Flucht aus Wismar

Ritt ins Tal der Konjunktur Im Bus-Theater »Let´s go West 2003« werden Ostbürger zu Westernhelden

Wismar im März im Bus. Die Reiseleiterin stürmt ans Fenster, blickt suchend ins abenddunkle Wismar und ruft entsetzt: »Da draußen, da ist niemand. Wir sind die letzten.« Höchste Zeit, endlich abzuhauen.

Es ist eine traurige Geschichte. Eine Geschichte von Menschen ohne Arbeit und einer letzten Stadtrundfahrt durch eine Geisterstadt. Eine Geschichte von Verzweiflung und dem Aufbruch in ein besseres Leben. Die glorreichen Sieben - Sheriff, Puffmutter, Cowboy, Pfarrer, Opa, Kämpferin und Elender - satteln die Pferde und reiten gen Westen, im 18 Meter langen Reisebus. Warum? »Dort gibt es Arbeit und es wird nie kalt. Ihr braucht bloß die Hand auszustrecken und könnt euch überall eine Apfelsine pflücken«, verspricht der Opa frei nach John Steinbecks Früchte des Zorns.

Let´s go West 2003 ist eine Doku-Roadshow mit arbeitslosen Westernhelden, gespielt von Wismarern in einem mit Publikum gefüllten Bus, der durch Wismar fährt - von Osten nach Westen versteht sich. Zwischendurch werden auf zwei Fernsehern kurze Filme vorgeführt, die das echte Ich der Helden zeigen - sie sitzen da, wo sie früher saßen, an ihren Schreibtischen, in ihren Werkhallen und erzählen von ihrem früheren Job und den heutigen Ängsten. Dann vermischen sich Fiktion und Wirklichkeit, dann trifft reale Vergangenheit der echten Wismarer im Bus auf fiktionale Gegenwart der falschen Westernhelden. Das ist kein ABM-»Theater«, das ist ein aufregender Ritt ins Tal der Konjunktur - mal lustig und mal bittersüß beklemmend.

Ahnt man doch von Anbeginn: Diese Reise wird kein gutes Ende nehmen. Nach und nach dreht die Reiseleiterin durch, Opa stirbt und zum Schluss wird auch noch Elvis erschossen. Eine traurige Geschichte eben. Traurig auch, weil sie so wahr ist. Weil längst nicht alles nur Theater ist. Weil ein Viertel der Bewohner Wismars tatsächlich weggezogen ist. Und weil von den 45.000, die hier geblieben sind, noch immer 20 Prozent keine Arbeit haben.

Auch die glorreichen Sieben, allesamt Laiendarsteller, sind im wahren Leben arbeitslos. Sie haben sich auf einen Zeitungsbericht hin bei der Regisseurin Christine Umpfenbach gemeldet - aus Lust auf was Neues, aus Langeweile oder weil die Decke drohte auf den Kopf zu fallen. Arbeitslos und Spaß dabei - das geht in Wismar nur mit Helmpflicht. Allein die Reiseleiterin übt ihren Beruf aus - als freischaffende Schauspielerin. »Freischaffend klingt besser als arbeitslos, aber im Grunde ist es dasselbe«, sagt sie. Wismar ist eben keine Theaterhochburg, sondern Arbeiterstadt, und selbst das stimmt heute nicht mehr.

Im Fernseh-Film sitzt Astrid Wolfram, blond und Ende 40, an ihrem ehemaligen Schreibtisch in der ehemaligen HO-Gebietsleitung. HO wurde Karstadt und Frau Wolfram arbeitslos. Sie erzählt von ihrer Angst, dass es hier bald nur noch ein paar Sommerhäuser geben wird für Geschäftsleute und ein paar Arztpraxen für die kleinen Wehwehchen. »Die Menschen gehen. Und zwar unsere Besten.«

Im Bus dröhnt dramatische Musik, die Tür öffnet sich und Frau Wolfram steigt in ebenfalls dramatischem Zeitlupentempo ein - verkleidet als Puffmutter, mit sechs Koffern im Gepäck und auf den Wangen sehr viel Rouge. »Für den Westler liegt der Osten am nächsten - aber nur, wenn er ein Seebad nehmen will. Und wo mal Acker war, wächst jetzt Gras«, ruft sie durch den Gang und erntet viel Nicken vom heimischen Publikum.

Früher, zum Ende der DDR, war Wismar nicht viel mehr als ein Kaff - verrottet, verfallen und grau. Vermutlich hatten die Leute damals weit mehr Grund, abzuhauen. Aber das war eben nicht so einfach. Im Zentrum erinnert heute nur noch wenig an diese Zeit. Die feinen Kaufmannshäuser sind saniert und bunt gestrichen, die Stadt ist hübsch herausgeputzt und inzwischen sogar ins Weltkulturerbe aufgenommen. So sieht es überall aus, als wäre alles gut. Alles so freundlich und farbenfroh. Doch als der Bus rings um den prächtigen Marktplatz gondelt, mit Wasserwunder, Rathaus und reichlich hanseatischer Fassade, doziert die freundlich-strenge Reiseleiterin: »Das Zentrum der Marktwirtschaft - heute einer der größten Parkplätze Nordostdeutschlands.« Kein Markt nur Parken. Man kann gut parken in Wismar und das freut die Touristen. Doch vom Geld der Besucher kann keine Stadt leben und so hätte es mancher Wismarer vorgezogen, man hätte seinen Arbeitsplatz unter den Schutz der Unesco gestellt.

Vorbei am ehemaligen Ingenieurhochbauamt - einst Arbeitsplatz für 500 Menschen, heute leer und verlassen, links die geschlossene Zuckerfabrik, rechts das abgewickelte Getränkekombinat, dort drüben die abgebrannte Papierfabrik und das Arbeitsamt, groß und frisch renoviert, residiert in der einstigen Poliklinik. Es gibt nicht mehr viel zu tun in dieser Stadt. Und dabei hat bisher noch niemand die Werft erwähnt.

Der Bus hält hinter einem Einkaufsmarkt. Der Sheriff steigt zu - mit Schnauzbart und Cowboyhut und wieder im Zeitlupentempo - und befragt die Reisenden im breitesten Platt nach zu verzollender Ware. Ordnung muss sein auch auf der Flucht. »Wieso verlassen Sie Wismar? Was wollen Sie im Westen? Sind Sie Mitglied einer kommunistischen Partei?« will er wissen.

Im Film trägt Eberhard Rehfeldt über den weißgrauen Haaren nicht Cowboyhut, sondern eine braune Ledermütze. Er blickt sich hilflos um in der riesigen leeren Halle und sagt: »Hier hätte ich alt werden können.« Die Halle gehörte zum Betrieb Fleischwaren Wismar, in dem Rehfeldt als Betriebstischler beschäftigt war. Heute braucht niemand mehr Betriebstischler. Wenn es etwas zu tischlern gibt, dann wird eben eine fremde Firma beauftragt. Und so hat man die Arbeit outgesourct und ihn zum Arbeitsamt geschickt. Von dem einstigen Großbetrieb blieben nur zwei Bereiche: Zerlegung und Verwurstung. Der Rest steht leer.

Wenn er die Wahl hätte, erzählt Rehfeldt, würde er gerne wieder in einer Tischlerei arbeiten. Und wenn er das Geld hätte, würde er sich weit weg von Wismar ein Häuschen kaufen. »Und dann könnten sie mir alle mal den Buckel runter rutschen.« Er ist schon über 50 - das ist das Problem, egal ob Osten oder Westen. In dem Alter hilft auch Abwandern nicht weiter.

Im Bus singt man inzwischen gemeinsam und voll Inbrunst das Lied »So ein toller Tag«. Es geht um Faulenzen im Park. Das Original stammt von Lou Reed, der seinen »perfect day« im Park nicht nur mit der Geliebten oder einem arbeitslosen Freund totschlug - Reeds große Liebe hieß unter anderem Heroin. Soweit muss es ja nicht kommen.

Der »Elende« rennt derweil im Bus auf und ab, als wäre er auf Speed. Er trägt ein lila Krokodilshemd, einen Aktenkoffer und schlimme Cowboystiefel. »Beim Arbeitsamt haben sie gesagt: Wenn du in den Westen willst, lern erst mal Englisch und sei flexibel«, ruft er in die Reihen. Also ist er jeden Abend in die Volkshochschule gegangen. Zum Englischkurs. »Tibby loves Toby.«

Im wahren Leben haben sie ihm, Fred Fischer, 29 Jahre alt und Schiffbauer, auf dem Arbeitsamt gesagt: »Sie machen jetzt diese Umschulung zum Schiffsisolierer, sonst kürzen wir das Geld.« Dabei hat Fischer doch diese Augenkrankheit, die ihn nicht mehr räumlich sehen lässt. Ob Schiffbauer oder Schiffisolierer - räumlich sehen muss man in beiden Jobs. Aber das hat das Amt nicht interessiert. Also wird Fischer umgeschult und weil ein räumlich nicht sehender Schiffsisolierer nicht angestellt wird, welch Überraschung, ist er danach wieder zum Amt gegangen - wegen einer neuen Umschulung. »Sie hatten doch gerade. In drei Jahren vielleicht«, hat es geheißen. Hoffnung macht man anders.

Der Westernbus kurvt langsam über eine riesige Freifläche, die offensichtlich noch immer darauf wartet, dass endlich Gewerbe auf ihr siedelt. Auch sie gäbe einen prima Parkplatz ab. Vor dem dunklen Horizont zeichnen sich die mächtigen Hallen der Werft ab. »Drei stehen zum Verkauf, in den verbliebenen arbeiten heute noch 1.300 Mitarbeiter«, flötet die Reiseleiterin ins Mikrofon. »Früher waren es mal 7.000.«

Früher! Als Wismar und Werft noch zusammengehörten, unzertrennlich, wie Pausenbrot und Butter. Früher! Als der Titel »Zweitgrößte Hafenstadt Mecklenburg-Vorpommerns« sogar noch was wert war. Früher! Als Fred Fischer auf der Werft seine Ausbildung machte. Er wollte Schiffe bauen, wie sein Vater. Als er ausgelernt hatte, kam die Wende und er durfte gehen. Sein Vater arbeitet noch immer hier. Aber was heißt das schon: Demnächst werden noch einmal 400 Leute entlassen, hat ihm der Vater erzählt.

»Ich tu ja was, bin flexibel, wie man so sagt«, sagt Fred Fischer. Acht Jahre Lübeck, Fischladen, täglich hin und zurück. Und wofür? Die Leiterin des Wismarer Arbeitsamtes sagt, selbst in den alten Ländern sei es nicht mehr so leicht, einen Job zu finden. Deshalb würden sich inzwischen auch immer mehr Pendler arbeitslos melden.

»I´m the misery«, ruft der Elende. »Keiner braucht mich.« - »Heul nicht. Tu was«, schmettert die »Kämpferin« durch ihr Megafon. Sie trägt Palästinensertuch. »Was denn?«, ruft der Elende. »Kämpfe!«, schreit die Kämpferin. »Gegen wen denn?« - »Ich kann euch nicht sagen, was ihr tun sollt. Und wer Schuld ist an allem«, ruft die Kämpferin. Eigentlich wollte sie eine bewegende Rede halten, aber auch ihr ist nichts mehr eingefallen. Zu allem Unglück findet der Ost-West-Treck ein jähes Ende. Nicht im goldenen Westen, sondern in der Marlboro-Kulisse. Die Situation gerät außer Kontrolle und die Reiseleiterin erschießt stellvertretend Elvis. Es ist einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist.

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