Eine Zwei-Zimmer-Wohnung ist das letzte. Klein, eng, einsam. Die Wände kommen näher, erst langsam, dann rasant, und die Decke senkt sich, sie bröckelt und fällt und erdrückt. Alptraum-schlimm. Manche Menschen verbringen ihr ganzes Leben in Zwei-Zimmer-Wohnungen und kennen selbst nach Jahren von Nachbars nicht mehr als die "Welcome"-Fußmatte. Wer mit den Bewohnern des Hauses Kastanienallee 77, Berlin-Prenzlauer Berg, spricht, gewinnt schnell den Eindruck, dass es nichts Schlimmeres gibt, als ein Leben in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Haben gut reden, diese Künstler, Studenten, Lebensartisten. Wohnen zusammen in der "K77", einem Haus ohne Wohnungen, mit Gemeinschaftsbädern und Gemeinschaftsküche mitten in Berlin. Wohnen in kleinen Zimmern und doch im ganzen Haus. Erst als Besetzer, dann als Sanierer und heute als Erbpachtmieter - inzwischen in der dritten "Generation". Zehn Jahre geht das nun schon so.
Alles begann an einem warmen Junitag im Jahre 1992. Der "Omnibus für direkte Demokratie" fährt vor das leerstehende Haus in der Kastanienallee, und ein ominöses "NotärztInnen-Team der Vereinigten Varben Wawavox" - Aktivisten, Bekannte und Freunde, die an der Hochschule der Künste einander gefunden hatten - macht sich an der Fassade zu schaffen. Die Polizei lässt nicht lange auf sich warten, doch sie greift nicht ein, staunt erst mal, denn die Beamten treffen statt auf Steine werfende Autonome auf vermeintliche Notärzte, die in den offenen Fenstern des dreistöckigen Vorderhauses sitzen und "Fassaden-Theater" spielen. Die ein riesiges rotes Kreuz aus Stoffbahnen an der Frontseite befestigen und gerade ein überdimensionales Herz aus Pappmaché transplantieren, um dem sterbenden Haus in einer Notoperation wieder Leben einzuhauchen. Derweil kümmert sich der Anwalt der Wawavox-Gruppe um den verdutzten Einsatzleiter. "Was Sie hier sehen, erweckt vielleicht den Eindruck einer illegalen Hausbesetzung, es handelt sich jedoch um Kunst. Und die ist nach Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes frei, mithin höher zu bewerten als eine ehrenwerte Berliner Verwaltungsvorschrift", erklärt der Anwalt. Der Einsatzleiter nickt und die Polizei zieht wieder ab, besagt die Legende. Verbürgt ist jedoch, dass die Notärzte ihren ersten Sieg feierten, damals an diesem warmen 20. Juni 1992. Zehn Jahre später werden klappernd Teller auf den Hof getragen, Töpfe und Schüsseln, die Montagskochgruppe tischt Gemüsepfanne und Salat auf zum gemeinsamen Essen wie jeden Abend. Vorderhaus, Seitenflügel, Fabrik im zweiten Hinterhof und ganz hinten der große Schuppen - 23 Erwachsene und fünf Kinder wohnen hier ständig. Alle leben glücklich, zufrieden, sogar multikulturell und selbstverwaltet, treffen Entscheidungen im Plenum, essen gemeinsam und frönen der Kunst - kommunal und hippiesk. Naja. "Natürlich hat es hier auch immer wieder Zoff gegeben", sagt Gereon, Kunstbesetzer der ersten Stunde, inzwischen Anfang 30. Er weiß es zu genau, ist vor drei Jahren ausgezogen, im Streit. Inzwischen überlegt er aber, ob er es nicht wieder versuchen sollte. Denn im Vergleich zu einer Zwergen-WG habe so ein Wohnprojekt den großen Vorteil, dass sich Konflikte nicht personalisieren lassen. Kein Mensch hat den Überblick, wer den Dreck im Hausflur macht, wer stets den letzten Joghurt isst oder nie den Abwasch spült. Das erleichtert die Problemlösung. Doch auch Selbstverwaltung muss erst mal gelernt sein. Eine Zeit lang hing am Spülbecken ein Metermaß. "Spülen ist Kunst. Wer das nicht glaubt, kann gerne vorbeikommen, den Spülberg bekämpfen und signieren", schlug ein Bewohner einmal im Interview mit einer Kiezzeitung vor.
In den Wendewirren 1989 besetzten Hunderte Menschen Hunderte Häuser - auf der Suche nach der anderen Lebensform, nach billigem Wohnraum oder künstlerischem Freiraum, den sie dann auch gegen anrückende Staatsgewalt verteidigten. 1990 endete die Räumung von zwölf Häusern in der Mainzer Straße im Bezirk Friedrichshain in bürgerkriegsähnlichen Zuständen und brachte nicht nur die zarte rot-grüne Senatskoalition zum Platzen sondern auch den Traum von der neuen Besetzerkultur. Die Politik folgte fortan der "Berliner Linie": Jede neue Besetzungs-Initiative wird sofort unterbunden. Jeder neue Versuch ist damit eigentlich zwecklos - also irgendwie Kunst.
Das war der Trick, die geniale Idee der "Notärzte": "Liebe Polizei, das sieht für euch vielleicht gefährlich aus, es ist aber doch nur Kunst", erklärt Christoph, warum ihnen gelang, woran andere klanglos scheiterten. Er sitzt in der großen Wohnküche, die Beine stecken in einer kurzen Wildlederhose, der Haaransatz in der ersten Krise. Christoph ist Konzept-Künstler und Pionier, einer der Erst-Besetzer, von denen nur noch vier hier ständig wohnen und versuchen, den ursprünglichen Geist des Hauses am Leben zu halten. Sie wollten eine politische WG, eine Kommune, Atelierräume oder wie Christoph gleich den Alltag revolutionieren - an einem Ort, wo Kunst und Alltag ineinander fließen wie Gelb und Blau zu Grün. An einem Ort, wo Alltag zur Kunst wird und jeder Mensch zum Künstler, ganz im Sinne des "erweiterten Kunstbegriffs" von Joseph Beuys, ganz im Sinne der von ihm propagierten "Sozialen Plastik", erzählt Christoph. Dann hält er inne, fährt sich durch die kurzen braunen Haare und sagt: "Irgendwie hat der Alltag das alles etwas banalisiert." Es soll nicht nach Scheitern klingen, nicht nach: Die Revolution frisst ihre Künstler. Aber es ist eben nicht mehr ganz so wie früher - weniger anarchisch, mehr komfortabel.
"Legal oder nicht - darüber wollten wir erst gar nicht diskutieren. Wir wollten gleich wissen, ob so ein Projekt in Berlin politisch gewollt ist oder nicht", erinnert sich Gereon. Und so verhandelten sie mit Lokalpolitikern und der Wohnungsbaugesellschaft, den Alt- und den Neueigentümern und saßen mit am "Runden Tisch Instandbesetzung". Machten Ausstellungen, Theater und offene Partys und stellten sich den Nachbarn vor als die jungen Künstler zum Anfassen, die netten Nachbarn, die so gar nicht dem Klischee der furchterregenden Hausbesetzer entsprechen und obendrein das älteste Wohnhaus im Bezirk vorm sicheren Verfall retten. Auch wenn sich später ein noch älteres fand - Unterstützer gab es viele, sogar Wolfgang Thierse, der nur wenige Hundert Meter entfernt wohnt.
Öffentlichkeit herstellen, Druck machen, das konnten die Wawavöxe von Anbeginn. Es war ein friedlicher Morgen im Oktober 1993 - zumindest bis 6 Uhr 40. Das Haus schläft tief und fest, alles so still. Bis das Böse kommt: Hans Kirchenbauer, gemeiner Spekulant und übler Bursche. Der Eigentümer greift mit privatem Räumkommando an. Kettensägen röhren, Türen splittern, Gegenstände fliegen in den Hof und die Bewohner lösen die Alarmkette aus: Telefonieren, Wecken, Schreien. Minuten später sind Bewohner anderer Häuser da und auch die Polizei. Gemeinsam schlagen sie den Aggressor in die Flucht. Verkehrte Welt im Prenzlauer Berg: "Polizei hilft Hausbesetzern" - am nächsten Tag berichten die Lokalzeitungen aufgeregt über die merkwürdige Allianz. Der Runde Tisch protestiert, der Bausenator fordert Kirchenbauer auf, endlich zu verkaufen, der Kultursenator will sogar vermitteln und die "Notärzte" bringen das Thema endlich dahin, wo sie es haben wollten: auf die politische Agenda - Kirchenbauer ohne Chance. Und so verkaufte er die K 77 an "Umverteilen! Stiftung für eine solidarische Welt", die es den Bewohnern für 50 Jahre in Erbpacht überließ.
Geschafft! Das Haus gehörte ihnen, ganz legal. Blieb nur noch die Sanierung. Sechs Jahre Leerstand gehen an keinem Haus spurlos vorüber, doch bislang hatten die Bewohner nur provisorische Reparaturen erledigt: abenteuerliche Ofenkonstruktionen gebaut, olle Fenster eingesetzt und Strom vom netten Nachbarn geborgt - alles Frickelei. Jetzt kamen drei lange Jahre Leben auf der Baustelle, Sanieren in Selbsthilfe. Der Senat steuerte über 80 Prozent der Baukosten bei, der Rest musste durch eigene Arbeitsleistung aufgebracht werden. Heute strahlt das Haus - vorne in zartgrün, hinten in rot, der Seitenflügel ist gelb, der Hof begrünt und das Dach des Hinterhauses auch.
"Es war verdammt viel Arbeit und mit der Zeit ließ auch der Elan stark nach", sagt Gereon und erzählt auf dem Rundgang, was wie wo gebaut, verändert und erhalten wurde. Für den Gemeinschaftsraum im Vorderhaus haben sie drei Zimmer zusammengelegt. Riesige Herde und Regale mit Einweckgläsern voller Gewürzen säumen den Weg zum Gemeinschaftsbad im Seitenflügel, das "Schöner Wohnen"-Leser entzücken könnte - ein Prunkstück, mit zwei Badewannen, Riesendusche und Lichtband in geschwungenen Wänden. Der Gang führt weiter ins Hinterhaus, das fast völlig entkernt werden musste, das heute ganz oben den Dachgarten hat, ganz unten die Waschküche, dazwischen Zimmer und die Bibliothek.
Über neunzig Menschen haben im Lauf der Zeit in der K77 schon gewohnt, und wer auszieht und viel Arbeit investiert hat, nimmt nichts mit. Das Haus ist immer in den Händen derjenigen, die hier leben. 100 Euro Miete zahlen sie pro Person, plus 100 Euro Nebenkosten, ein Preis, in dem Internet, Essen und auch Waschpulver enthalten ist. "Es ist zeitaufwändig, hier zu wohnen", sagt Christoph, "es gibt einfach viel Ablenkung." Alles was man bräuchte sei die Bereitschaft, sich auf Menschen einzulassen. Das müsse man schon morgens in der Gemeinschaftsküche, abends beim Essen und jeden Dienstag im Plenum. Dann setzen sie sich zusammen und dann auseinander, diskutieren Ideen, besprechen Probleme und müssen alles im Konsens entscheiden. Jede Meinung wird gehört, jede Stimme zählt. Wer Plena hält, darf keine Eile haben. Und so kann es mitunter lange dauern, bis sich wirklich alle Bewohner zu einer Position durchringen, zumal jeder sein Veto einlegen kann. So wurde jahrelang gestritten, ob man die Kunst des Spülens nicht auch einer Spülmaschine anvertrauen könne. Das letzte Veto fiel erst mit dem Auszug der letzten Verfechterin manueller Hausarbeit.
Ein Highlight unter den Dauersitzungen ist das Plenum zur neuen Zimmerverteilung. Alle zwei Jahre wird der Wohnraum unter den 23 Personen neu vergeben, es herrscht das Rotationsprinzip. Weil es auch nicht ganz so schöne Zimmer gibt, weil umziehen Ordnung schafft und weil das Haus so immer in Bewegung bleibt. Dann wird die große Tafel aufgestellt und ein Schlachtplan entworfen mit Pfeilen und Klebezetteln und endlosen Debatten. "Klar gibt es dabei immer Unstimmigkeiten, deswegen ist hier auch keinem der Gedanke ans Ausziehen fremd", sagt Christoph. Und so wird tatsächlich manchmal ein Zimmer frei, wenn jemand umzieht oder aufs Land. Dann darf jemand neues kandidieren, muss vier Wochen testwohnen. Denn bevor irgendwer aufgenommen wird in die große Familie, wird beraten und entschieden im Plenum. Es gibt keine harten Kriterien, es muss einfach passen. Wer aber kommt und sich erdreistet zu fragen, ob im Haus noch eine Zwei-Zimmer-Wohnung frei sei, kann gleich wieder gehen. Denn Zwei-Zimmer-Wohnungen sind das Letzte.
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