Der Freitag: Herr Merten, Sie sind Gerüchteforscher. Da haben Sie sicher gut zu tun.
Klaus Merten:
Ja, wobei ich vor zehn Jahren noch dachte, dass mir mein Forschungsbereich bald abhanden kommen könnte. Ich war davon überzeugt, dass es mit den neuen Medien so viele Möglichkeiten gebe, an Informationen zu kommen, dass Gerüchte daran kaputt gehen würden.
Es kam anders ...
Genau das Gegenteil ist passiert: Die Chancen für die Verbreitung von Gerüchten waren auch dank E-Mail, Blogs und Sozialen Netzwerken noch nie so gut wie heute. Es gibt prinzipiell zwei Situationen, in denen Gerüchte gehäuft auftreten: Entweder, es gibt zu wenige Informationen, dann werden die bestehenden Leerstellen aufgefüllt – oder es gibt zu viele Informationen und das Gerücht bietet Ordnung an. Das ist aber ein neuer Typus, denn diesen information overload gibt es noch nicht so lang.
Ein Beispiel für die Macht falscher Behauptungen gab es erst kürzlich. Im August kam das Gerücht auf, die französische Großbank Societé Général sei in Zahlungsschwierigkeiten. Der Kurs ihrer Aktie brach um mehr als 20 Prozent ein – und der Euro geriet weiter unter Druck.
Diese Schwierigkeiten werden in Zukunft eher noch zunehmen, denn wir können zurzeit eine Automatisierung des Gerüchts beobachten. An den Finanzmärkten entstehen aus kleinen Falschinformationen enorme Kettenreaktionen, weil die An- und Verkäufe weitgehend automatisiert sind, so dass geringe Kursausschläge schnell zu einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale führen. Und die Computer-Algorithmen prüfen nicht, wie verlässlich eine Meldung ist – sie reagieren nur auf einen Trend.
Um die Zahlungsfähigkeit von Banken gibt es oft Gerüchte.
Ja, einen ganz ähnlichen Fall gab es in Deutschland bei der damaligen HypoVereinsbank. Sie stand kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, weil die Kunden ihr Geld abheben wollten, genau weil das Gerücht aufgekommen war, dass die Bank zahlungs- unfähig sei. Die Bank hat das einzig Richtige gemacht: Sie hat gesagt, es sei ein Gerücht in Umlauf gesetzt worden, um ihr zu schaden. Sie hat aber nicht gesagt, welches Gerücht das genau sei.
Warum ist das so wichtig?
Wenn man ein Gerücht dementieren will, wiederholt man es zunächst, um dann zu sagen, dass es nicht stimme. In einer solchen Situation ist es aber ein großer Fehler, das Gerücht zu wiederholen. Sie haben sofort Leute, die sagen: "Na klar, wenn die Lage so ist, würde ich das nach außen auch dementieren." Das ist eine Logik nach dem alten Sprichwort: "Wo Rauch ist, gibt es auch Feuer." Gegen diese Logik können sie nicht argumentieren.
Was ist also der richtige Umgang mit einem Gerücht?
Im Normalfall würden sie es ignorieren und hoffen, dass es sich totläuft. Bei der HypoVereinsbank war es allerdings existenzgefährdend, so dass man reagieren musste. Man hat offengelegt, warum die Bank stabil ist. Und man hat früh reagiert. Wenn die Stimmung erst richtig aufgeheizt ist, haben sie keine Chance mehr.
Manche PR-Experten empfehlen in einem solchen Fall, eine Gegengeschichte zu erfinden.
Das ist ziemlich riskant: Man versucht, ein kursierendes Gerücht durch eine "bessere Geschichte" zu ersetzen. Wenn das auffliegt, kann es für denjenigen, der es in die Welt setzt, aber komplett nach hinten losgehen. Außerdem ist es schwierig, die Gegengeschichte richtig zu timen, da das Gerücht oft schon ein Stück weiter ist. Man kann beobachten, dass Gerüchte, wenn sie abzuebben drohen, sich noch mal verändern. Sie werden immer kürzer und negativer. Wenn die Kommunikation abzureißen scheint, wird noch etwas draufgepackt.
Sie haben nicht nur in der Wirtschaftswelt Gerüchte untersucht, sondern auch ganz alltägliche. Warum verschwinden manche schnell wieder – und andere sind nicht totzukriegen?
Gerüchte sind Erklärungsversuche. Diejenigen, die die Bedürfnisse einer sozialen Gruppe am besten befriedigen, verbreiten sich sehr hartnäckig – unabhängig vom Wahrheitsgehalt.
Ein Beispiel?
In Lyon gab es nach dem Zweiten Weltkrieg ein Gerücht, dass junge Frauen in einem Modehaus verschwinden würden, das einem Armenier gehörte. In den Umkleiden würden sie mit K.o.-Gas betäubt und dann in Bordelle nach Algerien oder Marokko verschleppt. Dahinter steckte natürlich Fremdenfeindlichkeit, gespeist aus dem Gefühl, dass Frankreich seine Identität verliere, weil zu viele Menschen aus Nordafrika ins Land kämen. Das Gerücht führte dazu, dass die Polizei mit einer Sondereinheit das Modehaus stürmte und selbstverständlich nichts von alldem fand. Am nächsten Tag stand das so auch in der Zeitung, aber das Gerücht war schon weiter: Die Leuten sagten: "Ist ja klar. Die Polizei wurde halt geschmiert."
Kann man denn die Herkunft eines Gerüchts aufspüren?
Nein, man dringt nie zum Kern vor. Ich habe mal ein Dreivierteljahr ein Gerücht verfolgt. Gestartet bin ich in Bielefeld, aber es hatte sich bis nach Holland, Dänemark und Großbritannien verbreitet. Die Geschichte ging so: Ein Mann fährt aus der Stadt und sieht einen Anhalter, er bremst und will ihn mitnehmen. In dem Moment bewegt sich etwas in den Büschen – er denkt an einen Überfall, gibt Gas und hört einen dumpfen Schlag. Er glaubt, sie hätten ihm einen Stein gegen den Kofferraum geschmissen. Als er anhält, sieht er ein Loch im Kofferraumdeckel und findet eine abgerissene Hand mit Schlagring im Innern.
Ausgefallene Erzählung ...
Die Botschaft ist klar: Nimm keinen Anhalter mit! Das Bild der abgerissenen Hand spielt mit Urängsten. Es ist so eindringlich, dass das Gerücht immer weiter erzählt wurde. Die Geschichte stand sogar in der Neuen Westfälischen Zeitung. Ich wollte die Quelle finden und wurde an einen Zeitungsdrucker verwiesen. Er sagte: "Ach, das war nicht ich, das war mein Vetter." Der Vetter sagte: "Das war nicht ich, das war der Neffe meiner Frau." So ging es immer weiter. Das Muster heißt: Freunde von Freunden. Die Quelle ist immer sehr nah, aber man erreicht sie nie.
Sie wollen eine "Gerüchteklinik" aufbauen. Wozu das?
Das soll eine Stelle für Gerüchteforschung sein. Es gibt bisher keine systematische Forschung dazu. Wir wollen untersuchen, welche Gerüchte weshalb auftauchen. Und dieses Wissen weitervermitteln, um Gerüchte zu bekämpfen. Das Wissen könnte allerdings auch missbraucht werden: Man könnte damit ein perfektes Gerücht schaffen.
Klaus Merten ist emeritierte Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Münster und Geschäftsführer der Kommunikationsagentur Complus. Er forscht seit mehr als 30 Jahren zu Gerüchten.
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