Einmal Silberhöhe und zurück

LEERSTAND IN HALLE Uta Gahr ist wieder zurückgekommen. Sie will hier alt werden, auch wenn die Plattenbausiedlung als keine gute Adresse mehr gilt

Dereinst standen 96 Hütten aus Stroh und Holz am Ufer des Flusses. In denen wohnten die Halloren und sotten ihr Salz. Als eines Tages der Bischof zu Giebichenstein des Weges kam, baten sie ihn um Erlaubnis, hier eine Stadt errichten zu dürfen. Da lachte der Bischof. "Nun, so baut in Gottes Namen mit Wasser und Holz", rief er "und es leuchte Euch Sonne, Mond und Sterne". Zwar ergänzten die Halloren die Bauzutaten alsbald mit einer Prise Ziegel, doch die Dreifaltigkeit himmlischer Körper ziert noch heute das Wappen der Stadt Halle an der Saale.

Als Horst Sindermann, damals im Zentralkomitee der SED, 1964 den Grundstein für "Haneu" - Halle-Neustadt - legte, verstieß er endgültig gegen das klerikale Gebot des Bischofs. Am Rande von Halle entstand eine riesige Stadt der Chemiearbeiter. Statt in Gottes Namen und mit Wasser und Holz zu bauen, klotzten die Hallenser deshalb riesige Betonblöcke in die Heide - im Namen der Effizienz. Und während die Häuser der Altstadt verfielen, wurde der Stadtrand zementiert. Schnell und billig musste es gehen, da half nur die Platte, da wurde nicht gekleckert - in den siebziger und achtziger Jahren folgten die Plattenbausiedlungen Halle-Nord und schließlich Silberhöhe.

1983 zog Uta Gahr zum ersten Mal dorthin. Zur Arbeit hatte sie es nun nicht mehr weit. Das war schön. Und doch nicht schön. Denn Arbeit war Buna und Buna dreckig. "Die Wiesen der Aue konnte man praktisch nicht betreten", erzählt sie. Gleich hinter dem Haus, auf der anderen Seite der Saale, stand das Karbidwerk, und wenn der Wind aus Süden wehte, brachte er so einiges mit. Nach der Wende drehte der Wind auf West. Der Dreck ist endlich weg, doch mit ihm viele Mieter. Dafür gibt es jetzt Grünanlagen für die Kinder und die Alten und für 28 Prozent von denen dazwischen, die jetzt mehr Zeit haben, als ihnen lieb ist.

Halle leidet unter einem erheblichen Bevölkerungsschwund. 1990 lebten hier noch etwa 315.000 Einwohner, heute nur noch 253.000. Allein auf der Silberhöhe sind von den 15.327 Wohnungen 3.440, also mehr als 22 Prozent, verwaist und liegen den Wohnungsbaugesellschaften auf der Tasche. Hässliche Worte machen die Runde: Da ist von "Abriss" die Rede und von "Rückbau", von "Schleifen" und "Planieren".

Gerade wurde in der Stadtverordnetenversammlung der erste Entwurf eines städtebaulichen Konzeptes vorgestellt. Phase 1 heißt Abbruch und sieht vor, allein auf der Silberhöhe 13 Häuserblöcke mit mehreren Aufgängen abzureißen - insgesamt 2.795 Wohnungen. Schon im nächsten Jahr könnte es losgehen, wenn bis dahin die Finanzierung gesichert ist.

Alle ziehen weg, nur Uta Gahr zieht wieder ein. Für ein paar Jahre wohnte sie in Halle-Reideburg, dort, wo Genscher geboren ist. "Doch dann hatte ich wieder Sehnsucht nach der Silberhöhe", sagt sie. Reideburg war zu weit weg und zu teuer. Und so ging sie zur Halleschen Wohnungsbaugesellschaft (HWG) und erkundigte sich nach saniertem Wohnraum. Die sagte: "Jessener Straße, 3. Stock, 3 Zimmer, amerikanische Küche" und Frau Gahr sagte "Prima". Seit zwei Wochen wohnt die 51-Jährige wieder auf der Silberhöhe.

Die Wohnung ist hell und aufgeräumt, und nachdem vor ein paar Tagen die neue Couchgarnitur geliefert wurde, erinnert eigentlich nichts mehr an den Umzug. Noch fehlen ein paar Lampen, und bis der neue Teppich kommt, vertritt ihn die grün-gelb-karierte Wolldecke. "Also ich sag mal, hier kann man alt werden", sagt sie mit spitzem Mund und legt vorsichtig die Unterarme auf den Tisch.

Freunde und Bekannte können das nicht so ganz verstehen. "Die denken ich bin verrückt", sagt sie. Zumindest liegt Frau Gahr mit ihrem Umzug nicht im Trend. Doch sie weiß um die Vorzüge des Viertels: "Straßenbahn, Einkaufsmöglichkeiten, medizinische Versorgung", zählt sie routiniert auf. Vor allem sei es hier bedeutend ruhiger als im Zentrum, wo der Verkehr in Kolonne rollt und die Wohnungen ohnehin viel zu groß seien und die Decken zu hoch und die Heizkosten auch.

Sie arbeitet jetzt als Buchhalterin in einer mittelständischen Firma. Buchhalter rechnen alles genau durch. 58 Quadratmeter für 740 Mark warm - unschlagbar. Dass hierher sonst keiner wolle, stimme ja nicht. Und der Leerstand? "Den gibt es überall."

"Das Problem ist ja nicht neu", sagt Hartmut Maurer, Marketingleiter der HWG. Er ist 59 Jahre alt und arbeitet seit 25 Jahren in der Wohnungswirtschaft. "Anfangs wurde nur leise über Leerstand geredet, weil es gewisse Schatten auf die eigene Geschäftstätigkeit warf", sagt Maurer.

Als die ehemaligen kommunalen Wohnungsbaugesellschaften nach der Wende 15 Prozent ihres Wohnungsbestandes privatisieren sollten, um die Altschulden los zu werden, suchten sie verzweifelt nach Käufern. Leerstand passte schlecht ins Konzept, deshalb sprach man ungern darüber. Erst im vergangenen Jahr fand man den Mut, das böse Wort "Abriss" in den Mund zu nehmen.

Das verspiegelte Verwaltungsgebäude der HWG steht am Rand der Innenstadt. Seit es der Eigentümer modern saniert hat, erinnert nur noch der Paternoster an frühere Zeiten. "Halles größter Vermieter ist selbst Mieter." Mit diesem Slogan warb die HWG früher einmal um neue Mieter. Doch woher sollen die kommen? "Es gibt einfach zu wenig Menschen hier. Auch mein Marketing holt nicht mehr Leute nach Halle", beklagt Hartmut Maurer.

Als die HWG 1996 die Wohnungsvergabe vom städtischen Amt übernommen hatte, rissen ihr die Leute zunächst die Wohnungen regelrecht aus der Hand. "Wir waren sehr zuversichtlich", erinnert sich Maurer. Doch schon zwei Jahre später sei offensichtlich geworden, dass zu viele Wohnungen auf dem Markt waren. Immer mehr freie Wohnungen für immer weniger Hallenser. Fazit heute: Abreißen.

Professor Rüdiger Pohl vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle kann die Aufregung durchaus verstehen. Trotzdem rät er zur Besonnenheit. Schließlich würden die Menschen bald zurückkommen, man müsse nur abwarten und wer jetzt abreiße, habe bald ein echtes Kapazitätsproblem. Maurer hält diesen Einwand schlicht für "idiotisch".

Der sonst so ruhig und gelassen spricht, würde jetzt am liebsten dem Herrn Professor ins Ohr brüllen: "Wollen Sie in einer Totenstadt leben?" Idiotisch, wiederholt Maurer und schimpft: Der hätte doch keine Ahnung, wisse doch gar nicht, was das kostet. Und wenn im Durchschnitt 22 Prozent der Wohnungen leerstehen, fehlen 22 Prozent der Mieteinnahmen. Und es ist ja nicht so, dass der Leerstand nichts kostet. Ab 50 Prozent ist ein Haus schlicht und ergreifend defizitär. Warum soll es dann stehen bleiben? Außerdem wisse niemand, wie lange so ein Plattenbau hält, erklärt Maurer schon ein wenig ruhiger, es gäbe da ja keine Erfahrungen. Die meisten rechnen mit 60 Jahren.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat vor kurzer Zeit die Ostberliner Platte inspiziert und danach befunden: "Die Platte ist besser als ihr Ruf". Dem schließt sich Hartmut Maurer gerne an.

Das Image der Silberhöhenplatte sei schlechter als die Wirklichkeit, beklagt auch Uta Gahr. Man sagt, es sei keine gute Adresse. Eine so schlimme gar, dass manche Arbeitgeber deswegen Bewerbungen absagen, erzählt man sich und lästert über die Silberhöhe, auch wenn man selbst noch nie da war.

Gleich neben dem frisch renovierten Edeka-Markt steht ein Asia-Imbiss, daneben ein Tisch, darum Männer, die sich an Bierbüchsen festhalten. "Mit der Presse reden wir nicht", sagen sie unisono, "die schreiben sowieso immer, dass hier nur Assis leben." Dabei stimme das gar nicht.

Jeder Zehnte lebt hier von Sozialhilfe, und 28 Prozent sind arbeitslos, aber "verglichen mit einzelnen Quartieren in Bremen ist das hier kein schlechtes Viertel", sagt Michael de Boor vom Sozialen Beratungsdienst Silberhöhe. Zusammen mit zwei anderen Sozialarbeitern kümmert er sich um die Sorgenkinder, die ihre Miete oder die Stromrechnung nicht mehr bezahlen können. Immer wieder sagt Michael de Boor "Fremdzuschreibung" und meint damit, dass gerade westdeutsche Beamte oder Journalisten reflexartig an "soziale Notstandsgebiete" denken, wenn sie einen Plattenbau erblicken. "Und die Leute glauben das auch noch."

Aber noch gibt es sie, die Platte-Enthusiasten, die hier nie wegziehen würden. In der Querfurter Straße hat die HWG ein ganzes Haus "leergezogen", es soll abgerissen werden. Von 19 Mietern, die raus mussten, wollten 17 wieder zurück in die Platte. Weil sie dort die Möbel an die gleiche Stelle platzieren können, vermutet de Boor. Doch die Platte-Liebhaber sind in der Minderheit. Für die meisten in Halle-Silberhöhe gilt: Wer Arbeit hat, hat Geld - und wer Geld hat, zieht weg. Da können Stadtteilfeste, die die Identifikation der Mieter mit ihrem Stadtteil fördern sollen, herzlich wenig ausrichten. Bittere Erkenntnis der Vermieter: Hüpfburgen schützen vor Leerstand nicht. Manchmal fühlt sich Michael de Boor an das Ende der DDR erinnert und an diese Stimmung, in der viele dachten: "Wenn ich jetzt nicht gehe, bin ich bald der, der das Licht ausmacht."

Mehr als ein Viertel derer, die der Stadt den Rücken kehrten, zog es in die alten Bundesländer, und fast die Hälfte der Abgewanderten hat die Stadt an den umliegenden Saalkreis verloren, wo sie jetzt dicht an dicht in schmucken Eigenheimen leben. In den vergangenen zehn Jahren förderte man vor allem den Neubau von Wohnraum. Unter Kohl wurde geklotzt wie zu DDR-Zeiten. Nur niedriger wurde gebaut und noch weiter draußen, weit vor der Stadt, wo jetzt eine Reihenhaussiedlung neben der anderen steht - Platte horizontal, sozusagen. Viele geben vor allem diesen Trabantensiedlungen die Schuld am allgemein schlechten Vermietungsstand in der Stadt.

Uta Gahr mag keine Reihenhäuser. "Was im Elf-Geschosser übereinander wohnt, wohnt im Reihenhaus nebeneinander", sagt sie, "irgendwie ist doch beides Intensivhaltung." Sie möchte lieber ruhig schlafen können, dort, wo sie einfach Miete zahlt und sich keine Sorgen um die nächste Rate machen muss. Paradies Platte. Das mit dem Wohneigentum sei ohnehin Quatsch. "Wenn ich jetzt anfinge abzubezahlen, würde ich sowieso nicht mehr Eigentümer werden", sagt sie.

Ein alter Mann mit Hut streicht über den Parkplatz zwischen "leergezogenen" Wohnblocks - in der Hand ein rotes Brecheisen. Es ist lang, der Mann untersetzt. "Wollen doch mal sehen, ob die rausgehen", sagt er geschäftig und hebelt das Eisen zwischen die Pflastersteine. Die wären wunderbar, um den Schrebergarten zu verzieren - gelb und rot und gut erhalten -, und sind leider festbetoniert. "Schade", sagt der Alte.

Im Haus links wohnt niemand mehr. Vor ein paar Wochen zogen die letzten Mieter aus, sie waren die übrig gebliebenen Bewohner des Blocks. Neue kommen nicht. Nie wieder. Um ganz sicher zu gehen, sind die Fenster der ersten beiden Etagen mit Metallplatten verbarrikadiert. Der Rest der Fassade starrt vorwurfsvoll aus hohlen Augen, alle Fenster ausgebaut.

Am südlichsten Zipfel der Silberhöhe, Am Hohen Ufer, sollen alle Elf-Geschosser dem Erdboden gleich gemacht werden - die meisten noch in diesem Jahr. Das ist nicht schön, aber notwendig. Die meisten Wohnungsbaugesellschaften zieren sich, doch eine erkennt: Zaudern kostet. Es wird sich rechnen, den Leerstand abzureißen und an Wohnungen nur stehen zu lassen, was auch vermietet werden kann. Deshalb will sie loslegen, lieber heute als morgen dem Schrecken ins Auge blicken und die Kosten dafür sogar aus eigener Tasche zahlen. Augen zu und durch.

"Sollen se mal machen", sagt der Alte. Er wohnt in einem Block mit sechs Etagen und ihn interessiert eigentlich nur, wie lange der Abriss dauert und wie laut es wird, und um wie viel er dann seine Miete mindern kann. "Die da", sagt er und zeigt auf ein gardinenverhangenes Fenster im Block rechts, "die da, die machens richtig." Auch er würde so lange drinbleiben, bis sie ihm genau, und zwar ganz genau die Wohnung geben, die er haben will. Irgendwann werden die schon nervös werden.

Hohes Ufer, Nummer 41. Nur zwei Namensschilder hängen noch am Klingelbrett. Am Türrahmen klebt ein grün bedruckter Aufkleber: Wohnungsbaugesellschaft Frohe Zukunft.

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