Das Abendland im Krieg mit der Barbarei

HITLERS VERNICHTUNGSSCHLACHT GEGEN DIE SOWJETUNION Ein Überleben der Kriegsgefangenen war nicht vorgesehen

Die Zahlen sind grauenhaft: mehr als dreieinhalb Millionen sowjetischer Kriegsgefangener starben während des Zweiten Weltkrieges, davon 1,5 Millionen in den ersten sechs Monate nach dem Überfall am 22. Juni 1941. Doch der Umgang von Naziführung und Wehrmacht mit den Gefangenen änderte sich, je länger der Krieg dauerte. In welchen Etappen das geschah, schildert der französische Autor Jean-Luc Bellanger in der jüngsten Ausgabe der Zeitung Le Patriote Résistant.

Als das »Unternehmens Barbarossa« begann, waren die antikommunistischen, antislawischen und antisemitischen Gefühle in der deutschen Bevölkerung bereits tief verwurzelt. Man musste die feindlichen Soldaten nur noch als »Untermenschen«, als »wilde bolschewistische Mörder« darstellen, um bei den Angehörigen der Wehrmachtssoldaten alle Skrupel auszuschließen. In den Kino-Wochenschauen wurden Bilder unrasierter, ungewaschener, in zerfetzten Uniformen gekleideter Gefangener gezeigt. Soldaten aus den asiatischen Sowjetrepubliken galten als bevorzugtes Motiv der Frontkameramänner. Das Klischee war eindeutig: Der mutige deutsche Soldat kämpfte im Namen der Zivilisation gegen schlimmste Barbarei.

Durch Hitlers Blitzkrieg waren in den ersten Monaten des Krieges im Osten etwa drei Millionen sowjetische Soldaten in Gefangenschaft geraten. Gab es dafür irgendwelche Vorkehrungen? Was Verpflegung anging - keine! Für die »Unterbringung« waren einige Manöverfelder auf Reichsgebiet vorgesehen, doch hatte Hitler zunächst untersagt, sowjetische Gefangene auf deutsches Gebiet zu verbringen und damit der Wehrmacht in den eroberten Gebieten die Verantwortung überlassen, »das Problem zu lösen«.

So mussten im Juli und August 1941 671.000 während der Einkreisungsschlachten von Bialystok und Smolensk in die Gewalt der Deutschen geratene Soldaten täglich 30 bis 40 Kilometer marschieren. Nachts wurden sie ohne Schutz in viel zu kleinen Umfriedungen zusammengepfercht. Ihre Nahrung - bestehend aus Brot und Hirse - hatte einen Kalorienwert zwischen 300 - maximal 700 - pro Tag.

Das Überleben dieser Gefangenen war die geringste Sorge der Naziführer. Sicher, es gab die Genfer Konvention von 1929 über die Behandlung von Kriegsgefangenen, aber die UdSSR hatte den Text nicht ratifiziert, was Deutschland zum Vorwand nahm, die entsprechenden Verpflichtungen zu ignorieren. Statt dessen gab es »Verordnungen gegen Kriminelle«, die unter anderen eine sofortige Erschießung von Politkommissaren befahlen. Die Wirklichkeit übertraf diese Praxis noch - der Tod einer möglichst großen Zahl von Kriegsgefangenen war Teil der von den Nazis gewünschten Entwicklung. Einer der Verantwortlichen - der Generalquartiermeister der Heeresgruppe Mitte - hat sich dazu im November 1941 klar geäußert: »Diejenigen, die nicht in den Gefangenenlagern arbeiten, sollen Hungers krepieren ...«

Die einzige Region, für die präzise Zahlen über sowjetische Kriegsgefangene vorliegen, ist das sogenannte »Generalgouvernement«, also der Teil Polens, der von den Nazis besetzt, aber nicht annektiert wurde. Ende 1941 waren dort 361.612 Soldaten interniert. Am 15. April 1942 lebten 292.560 davon nicht mehr, waren verhungert oder an Seuchen gestorben. 17.256 hatte der SD erschossen. Heute weiß man, dass von den 3.350.000 Gefangenen der ersten sechs Kriegsmonate 1941 60 Prozent - annähernd zwei Millionen - am 1. Februar 1942 nicht mehr am Leben waren.

Sachsenhausen und Buchenwald

Ein Indiz für die vorsätzliche Tötung sowjetischer Kriegsgefangener ist der Umstand, dass die Wehrmacht anfangs keine systematischen Listen der in ihre Gewalt geratenen Soldaten erstellte. Diejenigen, die an Ort und Stelle umkamen, verschwanden zunächst, ohne Spuren zu hinterlassen. Nachdem sich die sowjetische Regierung unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit bereit erklärt hatte, dem Internationalen Roten Kreuz (IRK) die Namen deutscher Kriegsgefangener mitzuteilen, vollzog am 2. Juli 1941 auch das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) einen gewissen Kurswechsel. Allerdings galt in den frontnahen Gebieten erst ab 1. Januar 1942 die Order, den Ort der Gefangennahme und den Tod sowjetischer Gefangener anzuzeigen. In der Regel jedoch wurden Überlebende erst mit ihrem Eintreffen im Reichsgebiet registriert.

Es existieren Karteikarten, die vor kurzem wieder auftauchten und - mit der Exaktheit einer deutschen Verwaltung geführt - neben persönlichen Daten jedes Gefangenen im Falle der Arbeitsfähigkeit auch die aufeinander folgenden Arbeitgeber auflisten. Dabei wurden ins Reichsgebiet deportierte Sowjetsoldaten nicht wie üblich in Camps mit Baracken interniert. Militärische Sperrgebiete, die als »Lager« vorgesehen waren, hatte man lediglich mit einem Stacheldrahtzaun umgeben. Auf dem jeweiligen Gelände selbst waren praktisch keine Vorkehrungen getroffen. So kam es, dass etwa die »Stalags« XI C, XI D und X D von Bergen-Belsen, Oerbke und Wietzendorf (bei Lüneburg) zu Orten des Leidens und Sterbens für Zehntausende wurden. Die Internierten fanden dort nur Stacheldraht, Wachtürme, Feldküchen und dünne Bretter vor. Wer physisch dazu in der Lage war, wurde außerhalb der Lager zur Arbeit befohlen. Die übrigen mussten sich auf den in Norddeutschland harten Winter vorbereiten. So kam es, dass Zehntausende monatelang in - ohne Spaten gegrabenen - Löchern aus Erde und Geäst Schutz suchen mussten. An Erfrierungen, Unterernährung und ansteckenden Krankheiten - vorrangig an Typhus und Ruhr - starben dadurch in drei Monaten mehr als 50.000 Menschen. Die Zahl dieser Toten wird noch um die Gefangenen erhöht, die in Sachsenhausen oder Buchenwald umkamen oder auf Schießplätzen der SS in Hebertshausen (nahe Dachau) und Neuengamme liquidiert wurden. Zu all diesen Verbrechen kamen Torturen wie die nächtliche Verstopfung der Erdhütten, um die Insassen zu ersticken, Züchtigungen oder für die SS inszenierte »Gladiatorenkämpfe« unter den Gefangenen um ein Schälchen Suppe.

Tote arbeiten nicht für die Wirtschaft

Hitler und seine fanatischen Paladine unterschätzten bekanntlich die Kraft und den Widerstandswillen der sowjetischen Völker. Die kaltblütige Ermordung von Millionen Menschen hatte nur Sinn, solange der »Blitzkrieg« einen schnellen Sieg verhieß. Die Millionen Kriegsgefangenen galten insofern nur als nutzlose Esser und überflüssiger Ballast. Ihr Verschwinden sollte für die Zukunft Platz zur Besiedelung, zur Germanisierung schaffen. Bald aber wurde klar, dass der Krieg dauern und in Deutschland einen Mangel an Arbeitskräften sowie Produktionsausfälle provozieren würde. Im Februar 1942 musste einer der Verantwortlichen des »Vierjahresplans« eingestehen: »Die augenblicklichen Schwierigkeiten im Arbeitskräftebereich wären nicht entstanden, hätte man sich rechtzeitig für einen Einsatz russischer Kriegsgefangener entschieden. Uns standen 3,9 Millionen Russen zur Verfügung, von denen nur 1,1 Millionen geblieben sind. Allein vom November 1941 bis zum Januar 1942 sind 500.000 Russen umgekommen. Die Zahl der derzeit beschäftigten russischen Gefangenen von 400.000 wird sich kaum steigern lassen.« Es war zu spät.

Bei der bisherigen Betrachtung sind Widerstand und Sabotage ausgeklammert geblieben, die es sporadisch in einigen Lagern wie Regionen gab. Man sollte die Wirkungen dieser im allgemeinen individuell und manchmal in Gruppen geführten Aktionen nicht überbewerten. Dennoch, die ursprüngliche Abneigung Hitlers gegen den Einsatz sowjetischer Arbeitskräfte auf deutschem Boden war - soweit sie sich darauf bezog - nicht ungerechtfertigt. Aus eigener Erfahrung - ich war während des Krieges nach Norddeutschland deportiert - kann ich nur bestätigen, die Haltung der sowjetischen Kriegsgefangenen war in ihrer Würde und Standfestigkeit beeindruckend. Das verfehlte seine Wirkung auf andere Häftlinge, auch auf die Wärter, nicht.

Tragisches Schicksal nach der Rückkehr

Die Doktrin Stalins wollte es, dass ein Soldat sich eher umbringen ließ, als lebend in die Hände des Feindes zu fallen. Ein Kriegsgefangener galt so als Verräter und Kollaborateur und wurde entsprechend behandelt. Nach den Worten von Sergej Ossipow - Vizepräsident der Kommission für die Kriegsgefangenen, Internierten und Verschollenen beim Präsidenten Russlands - haben die in ihre Heimat zurückgekehrten sowjetischen Gefangenen »ein doppelt tragisches Schicksal« erlitten. Es ist unmöglich, auch nur ungefähre Zahlen über die nach Kriegsende Verschwundenen zu erhalten. Dabei kommt als erschwerender Umstand hinzu, dass die Berechnung der Kriegsgefangenen in der UdSSR von der im Westen völlig abwich. Dort habe man, so die in Moskau Verantwortlichen, auch Mitglieder ziviler oder paramilitärischer Strukturen - also von Verwaltungen, aus Arbeitsbataillonen und Miliztruppen - in die Kalkulationen einbezogen, die sich nicht als Kriegsgefangene klassifizieren ließen. Der Versuch, dadurch die Zahl der Gefangenen zu verringern, überrascht. Aber es scheint gut, dass alle Historiker, die diese Frage untersuchen, sich über die Dimension einig sind: Es gab fast 5,7 Millionen Gefangene, von denen 3,3 bis 3,5 Millionen ums Leben kamen.

Übersetzung: Gudrun Eußner

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