraus. Pomerantsev arbeitete in den nuller Jahren als russischstämmiger Brite in Moskau für russische Fernsehsender. Er drehte Doku-Formate und Reality-Shows. Die russische Gesellschaft und Medienwelt beschreibt er in einer Mischung aus persönlichem Erlebnisbericht, Reportage und Analyse. Ein Einblick, der hilft, auch das Russland des Jahres 2015 besser zu verstehen.
der Freitag: Herr Pomerantsev, Sie sind Anfang der nuller Jahre nac
erantsev, Sie sind Anfang der nuller Jahre nach Russland gezogen, das zu dieser Zeit einen großen Öl-Boom erlebte. Wie haben Sie das Land wahrgenommen?Peter Pomerantsev: Ich fand es wahnsinnig aufregend. Es war eine Aufbruchsphase, vieles war in Bewegung. Vielleicht kann man es am besten mit New York in den Roaring Twenties vergleichen. Eine Unmenge Geld strömte ins Land. Hinzu kam, dass die Gesellschaft in kürzester Abfolge viele politische und soziale Umbrüche erlebt hatte: Glasnost und Perestroika, die Herrschaft der Gangster Anfang der 90er, eine Oligarchie ab 1996, den Finanzcrash 1998/99, dann der Boom. Diese Erfahrungen und das schnelle Geld führten zu einem Gefühl, alles sei unwirklich, das ganze Leben ein nicht endender Maskenball – Kommunismus, Kapitalismus, ganz egal, alles nur ein großes Spiel.Von dem Boom profitierten aber doch nur wenige.Natürlich hatten viele ländliche Gegenden nichts von den großen Öl- und Gasgeschäften. Aber Millionenstädte wie Kasan oder Jekaterinburg boomten damals ebenso wie Moskau. Es entstand eine russische Mittelklasse. Leute konnten sich erstmals ein ausländisches Auto kaufen, einen Urlaub in der Türkei leisten. Aber sie hatten auch dieses Gefühl des Unwirklichen.In Ihrem Buch treten bestimmte Typen auf: Golddigger-Frauen, Goldgräberinnen, deren Ziel es ist, Geliebte eines Superreichen zu werden. Die Multimillionäre, die „Forbeses“ heißen und sich an Orten der Stadt treffen, die für Normalsterbliche unzugänglich sind. Und Sie erzählen von einem Ex-Gangster, der selbst Gangsterfilme dreht, weil ihm die existierenden zu unrealistisch waren.Ich versuche soziale Archetypen der Zeit zu beschreiben. Die Prostituierte und der Gangster waren Archetypen des Russlands der 90er, der Jelzin-Jahre, in denen sich viele nahmen, was sie kriegen konnten. Die ersten TV-Serien handelten von Prostituierten und Gangstern. Dann entwickelten sich diese Archetypen weiter, sie bekamen ein selbstreflexives Bewusstsein. Da gibt es die Golddigger-Frau, die genau ihre Strategien analysiert und Puschkin auswendig lernt, weil ihr neuer Liebhaber sich für Literatur interessiert. Der Gangster-Regisseur beschäftigt sich mit dem medialen Bild seines Berufs.Die Golddigger-Szene scheint fest etabliert. Es gibt klare Regeln, man kann eine Schule besuchen, in der man lernt, sich einen Millionär zu angeln – und die Frauen wissen, was die marktüblichen Preise für eine Geliebte sind. Zum Beispiel eine Wohnung, ein Auto, 4.000 US-Dollar im Monat sowie zweimal im Jahr Urlaub.Die nuller Jahre versuchten, das Verrückte und Wilde der 90er zu rationalisieren und in festere Bahnen zu überführen. Daher auch die festen Preise. Die Rationalisierung lässt es aber mitunter umso verrückter erscheinen.Placeholder infobox-1Alle spielten nur Theater, niemand glaube an das, was er öffentlich sage – diese Einstellung schließe auch an Erfahrungen der Sowjetzeit an, betonen Sie.Gegen Ende der Sowjetunion haben die meisten nur noch so getan, als ob sie an den Kommunismus glaubten. Insofern existierte schon in den 80ern eine Gesellschaft, in der Menschen es gewohnt waren, mit einem geteilten Bewusstsein zu leben. Was man öffentlich sagte, hatte meist nichts mit dem zu tun, was man dachte. Politik wurde deshalb nur als eine Form von Theater wahrgenommen, in dem es darum gehe, anderen etwas vorzuspielen, ohne dass irgendeiner an die Inhalte glaubte. Vielen Menschen erschien die Demokratie der 90er unter Jelzin dann als genauso großer Fake wie der Kommunismus. Und die heute in Russland herrschende nationalistische, christlich-orthodoxe Stimmung sehen sie als ein weiteres Stück in diesem Theater.Welche Konsequenzen hat das?Es führt zu einer zynischen Grundhaltung. Und dieser Zynismus macht die Menschen passiv. Deshalb haben viele Russen, auch abseits der staatlichen Propaganda, mit Unverständnis auf die Maidan-Proteste reagiert. „Warum versuchen die etwas zu ändern? Das wird sowieso nicht funktionieren.“ Es ist eine negative Ideologie, die im Kern an gar nichts glaubt. Der Kreml versucht das zu nutzen, es bereitet ihm aber auch Probleme.Zum Beispiel?Es fällt der Regierung schwer, größere Pro-Putin-Kundgebungen zu organisieren. Putin hat in Umfragen über 85 Prozent Zustimmung, aber zu einer Kundgebung müssen Leute mit Bussen rangekarrt oder dafür bezahlt werden, während die Opposition, so schwach sie ist, 100.000 Menschen auf die Straße bringen kann wie 2011 und 2012.Sie beschreiben auch eine bestimmte Figur des Strippenziehers, den Polittechnologen. Da porträtieren Sie Wladislaw Surkow, der vielen Beobachtern als Chefideologe des Kreml gilt.Den Polittechnologen könnte man als eine Mutation des Propagandisten der Sowjetzeit beschreiben. Er kümmert sich um die weichen Felder der russischen Politik, die Software: die politische Debatte, die Kultur, die Medien, die NGOs. Wladislaw Surkow arbeitet seit 1999 im engeren Machtkreis Putins. Welche Bedeutung er hat, kann man allein schon daran erkennen, dass er der einzige Nichtmilitär ist, der bei allen Ukraine-Meetings im Kreml dabei ist. Zugleich ist er eine schillernde Figur.Er hat eine bewegte Geschichte.Ja, er hat Metallurgie und Wirtschaftswissenschaften studiert, aber auch Theaterregie. Dann hat er für Michail Chodorkowski PR gemacht, für eine Bank gearbeitet, später war er Teil von Putins Wahlkampfteam. Als Polittechnologe im Kreml hat er Pseudo-Parteien geschaffen, deren Aufgabe es ist, möglichst links oder rechts zu sein, sodass Putin wie der vernünftige Mann der Mitte wirkt. Surkow hat die Jugendbewegung Naschi erfunden, und er traf jede Woche die Chefs der staatlichen Fernsehsender, um ihnen die Agenda vorzugeben.Und er hat Kunstsinn ...Unter einem Pseudonym hat er einen zynischen Roman über das gegenwärtige Russland geschrieben, der von einem korrupten PR-Mann handelt, der für jeden arbeitet, der ihm genug zahlt. Und er beschwört gern die großen postmodernen Essays, die jüngst ins Russische übersetzt wurden – das Versagen der großen Erzählungen, die Unmöglichkeit von Wahrheit, dass alles bloß Simulakrum sei. Nur um im nächsten Moment zu sagen, wie sehr er Relativismus verabscheut. Widersprüche sind im neuen Russland kein Problem.Welche Rolle spielt das Fernsehen in dieser Welt?Es ist das entscheidende Medium. Allein wegen der Größe des Landes mit seinen sieben Zeitzonen – Fernsehen ist das Bindeglied, das alles zusammenhält. Putin hat das von Anfang an erkannt. Als er 1999/2000 an die Macht kam, sicherte er sich als Allererstes die Kontrolle über die Sender.Wie zeigt sich das konkret?Der Kreml hat es geschafft, praktisch jedes Genre in seinem Sinne zu nutzen. Sitcoms, Spielfilme, Talkshows. Es gibt aber keine unabhängige Nachrichtenagentur, die Nachrichten aus dem Lokalen liefert, Berichte über Gerichtsprozesse und so, also die grundlegende Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Als ich als TV-Produzent in Moskau gearbeitet habe, wurde mir von den Entscheidern in meinem Sender immer wieder gesagt: „Die Menschen wollen keine Realität sehen. Sie wollen sich damit nicht auseinandersetzen.“Woher kommt das Desinteresse?Psychologisch ist die Beschäftigung mit der Wirklichkeit erst mal anstrengend, die Fragen sind kompliziert, es gibt keine einfachen Ja-oder-nein-Antworten. Hinzu kommt der politische Imperativ: Der Kreml will nicht, dass die Bürger sich mit der Wirklichkeit beschäftigen. Die Fernsehnachrichten, die gezeigt werden, sind deshalb nicht wirklich Nachrichten. Es geht darum, ein Drama zu inszenieren. Also gibt es das Drama in der Ukraine, wo Faschisten mithilfe der bösen Amerikaner das Land ins Chaos stürzen. Es gibt das Drama im Nahen Osten, den nur Putin vor dem Kollaps retten kann. Und die Inlandsgeschichten zeigen Putin, wie er Eishockey spielt oder Raubkatzen streichelt.Mit der Wirklichkeit wollen sich viele Zuschauer im Westen auch lieber nicht beschäftigen.Das stimmt. Wir sehen diese Tendenz genauso im Westen. Wenn Sie sich Fox News in den USA anschauen, hat das mit Nachrichten nicht viel zu tun. Als ein Berater des damaligen Präsidenten George W. Bush sagte, das Weiße Haus brauche sich um die Wirklichkeit nicht zu kümmern, es könne seine eigene schaffen, gab es aber zumindest einen Aufschrei und viel Kritik. Das zeigt, dass es noch ein grundlegendes Verständnis gibt, dass man sich mit der Realität auseinandersetzen sollte. Und dass Medien da eine wichtige Rolle spielen. Aber dieses Verständnis ist auch im Westen gefährdet.Russland und der Westen ähneln sich also an diesem Punkt?Es gibt einen qualitativen Unterschied. Man kann aber sagen, und das ist nicht nur in diesem Fall so: In Russland lässt sich eine extreme Version der Tendenzen sehen, die wir auch hier im Westen beobachten können. Das ist ein Motiv, das sich durch mein Buch zieht. Die Probleme, die ich in Russland gesehen habe, schienen mir eher eine radikalisierte Version unserer Entwicklungen zu sein als ein gesellschaftlicher Gegenentwurf zum Westen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.