Es war sein erster Tag in der Firma. Stolz zeigte der Ausbilder den Neuen die modernen Produktionsanlagen. Robotergesteuerte Fertigungsstraßen. Computergestützte Transportsysteme. Sie staunten und sagten »Ah«. Dann kamen sie in diese düstere Montagehalle, miefig und hoffnungslos veraltet, in der lieblos an einer kleinen Blechkiste gewerkelt wurde. Da staunten sie auch und sagten »Hm« und der Ausbilder sagte schlicht: »WM 66. Die läuft sowieso bald aus.«
Das ist jetzt 26 Jahre her und der Grund, warum Reiner Schreier lieber keine Prognose mehr wagt, wie lange diese Waschmaschine wohl noch produziert wird - hier im sächsischen Schwarzenberg. Schreier war damals Lehrling. Heute ist er Chef und 42 Jahre alt, sitzt in einem hellen Büro in Anzug und Krawatte an einem fußballfeldgroßen Chef-Schreibtisch und kann die ganze Sache selbst nicht ganz glauben: Dass es sie wirklich und wahrhaftig noch immer gibt, die WM 66 - den Trabi der Waschküche. WM wie Waschmaschine. 66 wie 1966, das Jahr des Produktionsbeginns. »So lange sie noch jemand haben will, produzieren wir eben weiter«, sagt Schreier.
Die »kleine Schwarzenberger«, wie sie liebevoll genannt wird, ist eigentlich nicht viel mehr als ein Topf mit Quirl, Heizstab und Deckel. Alles in allem nicht viel größer als zwei übereinander gestapelte Bierkästen. Aber sie macht das, was man von einer Waschmaschine erwarten kann, erwarten konnte - damals 1966 jedenfalls. Sie wäscht Wäsche. Mehr nicht. Das aber in nur sechs Minuten.
Man füllt selbst das Wasser ein, mit dem Eimer, stellt den Drehknopf auf Heizen, wartet bis zur gewünschten Temperatur, legt maximal 1,5 Kilo Wäsche in die Lauge und dreht den Schalter auf Waschen. Am Boden des Topfes erzeugt ein Propeller, Wellrad genannt, so viele Strudel, dass die Wäsche umherwirbelt, aneinander reibt und eben sechs Minuten später fertig ist. Fast jedenfalls. Man muss nur noch die Lauge ablassen, in einen Eimer vielleicht, die Wäsche spülen, in der Badewanne zum Beispiel, und dann schleudern. In einer Extra-Schleuder natürlich.
Historisch betrachtet war das modern und allemal komfortabler als in einem schwindsuchterregenden Waschkeller selbst Hand anzulegen. In einem Prospekt aus den Siebzigern heißt es dann für damalige Maßstäbe schon fast emanzipiert: »Die junge Frau von heute ist selbstbewusst und weiß ihre hauswirtschaftlichen Pflichten zu meistern, ohne auf ihre Freizeit zu verzichten. Denn arbeits- und zeitsparende Haushaltgroßgeräte gehören ins Anschaffungsprogramm jeder Familie.« So hat es das Familienoberhaupt dann wohl beschlossen - fast fünf Millionen mal. 4.787.227 Stück haben inzwischen das Werk verlassen. Im letzten Jahr waren es 3.000 und es sieht danach aus, als ließe sich die Zahl in diesem Jahr verdoppeln.
In der alten Montagehalle, trotz großer Fenster beiderseits muffig und schummerig wie eh und je, strahlen die kleinen Kästen so blendend weiß, dass man sie beinahe für modern halten könnte. Rollbänder quietschen, Luftdruckschrauber rattern, und auf dem Fensterbrett schweigt ein kümmerlicher Affenbrotbaum. Vier kittelbeschürzte Arbeiterinnen montieren Motoren und verschrauben Konsolen, kontrollieren die Dichte und stülpen am Schluss einen großen Karton über das fertige Produkt. 400 Stück wurden dereinst pro Schicht montiert, als hier noch das Fließband den Takt vorgab. Es lief durch die gesamte Halle und weiter bis dorthin, wo heute Reiner Schreiers Büro liegt.
»Das Gerät kostet 259 Euro. Das ist schweineteuer«, sagt selbst Schreier. 259 Euro für ein waschtechnisches Fossil. 259 Euro, die gerade so die Kosten decken. Erst kürzlich hat er einen Vollautomaten für den gleichen Preis gesehen. Ein Vollautomat kann spülen und schleudern und tausend andere tolle Sachen, die seine Maschine auch nicht kann. Die WM ist weder Voll- noch Halbautomat. Und doch gibt es Menschen, die sie schätzen - nicht trotzdem, sondern deswegen. Wer diese Kiste kauft, hat neben Wäschewaschen noch ganz andere Sachen mit ihr vor, sagt Schreier.
So ist das schlagendste Verkaufsargument wohl noch immer die Vielzahl der »Gebrauchswerteigenschaften« . Ähnlich wie der Mufuti, der eben nicht einfach Tisch, sondern Multifunktionstisch war, ist auch die WM 66 ein Mufu-Ding - eine Allzweckwaffe, die ihre Flexibilität vor allem in ostdeutschen Kleingartenanlagen unter Beweis stellte. Man konnte Bockwürste in ihr erhitzen oder Erbsensuppe kochen, Obst einwecken oder den Schlauch zur Dusche verlängern. Obendrein eignete sie sich auch ganz passabel zum Wäschewaschen. Allergiker, die ihre Kleidung bei 100 Grad reinigen müssen, schätzen noch immer das Robuste an ihr. Eine handelsübliche Trommelmaschine neigt bei diesen Temperaturen zur Explosion.
Mit Fug und Recht schrieben ihr dereinst die Konstrukteure in den Prospekt: »Die Haushalt-Kleinwaschmaschine WM 66, die allen Anforderungen gerecht wird.« Ohne modischen Schnickschnack und weitgehend unbehelligt vom technischen Fortschritt. Der Archetyp hat in den siebziger und ahtziger Jahren dennoch einige Erneuerungen erfahren. »Ein Drehthermostat und eine Laugenpumpe sind hinzugekommen und hin und wieder gab es ein dezentes Facelifting«, sagt Schreier. Deshalb heißt die WM 66 schon seit längerer Zeit WM 0600 L. »Das L steht für Luxus. Aber was ist daran schon Luxus?«
Die Dinge ändern sich eben. Die DDR gibt es nicht mehr und auch nicht den VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg mit seinen 3.500 Beschäftigten, die Front- und Toplader in allen Formen produzierten und immer eben auch die WM 66. Als mit der Wende die schöne neue Shopping-Welt über den Osten schwappte, brach der Absatz zusammen. Statt der »kleinen Schwarzenberger« wollte der Osten lieber Westwaschmaschinen und statt Einwecken Bo-Frost. Der Subbotnik-Einsatz verschwand und mit ihm die WM66-Gulaschkanone. Nur 70 Mitarbeiter überstanden die Abwicklung des Schwarzenberger VEB und die diversen Insolvenzen der Nachfolgegesellschaften.
Als vor drei Jahren auch noch der Vertriebspartner Foron die Verträge kündigte, sah es für eine Weile so aus, als wäre nun endgültig Feierabend. Als würde nach über 100 Jahren die Schwarzenberger Waschmaschinen-Tradition sterben, still und leise wie zuvor schon der erzgebirgische Bergbau. Die Bergleute hatten wenigstens ihre Volkskunst - auch wenn es sicher nicht jedem Kumpel Erfüllung brachte, auf ewig Schwippbögen und Bergmannsengel fürs Überleben zu schnitzen.
Reiner Schreier kann keine Volkskunst schnitzen. Rainer Schreier ist Ingenieur. Deshalb hängt er an der Waschmaschine. »In unserem Vorläuferbetrieb, den Krauss-Werken, wurde schon 1902 die weltweit erste Trommelwaschmaschine entwickelt. Nicht bei Miele. Hier in Schwarzenberg«, sagt Schreier. Es klingt wie eine Beschwörung. Es war immer so. Es muss so bleiben.
Dabei hatte auch er selbst dafür gesorgt, dass die Firma ihr Standbein verlagerte - weg von den Waschmaschinen, hin zu Außenwand-Gasheizgeräten. Dafür brauchten sie aber nur noch 30 der 70 Mitarbeiter. Kleine Flamme. Es ging nicht mehr anders. Und er, Reiner Schreier, war jetzt Chef. Er hatte sich hochgearbeitet vom Lehrling über das Studium bis hinauf zum Leiter der Fertigung, wurde die rechte Hand des Insolvenzverwalters und danach Gesellschafter. Zusammen mit zwei Partnern aus den alten Bundesländern hat er die Firma vor drei Jahren übernommen und sie Tarak genannt. Das heißt gar nichts. Ihnen war nur kein besserer Name eingefallen. Schreier sagt: »Im Grunde habe ich meinen Arbeitsplatz gekauft. Nach so langer Zeit hängt man einfach an dem Laden.«
Genau wie die Kunden. Die hingen nach so langer Zeit auch an der Waschmaschine. Adalbert Vierling weiß das. Er betreibt in Rostock einen kleinen Elektrohandel und ist nicht ganz unschuldig daran, dass die WM noch immer produziert wird. Schon kurze Zeit, nachdem Foron die ollen Dinger nicht mehr liefern wollte, stapelten sich bei Vierling die Anfragen. Da hat er sich direkt in Schwarzenberg gemeldet, hat die Restbestände gekauft und wollte noch mehr haben. Schreier war das eigentlich gar nicht recht: »Wir wollten ja längst keine Waschmaschinen mehr bauen, aber wir hatten noch immer die Bude voll Material.«
Vierling hatte damals sogar kurz überlegt, ob er dem Insolvenzverwalter die Werkzeuge abkaufen und die Produktion der Waschmaschine zu sich nach Rostock holen soll. »Es gibt ja auch bei uns jede Menge Arbeitslose«, hat er sich gedacht. Dann aber haben sie sich geeinigt. Schreier baut, Vierling verkauft und die »kleine Schwarzenberger« bleibt weiter in Schwarzenberg.
Inzwischen hat Vierling sogar einige Geräte in die alten Bundesländer verkauft. Auch da wohnen Leute, die das Einfache schätzen. Allergiker, Puristen oder Obsteinwecker. Er hat noch großes vor mit dieser Waschmaschine. Es klingt nach einer Vision: die WM erobert auf ihre alten Tage den Weltmarkt - als Nischenprodukt. Er kurbelt gerade den Export an, hat Aufträge von Kroatien über Libyen bis nach Burma - überall dorthin, wo ein moderner Vollautomat so sinnvoll wäre wie ein Ferrari in der Wüste. Wo er es einfach nicht bringt. Wo noch kein Wasser aus der Leitung fließt, der Druck nicht reicht und das Stromnetz schwankt. »Da steigt ihnen doch sofort die Elektronik aus«, sagt Vierling.
So lange sich die Anfragen stapeln und fast täglich Briefe eingehen, wie der dieses älteren Ehepaares - auf Karopapier und mit flatternder Schrift: »Bitte helfen Sie uns. Wir hatten schon immer eine WM 66 und wir wollen auch keine andere« - so lange sie also noch irgendwer will, so lange wird Schreier sie bauen. Und Vierling will dafür sorgen, dass das auch noch lange so bleibt. Aber Prognosen, bis wann dieses »so lange« dauert, gibt niemand mehr freiwillig ab.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.