Das Schweigen des Kommentators

Ritual der Woche Was passiert eigentlich, wenn man sich den ganzen Tag die Olympia-Übertragungen anschaut? Man freut sich plötzlich über einen Moment der Stille in London
Hauptsache dabei - ob nun im Stadion in London oder vor dem heimischen Livestream
Hauptsache dabei - ob nun im Stadion in London oder vor dem heimischen Livestream

Foto: Johannes Eisele / AFP / Getty

Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem das Fernsehen besser das Gefühl von Gemeinschaft herstellen kann als während großer Sporteignisse. Mit einiger Sentimentalität berichtete ein Kollege bereits vor Wochen, wie er 1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles als kleiner Junge erstmals die Wettkämpfe am Bildschirm verfolgte. Und sofort hatte man vor Augen, wie man damals als Achtjähriger wegen der Zeitverschiebung morgens um fünf vor den Fernseher schlich, um Michael Groß über 100 Meter Schmetterling zu Gold pflügen zu sehen. Es sind Erinnerungen wie diese, weshalb man alle vier Jahre wieder zuschaut.

Man muss sich die Olympischen Spiele dabei als große Relevanzmaschine vorstellen. So ist alles, was zurzeit in London passiert, bedeutsam, einfach weil es Teil von Olympia ist. ARD und ZDF übertragen im Wechsel jeden Tag von 9.45 Uhr bis 1 Uhr nachts, 15 Stunden, alle anderen Sendungen außer den Nachrichten müssen weichen. Es ist der programmierte Ausnahmezustand. Nur: Was passiert eigentlich, wenn man sich diesem Programmfluss nonstop aussetzt? Ein Selbstversuch zu Beginn der zweiten Olympiawoche.

9.45 Uhr Gerhard Delling geht auf Sendung. Das gibt gleich ein vertrautes Gefühl, denn auf Delling ist Verlass. Seine Moderationen sind die altbekannte Mischung aus Alltagsbinsen und bemühten Sprachspielen. "Frühsport ist gesund", begrüßt er die Zuschauer. Um sofort hinzuzufügen, dass es zweifelhaft sei, ob die deutschen Hockeydamen das auch so sähen. Schließlich müssten sie ihr laufendes Spiel mit mindestens drei Toren Unterschied gewinnen. Und bisher – Achtung Spannungsaufbau – stünde es nur 0:0. Dann sieht man Frauen in kurzen Röcken mit Holzschlägern über ein blaues Spielfeld laufen. Und der Kommentator betont noch mal, wie früh es ja noch sei.

Überhaupt, die Uhrzeit macht das Fernsehen natürlich zu etwas Besonderem. Das macht man eigentlich nicht. Wer an einem Werktag um 10 Uhr morgens vor dem Fernseher sitzt, müsste sich normalerweise ernsthaft Sorgen um seine Schichtenzugehörigkeit machen – es sei denn, es ist Olympia. Aufgehoben in dem größeren Zusammenhang von sportlichem Kräftemessen und Völkerverständigung ist es völlig okay, vormittags zu glotzen. Und es ist auch egal, welche Sportart gerade dran ist. Denn der sportliche Ehrgeiz des Zuschauers, so wird ihm ständig vom Moderator suggeriert, sollte es sein, einfach alles zu sehen.

11.00 Uhr Die Hockey-Damen sind über das 0:0 nicht hinausgekommen. "Schade", sagt Delling. "Aber jetzt fertigmachen zum Jubeln." Denn nun schalte man zu den Kanu-Rennen, und da hätten die deutschen Athleten fünf Medaillen fest versprochen. Die komische Fixierung auf den Medaillenspiegel der Nationen beginnt ja in der Regel spätestens am dritten Olympia-Tag zu nerven. In London fällt sie aber als besonders albern auf, weil viele deutsche Athleten (Schwimmer, Schützen, Reiter) hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, weswegen beim Verlesen des meist enttäuschenden Medaillenspiegels immer ein positiver Ausblick für die nächsten Stunden oder Tage gesucht werden muss. Falls das alles nicht hilft, kann man sich ja – so die Logik des permanenten Nach-vorn-Schauens – noch auf die nächsten Spiele 2016 in Rio freuen.

Beim Kanu werden an diesem Tag übrigens überhaupt keine Medaillen vergeben. Es sind erst die Vorläufe.

12.5o Uhr Die ARD vergisst ihren nationalen Fokus und zeigt das Basketball-Vorrundenspiel Russland gegen Australien, weil es einen spektakulären Schluss hat. Ein Australier entscheidet das Spiel mit einem Buzzer Beater, einem Drei-Punkte-Distanzswurf in der letzten Sekunde. Nice!

15.00 Uhr Nach fünf Stunden Olympia-Fernsehen bemerkt man erste Veränderungen an sich selbst. Man verinnerlicht die Logik des Es-muss-immer-weitergehen. Jetzt auszuschalten, kann man sich nicht vorstellen. Nach dem Dreistellungskampf im Schießen kommt schließlich gleich das Tischtennishalbfinale China-Deutschland! Also sieht man erst mal dabei zu wie ein Italiener, der sich sehr bescheiden freut, Gold beim Schießen gewinnt.

19.15 Uhr Die Chinesen haben jetzt beim Tischtennis gewonnen, Delling hat die Moderation an Michael Antwerpes übergeben, der aussieht wie ein Bruder von Karl-Theodor zu Guttenberg. Antwerpes unterhält sich mit dem "Adels-Experten" Rolf Seelmann-Eggebert darüber, wann in Großbritannien ein Sportler von der Queen zum Sire ernannt wird. Es gibt TV-Kritiker, die behaupten, der Sport würde sich selbst genügen. Er bräuchte kein Begleitprogramm. Nach dem Seelmann-Eggebert-Gespräch will man sofort jede Petition mit dieser Forderung unterschreiben.

20.45 Uhr Mittlerweile hat man das Höher-Weiter-Mehr als Zuschauer voll verinnerlicht. Das bedeutet: Man schaltet den "Second Screen" zu, wie es in der Sprache der Fernsehleute heißt. Im Internet bieten ARD und ZDF, während ihre TV-Übertragung läuft, bis zu sechs alternative Live-Streams an, die parallel stattfindende Wettbewerbe zeigen. Auf dem Laptop kann man live Frauenfußball oder Handball schauen, während sich im Fernseher mal wieder eine Stabhochspringerin auf ihren Anlauf vorbereitet. Und die Übertragung im Netz wird auch nicht ausgesetzt, nur weil gerade irgendwo anders in London ein deutscher Sportler just in diesem Moment etwas Entscheidendes tut. Die Livestreams werden millionenfach geklickt. Offenbar suchen sich viele lieber selbst aus, welchen Sport sie gerade sehen möchten.

0.15 Uhr Beim Basketball-Spitzenspiel USA gegen Argentinien ist Halbzeit. Im Fernsehen würde jetzt ins Studio geschaltet, beim Internet-Livestream verweilt die Kamera auf dem leeren Feld. Im Hintergrund sieht man ein paar Zuschauer rumlaufen, der Kommentator schweigt. Es ist ein bizarrer Moment. Zum ersten Mal an diesem Tag hat man das Gefühl, wirklich bei Olympia dabei zu sein.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden