Erinnert sich eigentlich noch jemand an den Palast der Republik? An diesen braunen Koloss aus bulgarischem Marmor und belgischem Bronze-Glas, der wie ein räudiger Hinterhofkater fett und tatenlos in der Mitte Berlins herumlag und von dem einige meinten, dass er die Sicht von Ost nach West und West nach Ost versperren würde. Seit fast drei Jahren ist er nicht mehr da. An seine Stelle ist eine grüne Wiese getreten. Und die Mitte der deutschen Hauptstadt, sie bleibt zu Beginn des 3. Vereinigungsjahrzehnts bis auf weiteres: Leer.
Vor 20 Jahren hat der Bundestag mit einer knappen Mehrheit für den Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin votiert. In den darauffolgenden Jahren gab es kaum Debatten, die Politik und Medien so beschäftigt haben wie die Suche nach neuen, repr&
uen, repräsentativen Geschichtsorten. Stadtschloss oder Palast? Holocaust-Mahnmal oder „Topographie des Terrors“? Das neue Kanzleramt und die Verhüllung des Reichstages. Die „Berliner Republik“ schien besessen von solchen Symbolen zu sein. Beinahe fiebrig suchte sie (mit westdeutschen Augen?) nach Antworten auf die noch offenen Fragen der deutschen Geschichte, die 1945 offiziell beendet war.Was aber ist eigentlich mit jener Vergangenheit passiert, die erst im Herbst 1989 aufhörte zu existieren? Wie steht es um die Gegenwart des wiedervereinigten Berlin? Vom Geschichtsgefühl der neunziger Jahre jedenfalls ist die grüne Wiese im Zentrum der Hauptstadt weit entfernt. Was aber ist stattdessen?Ein deutsches ArkadienVor zehn Jahren, als die Regierung dann kam, galt Berlin vielen noch als ein euphorisches Versprechen, so ungeschlacht und unbeschrieben wie es war. Kaum mehr als ein urbaner Klumpen im märkischen Sand. Ein Sehnsuchtsort, ein deutsches Arkadien. Mittlerweile sind all die Lücken und Brachen, die Leerstellen und Narben, in denen es sich so schön Techno tanzen ließ, in Windeseile aus dem Stadtbild verschwunden. Statt neuer Ideen oft nur die alten Strukturen. In derselben Zeit gab Berlin vielen Asyl. Mit der Regierung kamen die Medien aus München, Frankfurt und Hamburg. Es kamen junge Menschen aus Thüringen und Nordrhein-Westfalen, aus New York, Buenos Aires, Moskau und Tokio. Am Kudamm spricht man heute russisch, am Hackeschen Markt dagegen englisch. Als letztes, und immer mehr, kommen die Touristen.Die Berliner selbst gerieten dabei fast in Vergessenheit. Sie wurden an den Rand gedrängt. Die Deutungshoheit über ihre Stadt lag in den Händen der Zugereisten. Bewundernswert ist der Langmut, mit dem sie das ertrugen. Vielleicht aber ist es ihnen auch recht gewesen. Es hat sie von sich selber abgelenkt. Die Ostberliner Seele ist auf diesem Weg verloren gegangen. Noch hat sie ihre Sprache nicht wiedergefunden. Die Westberliner Seele dagegen wirkt gekränkt. Sie hat sich in sich verkapselt, lebt zurückgezogen und schwelgt gern in alten Zeiten. Nur ab und zu einmal ruft sie wie ein altkluges Kind, dass es doch auch den Kudamm noch gäbe und das, das, das KadeWe! Ach, ja.Heimatlos erscheinen sie dabei alle. Die alten Ost- und Westberliner und die Zugereisten. Insgeheim fragt sich mancher von ihnen, ob er seine letzte Ruhe tatsächlich unter märkischen Kiefern finden soll Ihre Geschichten und Biografien treten in der Hauptstadt wie Geschwister nebeneinander. Das muss ja nicht das Schlechteste sein. Aber noch nivellieren sie sich gegenseitig und finden Frieden allenfalls in einer großen Notgemeinschaft von Schicksalslosen.Mehr verwaltet als regiertDass die Stadt seit zehn Jahren von einem rot-roten Senat mehr verwaltet als regiert wird, diese Tatsache gerät dabei fast in den Hintergrund. Klaus Wowereit, der ein wenig in die Jahre gekommene Tanzbär, hätte Berlin, sagen manche, mit diesem realpolitischen Schritt befriedet. Das mag sein, wahrscheinlich hat er sie allenfalls vor Schlimmerem bewahrt. Nach dem Berliner Bankenskandal blieb ihm nichts anderes übrig. Die Westberliner CDU war diskreditiert; die PDS inzwischen zu einer Ostberliner CSU geworden. Wowereit hat die Stadt in Ruhe gelassen. Das bleibt seine große historische Tat. Er hat die Gräben weder zugeschüttet noch aufgefrischt. Ein langmütiger Berliner durch und durch, hat er sie beiseite geschoben, und nun liegen sie, wenngleich ein wenig abseits, noch immer da. Und die alten, neuen Fragen, sie bleiben.Wenn im September die Senatswahlen anstehen, werden sich viele die Augen reiben. Es ist ein rein westdeutsches Personal, das sich zur Wahl stellt. Renate Künast, Frank Henkel, Harald Wolf, Klaus Wowereit. In unsicheren Zeiten greift man eben gern auf Altbekanntes zurück. Es gibt offensichtlich niemanden mehr, der daran glaubt, dass in Berlin zusammenkommt, was zusammengehört. Die Stadt wirft das weit hinter ihren Selbstanspruch zurück. Heute gilt mehr denn je: Die noch offenen Fragen der Stadt können nur vom Osten beantwortet werden. Dort ging eine Welt verloren, von dort aus müsste eine neue gefunden und gedacht werden. Das ist beinahe so einfach wie eine mathematische Gleichung.Wie sehr wünschte man sich einen urbanen, linken, klugen und zutiefst gegenwärtigen Spitzenkandidaten, der die Berliner Zustände mal wieder zum Tanzen brächte. Aber warum ist da niemand, wo eigentlich jemand sein müsste? Nicht bei der SPD, nicht bei der Linkspartei und auch nicht bei den Grünen.