Auf der Höhe der Zeit

Eventkritik Sahra Wagenknecht hat in einer Friedhofskapelle in Berlin ihr neues Buch vorgestellt. Die Vorzeige-Marxistin gab sich pragmatisch, von der Revolution träumten die Zuhörer

Wie klingt eigentlich die Krise? An diesem Sonntagabend hört sie sich an wie Fahrstuhlmusik, Gedudel mit abfallender Tonfolge. Ein Beamer projiziert Aktienkurven von Lehman Brothers, General Motors und der Bank of America auf eine Leinwand, ein junger Mann mit verstrubbeltem Haar beugt sich über seinen Laptop. „Eigentlich bin ich Komponist, aber ich wollte mich einmal zur aktuellen Lage äußern“, sagt er. Mit einer Software hat er die Kursentwicklungen in Tonfolgen übersetzt. Die Melodien enden meist mit sehr tiefen Tönen. Die Kurse sind bekanntlich im Keller.

Die fünfminütige Performance ist aber nur so etwas wie der Auftritt der Vorband bei einem Rockkonzert. Knapp 100 Menschen sind in eine ehemalige Friedhofskapelle im Berliner Stadtteil Friedrichshain gekommen, um Sahra Wagenknecht zuzuhören. Grauhaarige und Studenten drängen sich in den Kirchenbänken des alternativen Kulturzentrums. Viele Zuhörer müssen im Gang stehen. Wagenknecht, Sprecherin der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei und Vorzeige-Marx­istin in deutschen Talk-Shows, stellt ihr neues Buch vor: Wahnsinn mit Methode. Es geht um das internationale Finanzkapital, die Krise und die Frage, warum der Kapitalismus scheitern muss.

Auf dem Buch-Cover sind vor rotem Hintergrund abstürzende Aktienkurven zu sehen. Darüber legt sich ein Porträt von Wagenknecht selbst. Vor fünf Jahren hatte sie ein Buch mit demselben Cover veröffentlicht, nur in blauer Farbe. Kapitalismus im Komahieß es. Kritiker nannten es damals „völlig unzeitgemäß“. Heute ist das anders. „Analytisch klar und kenntnisreich“ lobte das Handelsblatt das neue Buch. Wagenknechts Thesen haben sich kaum geändert, nur die Welt ist eine andere geworden.

Die Musik in der Kapelle wechselt zu coolem Elektrobeat. Wagenknecht läuft durch die Kirchenbänke nach vorn, setzt sich an einen Tisch im Scheinwerferlicht, wendet den Kopf mit der Rosa-Luxemburg-Frisur hin und her, beginnt zu lesen. Sie erklärt die Entstehung der US-Hypothekenkrise und den Schaden, den Private-Equity-Firmen anrichten – nicht ohne genüsslich Münteferings Heuschrecken-Metapher zu zitieren. Er bestätigte, was sie schon immer gesagt hat, wie so vieles in diesen Tagen.

Wagenknechts Ton ist sachlich, sie konzentriert sich auf die Analyse. Nur ab und an streut sie eine Spitze gegen die Genossen ein: „Heute fordert Frankreichs Präsident Sarkozy Verstaatlichungen – etwas, das in der Linkspartei vor zwei Jahren mancher nicht ins Parteiprogramm schreiben wollte.“ Von Genugtuung wolle sie aber nicht sprechen, sagt sie später. Es sei gut, dass bestimmte Dinge wieder diskutiert würden.
Dann klappt sie das Buch zu, Zeit für Fragen aus dem Publikum. Es geht um Begriffe wie Kapital und Arbeit – und wie man mit dem Marx’schen Instrumentarium die Konjunkturpakete analysieren könne. Wagenknecht macht sich Notizen, arbeitet eine Frage nach der anderen ab. Die Atmosphäre erinnert an ein Hauptseminar zur politischen Ökonomie.

Eine Frage kommt an diesem Abend immer wieder: Wie sieht sie die Chancen für einen Systemwechsel? Wagenknecht antwortet vorsichtig, abwägend. „Ich traue mich nicht mehr, eine Prognose abzugeben.“ Beim Platzen der Internet-Blase 2001 habe sie schon einmal gedacht, dass der Kapitalismus am Ende sei. „Ging dann ja doch noch weiter.“

Auch die Chancen für die geforderte umfassende Verstaatlichung des Großkapitals wägt sie ab. Auf die Frage, wie sich die Forderung konkret umsetzen lasse, antwortet sie: „Das ist eine rein hypothetische Frage. Dafür müsste die Linke bei der Bundestagswahl 50 Prozent bekommen – das wird nicht passieren.“ Grundsätzlich wäre die Verstaatlichung aber machbar, beharrt sie.

Eine junge Frau hakt nach: „Das Wort ‚Revolution’ ist aus der Mode gekommen. Hältst du es für möglich, dass es nun wieder mit Leben gefüllt wird?“ Da redet Wagenknecht über Lenins Definition einer revolutionären Situation. „Wenn die oben nicht mehr weiterkönnen und die unten nicht mehr weiterwollen.“ Es klingt eher allgemein. Sie sagt, sie sehe noch keine breite Bewegung in Deutschland.
Pessimistisch will sie ihre Zuhörer aber doch nicht entlassen. Über das große Ziel dürfe man die kleinen nicht aus den Augen verlieren. „Wenn es uns gelingen würde, die Hartz-Gesetze abzuschaffen, wäre das auch schon ein großer Erfolg.“ Sozialreformen statt Systemwechsel.

Wer wirklich etwas verändern wolle, sollte in ihre Partei eintreten und innerhalb des Systems für Veränderungen kämpfen, appelliert sie. Es klingt fast staatstragend. In der alten Kapelle hat man den Eindruck, dass Wagenknecht die Pragmatikerin ist und die „Normalbürger“ die Träumer. Früher war es anders herum.

Am Schluss signiert Wagenknecht noch ein paar Bücher. Aus den Boxen dröhnt Punk-Musik, an der Theke kaufen sich junge Leute Bier. Die Revolution ist erst einmal vertagt.

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