Es war der erste sonnenwarme Tag im Frühling. Es war gerade ein Jahr Frieden. Es war Montag, der 11. Mai, - ein Schicksalstag für Heinz-Joachim Schmidtchen. Achtzehn Jahre alt war er. Stand vor der sowjetischen Kommandantur im Berliner Prenzlauer Berg und diskutierte mit dem russischen Posten. "Ich sollte mich doch hier melden, heute", hat er dem Posten gesagt. Verschwinden soll er, hat der geantwortet und ihm beinahe in den Hintern getreten. "Passant, dawaj", rief plötzlich der Posten, als Schmidtchen gerade gehen wollte, winkte ihn zu sich und telefonierte. "Na, zehn Minuten später wusste ich, das war blöd von mir", erinnert sich Schmidtchen.
Der Ausblick von der Terrasse des Restaurants stimmt versöhnlich. Glatt strömt die Elbe in Richtung Nordwest. Als hätte jemand Folie über sie gespannt. Links und rechts des Ufers grünen Auen - hier im Biosphären-Reservat Mittlere Elbe bei Dessau. Heinz-Joachim Schmidtchen nippt an der Apfelschorle. Urlaub.
Es ist ein sonnenwarmer Tag im Mai. Die Vereinigung von KPD und SPD ist seit 55 Jahren Geschichte, die Entschuldigung der PDS-Politikerinnen Petra Pau und Gabi Zimmer bei den Opfern der Fusion seit einem Monat auch. "Das kann´s nicht sein", sagt Schmidtchen, der als SPD-Sympathisant gegen die Vereinigung war. "Den vielen, die wie ich acht Jahre in Haft verbringen mussten oder sogar in Haft gestorben sind, denen ist mit so ein paar Worten nicht geholfen." Bitter sagt er das und streicht sich über den Bart, Modell Ulbricht.
Das Plakat
"KPD + SPD = Diktatur" stand auf den Plakaten, mehr nicht. Offizielle SPD-Plakate, 50 Stück aus Westberlin, geklebt an markanten Punkten im Bezirk Prenzlauer Berg. "Das war doch nichts Illegales", sagt Schmidtchen, man musste doch offen seine Meinung sagen dürfen."
Man mag es naiv nennen, gutgläubig - oder einfach nur blöd? Plakate kleben! Aus Westberlin! Im Osten! "Wollten die nun ein demokratisches Deutschland aufbauen, oder nicht?", fragt Schmidtchen.
Andere fragen: "War es denn überhaupt eine Zwangsvereinigung", trotz aller Zwänge und Opfer, oder folgten viele einfach "dem Zwang ihrer Herzen", dem Wunsch nach einer vereinigten deutschen Linken. In den Leserbriefspalten deutscher Tageszeitungen tobt noch immer die Debatte. Es gibt immer viele Wahrheiten. Doch hier geht es nur um Schmidtchens. Seine Wahrheit, seine Geschichte.
Der Posten an der Kommandantur brachte ihn zu einem russischen Major. Der sprach von Gruppenbildung, sprach von den Plakaten und sagte zu Schmidtchen, er könne jetzt ruhig alles zugeben, seine Freunde hätten ja alles erzählt. Zugeben? Was denn? Als der Major mit ihm fertig war, saß Schmidtchen im Keller. An der Wand eine Birne, in der Zelle 16 andere Gestalten. Im Schummerlicht erkannte er wenig, nur dass alle lange Bärte trugen und die Haare frisch geschoren waren. "Sie hatten Wunden am ganzen Körper", sagt Schmidtchen mit leiser Stimme. Sein Atem wird schwerer, als würde ihm allein die Erinnerung an den Gestank in der Zelle die Luft nehmen.
Ein Bärtiger fragte ihn: "Na, Junge, was haste denn ausjefressen?" Der Junge erzählte und sagte am Schluss voller Hoffnung: "Naja, morgen bin ich wohl wieder draußen." Doch der Alte erwiderte: "Wer hier drin ist, kommt nicht wieder raus." - "Und so war es dann ja auch", sagt Schmidtchen lakonisch. Dabei war er noch nicht einmal direkt dabei. Er wusste davon, hatte mitgeplant, hatte den Leim mit angerührt, aber auf zwei Krücken war er wenig hilfreich. Auf denen humpelte er, seit er in den letzten Kriegstagen verwundet worden war.
Schon im Herbst ´45 waren Bekannte von Schmidtchen verschwunden. Warum, wusste niemand. "Da wurden wir hellhörig", sagt er. "Fallen wir jetzt von einer Diktatur in die nächste?" Einige alte Sozialdemokraten sprachen davon auf den Versammlungen und Wahlveranstaltungen, zu denen Schmidtchen und seine Freunde regelmäßig gingen. Da wurde heiß diskutiert, ob man sich mit der KPD vereinigen sollte oder nicht. "Es gab nicht wenige, die gesagt haben: Vereint wären wir stärker." Doch immer wieder hätten die Älteren gewarnt: "Die Russen werden das nur benutzen und uns erneut unterdrücken." Für Schmidtchen war klar, er war dagegen. Spätestens seit er die Gruppe Ulbricht auf einer Matinee im "Saalbau Friedrichshain" erlebt hatte. "Da wurde uns Jungs Angst und Bange", sagt er, "die markigen Sprüche und dieser Ton waren uns suspekt. Die gaben den Weg vor, da brauchte man nicht diskutieren."
Das Protokoll
Eine dreckige Emaille-Schüssel stand auf dem Zellenboden, zum Waschen und für die Suppe. Eine Schüssel, 17 Männer, massenhaft Ungeziefer. Schmidtchen konnte nicht - er aß nichts und wusch sich nicht. Immer wieder holte man einen zum Verhör - aufrecht kam keiner zurück. Eines Tages holten sie auch Schmidtchen. Zwar las ihm die Dolmetscherin das Protokoll vor, doch er verstand ihre Sprache nicht. Und als ihr die Fäuste nicht mehr genügten, schlug sie ihm mit dem Absatz ihrer Schuhe in den Nacken. Schmidtchen unterschrieb. Erst heute weiß er, was im Protokoll stand.
Mittag, hungrige Ausflügler sitzen in der Sonne und essen bürgerlich. Heinz-Joachim Schmidtchen beugt sich über den Tisch, zieht einen Stapel Papier aus dem Umschlag und beginnt, hektisch zu blättern. 50 Jahre lang lagen seine Vernehmungsakten im Archiv in Omsk, bis sie ihm ein russischer Staatsanwalt schickte. Nervös fliegt sein Zeigefinger über Zeilen. "Hier", sagt Schmidtchen plötzlich und zitiert: "In eine pro-faschistische illegale Organisation eingetretenes Mitglied, welche eine provokative, gegen die SED und deren Maßnahmen zur Wiedergeburt eines demokratischen Deutschland gerichtete Tätigkeit betreibt." Woraus diese Tätigkeit bestanden haben soll, erfährt man in dem ganzen Protokoll nicht. "Nun musste man ja irgendwie begründen, warum man uns einsperrte", sagt Schmidtchen und rückt sich umständlich die Sonnenbrille zurecht. "Wer gegen den Zusammenschluss zweier demokratischer Parteien ist, muss ja wohl ein Nazi sein, haben sie dann konstruiert."
Am 25. Juni, sechs Wochen saß Schmidtchen schon im Keller, bekam er eine neue Jacke, eine neue Hose und die Hoffnung, endlich freigelassen zu werden. Rein in den Nebenraum, raus auf den Hof - rauf auf den Lkw. "Wird wohl doch nichts mit nach Hause", wusste er da. Zwei Posten bezogen Stellung auf der Ladefläche. Am Ende fand sich Schmidtchen in Sachsenhausen wieder, im sowjetischen Speziallager Nr. 7 des NKWD für Kriegsverbrecher, Nazis und Kriminelle. Aber was hieß das schon.
Schmidtchen hatte Glück. Er durfte arbeiten. Als Läufer im Lkw-Reparaturbetrieb kam er nicht selten an der Bäckerei vorbei oder durch die Küche, wo er sich manchmal etwas zu Essen beschaffen konnte. So überstand er die Lagerzeit, während andere verhungerten. "Die Leute draußen hatten ja auch nicht viel", sagt Schmidtchen, aber als die Ration im Winter ´46 noch einmal halbiert wurde, "da starben die Leute wie die Fliegen".
Der Prozess
Im Januar 1950 wurden viele entlassen. Die Übrigen transportierte man nach Waldheim, auch Schmidtchen. Endlich, nach vier Jahren durfte er die erste Nachricht nach draußen schicken - kümmerliche zwölf Zeilen an die Welt. "So erfuhren die Eltern überhaupt erst, wo ich abgeblieben war", sagt Schmidtchen. In Waldheim wurde er von einem jungen Mann vernommen. "Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was Sie mir sagen, dann sind Sie in vier Wochen zu Hause", hatte der sehr freundlich gesagt. "War wieder nichts", sagt Schmidtchen. Stattdessen wurde er wenig später in einen Raum gebracht, wo ein Richter saß, ein paar Schöffen und ein Staatsanwalt. Plötzlich war Schmidtchen ein Riesen-Nazi, zwanzig Jahre älter und hatte einen anderen Namen. "Eine Verwechslung", protestierte Schmidtchen beim Richter. Doch der guckte nur böse und sagte zum Polizisten: "Schließen." Nach vier Wochen stand er wieder vor Gericht, und zwanzig Minuten später war er schon verurteilt zu zehn Jahren Gefängnis - wegen illegaler Gruppenbildung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte. Einziges Beweismittel: ein Fünf-Zeilen-Substrat aus den russischen Protokollen. Auf diese Weise wurden in den Waldheim-Prozessen von April bis Juli 1950 etwa 3.400 Menschen verurteilt. Auch Kriegsverbrecher. Die Statistik weist sie mehrheitlich als Nazis aus. "Statistik verfälscht immer", sagt Schmidtchen, "denn der Statistik nach bin ich auch Nazi."
Nach der Entlassung ging Schmidtchen gleich zu einem SPD-Verband in Westberlin. "Als ich denen alles geschildert hatte, haben die mich ganz zweifelnd angesehen", erzählt er. Wenig später, er war nach Baden-Württemberg gezogen, scheiterte auch der zweite Anlauf. Er hat nie wieder davon erzählt. Zu groß war die Angst, noch einmal würde ihm jemand unterstellen, er wolle sich nur interessant machen. Doch seine Frau, die hat ihn damals verstanden. Er hatte sie im Gefängnis in Waldheim kennen gelernt, später war sie ihm in den Westen gefolgt.
Das Pardon
"Wenn die PDS wenigstens Geld in eine Stiftung einbrächte, damit denen geholfen werden kann, denen es schlecht geht - das wäre ein Angebot", sagt Schmidtchen. Ein besseres jedenfalls, als ein paar Worte der Entschuldigung, besser auch als der Vorschlag der CDU, Opfern eine Ehren-Rente zu gewähren. "Ich verzichte auf die Ehren-Rente. Ich möchte nur, dass nicht jeder Dackel sagen kann: Das waren Täter." Richtig wütend wird Schmidtchen, wenn er Egon Krenz, der wegen der Mauertoten verurteilt worden ist, von Siegerjustiz sprechen hört. "Ich wäre froh gewesen, hätte ich auch nur ein Zehntel der Rechte vor Gericht zugebilligt bekommen, wie er jetzt", sagt er wütend.
Auf der Elbe kämpft sich ein Schleppkahn stromaufwärts, die Sonne sticht und Heinz-Joachim Schmidtchen schweigt. Zwei Stunden hat er erklärt, erzählt und mit Erinnerungen gerungen, die ihn nicht in Ruhe lassen wollen. Er will eine Gedenktafel anbringen an der ehemaligen Kommandantur im Prenzlauer Berg, dort, wo alles begann. Sie soll an das Unrecht erinnern, daran, dass hier einmal Menschen eingesperrt wurden. Wolfgang Thierse hat Geld zugesagt, Marianne Birthler Unterstützung, der Bürgermeister ist dafür, aber es dauert.
Manchmal fragt sich Schmidtchen, was wohl passiert wäre, wenn er doch nach Westberlin abgehauen wäre, damals, als seine Freunde schon verhaftet waren. "Junge, hau ab, so lange du noch kannst", haben andere zu ihm gesagt. Auch als der deutsche Polizist kam und sagte: "Junge, am Montag meldest du dich auf der Kommandantur", ist er nicht abgetaucht. Schmidtchen beschloss: "Ich gehe nicht nach Westberlin, was soll mir denn passieren?" Es war der erste sonnenwarme Tag im Frühling. Es war gerade ein Jahr Frieden.n
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