Das Befreiende

Moral Eva Mozes Kor hat als Kind Auschwitz überlebt. Heute vergibt sie den Tätern. Kann das funktionieren?
Ausgabe 48/2016

Sie ist zehn Jahre alt, und sie versteht nicht, was das für ein Ort ist, was sie hier soll. Aus dem Halbdunkel des Waggons geht der Blick auf einen Strom von Menschen, Hunderte, vorangetrieben von Männern in Uniform. Ihre Mutter nimmt sie und ihre Zwillingsschwester an die Hand. Den Vater und die zwei älteren Schwestern hat die Menge schon verschluckt.

„Sind das Zwillinge?“, fragt ein Wachmann.

„Ist das gut?“, sagt die Mutter zögernd.

„Ja.“

„Sie sind Zwillinge.“

Ohne ein weiteres Wort reißt der Mann ihr die Kinder weg. Es ist das letzte Mal, das Eva Mozes Kor ihre Mutter sieht. Aus ihrer Familie werden nur sie und ihre Zwillingsschwester Miriam überleben.

Heute, 72 Jahre später, an einem Novembernachmittag in Berlin, erzählt Eva Mozes Kor sehr ruhig von der Szene, die sie in ihrer Erinnerung immer wieder erlebt. Die Ankunft in Auschwitz, der Gang über die Selektionsrampe, Sinnbild des Zivilisationsbruchs. Da ist kein Zittern in ihrer Stimme. Sie konzentriert sich auf das präzise Vermitteln der Erfahrung. „Was passiert ist, ist passiert“, sagt sie knapp. Und kehrt im Gespräch doch immer wieder zu ihrer Mutter zurück, fragt sich, was diese heute über sie denken würde. Die Mutter, auf die sie nach der Befreiung lange wütend war, weil sie sie alleingelassen hatte, nicht auch überlebt hatte.

Ein Kuss vom Angeklagten

Eva Mozes Kor ist eine der prominentesten Stimmen der Auschwitz-Zeitzeugen. Und eine der umstrittensten. Vergangenes Jahr gehörte sie zu den 65 Nebenklägern im Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning. In Auschwitz hatte Gröning nicht selbst getötet. Teils war er an der Rampe als Wachmann eingesetzt, sonst sortierte er das Geld, das den Häftlingen abgenommen wurde, Währungen aus ganz Europa. Der Spiegel nannte ihn den „Buchhalter von Auschwitz“. Nach dem Krieg lebte er ein bürgerliches Leben, mit Dackel und Briefmarkensammlung. Er galt juristisch als unschuldig. Erst nach der veränderten Rechtsprechung im Zuge des Demjanjuk-Prozesses 2011 begann die Justiz auch gegen jene zu ermitteln, die die Todesfabriken organisatorisch am Laufen gehalten hatten.

Gröning gestand vor Gericht ein, er habe sich „moralisch mitschuldig“ gemacht. Und er gab Auskunft zu den Abläufen in Auschwitz. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft. Ende November bestätigte der Bundesgerichtshof das Urteil, das damit rechtskräftig ist.

Mozes Kor reichte Gröning am Rand des Prozesses die Hand, als ein Zeichen des Vergebens. Er umarmte sie und drückte ihr spontan einen Kuss auf die Wange. Das Bild ging um die Welt. Und löste erbitterte Kritik anderer Überlebender aus. In einer Erklärung schrieben 49 Nebenkläger, Mozes Kor habe die große Aufmerksamkeit für den Prozess benutzt für eine persönliche Geste, die ihrer Rolle als Nebenklägerin völlig widerspreche. Sie könne außerdem nicht stellvertretend für andere verzeihen.

Sie antwortete, dass sie nur für sich individuell vergebe, und dass dies den Täter auch nicht von Verantwortung freispreche. Sie fügte aber hinzu, dass sie es nicht richtig finde, einen 93-jährigen Mann ins Gefängnis zu schicken. Er solle lieber dazu verurteilt werden, seine Geschichte immer wieder vor jungen Menschen zu erzählen.

Angesichts der Monstrosität der Verbrechen verstört die Vorstellung, man könnte SS-Männern ihre Beteiligung an Auschwitz vergeben. Die Dimension brauche ihr keiner erklären, sagt Mozes Kor. „Ich weiß genau, was mir die Nazis angetan haben. Und das vergesse ich auch nicht.“ Aber wie kann Vergebung da funktionieren? Gibt es für Taten nicht eine Grenze, ab der es schlicht falsch ist, sie noch zu verzeihen? Kann man den Holocaust vergeben?

Eva Mozes Kor ist eine zierliche, kleine Frau mit selbstbewusstem Auftritt. Sie spricht Englisch mit osteuropäischem Akzent, geboren wurde sie 1934 in einer jüdischen Familie in der rumänischen Stadt Portz. Nach der Befreiung kehrte sie in ihre Heimat zurück, lebte bei einer Tante. 1950 wanderte sie mit ihrer Schwester nach Israel aus. 1960 verliebte sie sich dort in einen Holocaust-Überlebenden, der in die USA emigriert war und zog mit ihm in die Kleinstadt Terre Haute in Indiana, wo sie bis heute lebt. Nach Berlin ist sie nun gekommen, um ihr gerade erschienenes Buch vorzustellen. Die Macht des Vergebens erzählt von ihrer Zeit im Todeslager, vom Leben danach – und vom Kampf, die Deutungshoheit über die eigene Biografie zurückzuerobern.

Für Interviews hat der Verlag in einem Hotel am Potsdamer Platz einen Raum gemietet, der mit Samtsesseln an ein Wohnzimmer erinnern soll. Mozes Kor trägt eine kurzärmelige Bluse, am linken Unterarm kann man die Tätowierung ihrer Auschwitz-Nummer erkennen, A-7063. Sie habe sie nie versteckt, weil sie immer stolz gewesen sei, überlebt zu haben, schreibt sie in ihrem Buch. Die Schuld, die andere Befreite empfanden, weil sie als Einzige der Familie dem Tod entgangen waren, sei ihr fremd.

„In Auschwitz bin ich immer davon ausgegangen, dass außer Miriam noch jemand aus meiner Familie am Leben sein muss – einfach weil sie älter waren. Wenn ich als Zehnjährige noch lebte, mussten sie das doch auch schaffen. Und das gab mir Hoffnung“, erzählt sie. „Hoffnung war entscheidend. Wer sie verlor, starb bald.“

Die Baracke der Zwillinge

Von der Rampe wird sie mit ihrer Schwester in eine Baracke voller Kinder geführt, alles Zwillinge, insgesamt über 200. Für den Nazi-Arzt Josef Mengele sind sie nur Material. Mengele, vollgepumpt mit Herrenmenschen-Ideologie und skrupellosem Ehrgeiz, sieht in Zwillingen eine perfekte Kontrollgruppe für seine Menschenversuche. Er infiziert Kinder mit Viren, amputiert Gliedmaßen, entnimmt Organe und tötet Unzählige, nur um sie zu obduzieren.

Mozes Kor und ihre Schwester werden untersucht, vermessen, geröntgt. Dann bekommt sie eine Spritze. Sie kriegt hohes Fieber, wird in die Krankenbaracke verlegt, die eigentlich keiner lebend verlässt. Als Mengele an ihrem Bett steht, hört sie ihn sagen: „Sie hat noch zwei Wochen.“ Wenn ein Zwilling stirbt, wird auch der andere getötet, um eine vergleichende Obduktion vorzunehmen. Aber Mozes Kor wird wieder gesund, ihre Schwester ließ ihr während der Krankheit heimlich Essen zukommen.

„Bis heute weiß ich nicht, was mir gespritzt wurde“, sagt sie. „Dabei muss es die Akten irgendwo geben.“ Mengele dokumentierte alles penibel. Eine Kopie aller Unterlagen wurde ins Kaiser-Wilhelm-Institut nach Berlin geschickt. Mozes Kor glaubt: „Wenn die letzten Überlebenden gestorben sind, werden diese Dokumente irgendwann auftauchen.“

Ihre Schwester Miriam stirbt 1993 an einer seltenen Form von Krebs, wahrscheinlich eine Langzeitfolge der Injektionen, die sie in Auschwitz bekam. „Ich bin darüber verzweifelt, dass ich ihr nicht helfen konnte, weil wir nicht wussten, was man ihr gespritzt hatte“, sagt Mozes Kor.

Sie trauert noch um ihre Schwester, als sie eine Anfrage für eine Konferenz über NS-Medizin in Boston erhält. Der Organisator will von ihr wissen, ob sie nicht einen Nazi-Arzt mitbringen könne. Sie hält das für eine absurde Idee. „Wie soll ich den finden? Nazi-Ärzte stehen doch nicht im Telefonbuch.“ Aber der Gedanke, mit einem der Täter zu sprechen, lässt sie nicht mehr los. In einem Dokumentarfilm, in dem sie mitgewirkt hatte, kam auch ein NS-Arzt vor der Kamera zu Wort. Die Produktionsfirma gibt ihr eine Telefonnummer. Monate später steht sie, begleitet von einem Fernseh-Team, in einem Dorf im Allgäu vor der Tür von Dr. Hans Münch.

Er bittet sie herein, er ist sehr höflich. Fünf Mal springt er auf, um ihr noch ein Kissen zu holen. Damit sie auf dem Metallstuhl bloß bequem sitzt. Und doch, dieser nette alte Mann war ein Kollege Mengeles, machte genauso Menschenversuche. Sie ist irritiert, durcheinander, die Freundlichkeit passt nicht zu ihren Erwartungen.

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die Täter von Auschwitz oft privat nette Familienväter waren, während sie Tag für Tag Menschen töteten. War ihr das nicht bewusst? „Doch, aber in einem direkten Gespräch zwischen zwei Menschen können Dinge passieren, die man nicht vorhersehen kann. Und wenn Doktor Münch mich nicht so offen empfangen hätte, hätte ich ihn nie nach den Gaskammern gefragt.“

Über Mengeles Injektionen kann Münch ihr wenig erzählen, aber er ist bereit, eine eidesstattliche Erklärung über das Töten in den Gaskammern abzugeben. Ein Dokument, das Mozes Kor viel bedeutet: „Ich erfuhr damit auch zum ersten Mal von einem Augenzeugen Details darüber, wie meine Eltern und Geschwister starben.“

Zurück in den USA will sie Münch etwas zurückgeben. Sie schreibt ihm einen Brief, in dem sie ihm verzeiht. Sie braucht drei Monate dafür. Und sie macht dabei eine seltsame Erfahrung. Sie fühlt sich nicht mehr als Opfer, als jemand, mit dem etwas gemacht wird. Sie hat das Gefühl, Macht zu haben, die Macht zu vergeben.

In den folgenden Jahren wird sie auch dem verstorbenen Mengele verzeihen, der sich nie seiner Schuld stellte. Bei der Feier zum 50. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung verliest sie 1995 sogar eine Erklärung, in der sie allen Nazis vergibt. Es klingt zu groß, zu allumfassend. Die Kritik anderer Überlebender ist vehement. Heute betont sie, dass Vergeben etwas Persönliches, nur individuell Mögliches sei. Zugleich wirbt sie vehement dafür, ihrem Beispiel zu folgen. Und sie sagt: „Mir tun Menschen leid, die nicht vergeben können. Sie bleiben für immer Gefangene ihres Zorns, ihr ganzes Leben bezogen auf den Täter.“

Nach der Versöhnungsgeste mit Oskar Gröning im Gericht kommt eine Frau zu ihr: „Meine Mutter, die in Auschwitz starb, wäre entsetzt.“ Mozes Kor antwortet: „Sind Sie sicher? Ich bin mir sicher, dass meine Mutter glücklich wäre, wenn sie mich heute sähe. Weil ich es geschafft habe, ein freier, selbstbestimmter Mensch zu werden.“ Aber die Toten kann keiner mehr fragen.

Die beste Rache

Im Gespräch betont sie den Unterschied zwischen der Vergebung des Einzelnen und dem Umgang einer Gesellschaft mit Schuld. Bei einer Einladung in den Bundestag warb sie auch für Vergebung für die Nazis. „Da sagte man mir: ‚Das geht nicht. Die Neonazis würden jubeln.‘ Und ich musste einsehen: Stimmt, da gibt es Grenzen.“

Einen Zweifel, dass ihr Ansatz auf persönlicher Ebene der richtige ist, lässt sie aber nicht zu. Sie spricht bei ihren Auftritten so oft übers Verzeihen, sie betont das Befreiende in ihrem Buch so sehr, dass es auch wie eine Form der Selbstsuggestion wirkt. Sie will, dass es so ist – und versichert sich daher immer wieder selbst, dass sie über die Vergangenheit gesiegt hat.

Zum Ende des Gesprächs überreicht Eva Mozes Kor noch ihre Visitenkarte, die für ein privates Holocaust-Museum wirbt, das sie in Terre Haute, Indiana, gegründet hat. Auf der Karte steht ein kurzer Text, der das Vergeben als reine Kraft des Guten preist. Der letzte Satz fällt auf, er passt nicht dazu. Er lautet: „Vergeben ist die beste Rache.“

Info

Die Macht des Vergebens Eva Mozes Kor Benevento 2016, 236 S., 24 €

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