Unter Weißen

Albino In Mali wurde Abdoulaye Coulibaly wegen seiner Hautfarbe verfolgt. In Madrid hat er ein neues Zuhause gefunden.
Ausgabe 52/2013

Als das Boot am Nachmittag des 29. März 2009 die Kanaren erreichte, fühlte er eine große Ruhe in sich aufsteigen. Eng gedrängt mit 60 anderen Flüchtlingen hatte Abdoulaye Coulibaly fünf Tage in einer Nussschale ausgeharrt, die nur für sechs Menschen gebaut worden war. Alle an Bord hatten ihr Leben riskiert, um von Mauretanien aus einen Strand der Europäischen Union zu erreichen. Als Einziger hatte Coulibaly aber Afrika nicht nur aus wirtschaftlicher Not verlassen, sondern weil er dort diskriminiert und gejagt wurde – wegen seiner hellen Haut.

Coulibaly ist Albino. Eine genetische Störung sorgt dafür, dass sein Körper praktisch keine Melanine, also keine Farbstoffe bilden kann. In seiner Heimat Mali, erzählt er, glauben viele Menschen, dass auf Menschen mit Albinismus ein Fluch liege, dass sie verhext seien. Wenn ein Unfall oder Unglück passiert und ein Albino in der Nähe ist, wird er schnell zum Sündenbock. Die „weißen Schwarzen“ oder die „Geister“ – wie sie genannt werden – finden deshalb nur selten Arbeit. Hinzu kommt ein Aberglaube, der Albino-Körperteilen magische Wirkung zuschreibt. Es gibt einen illegalen Markt, auf dem Finger, Hände, Blut, auch größere Hautstücke für Zehntausende US-Dollar gehandelt werden. Hexendoktoren machen regelrecht Jagd auf Albinos.

Wegen der Verfolgung und Diskriminierung wurde Coulibaly im Dezember 2009 als erstem Albino in Spanien Asyl gewährt. Sein Fall machte damals Schlagzeilen, die BBC berichtete. Heute, vier Jahre später, sitzt er in einem Café in Madrid und erinnert sich an sein früheres Leben. Der 26-Jährige macht dabei immer wieder längere Pausen zum Nachdenken. Und er spricht sehr sanft, leise – so als versuche er noch immer, in seiner Umgebung bloß nicht zu sehr aufzufallen.

Als Kind hätten mehrmals Männer versucht, ihn zu entführen, sagt er. „Sie griffen mich zunächst nicht an, sondern versuchten nett zu mir zu sein.“ Ein älterer Mann habe ihn überreden wollen, in sein Auto zu steigen. Er würde ihn nach Hause fahren. Als der Junge mit der weißen Haut Nein sagte, stieg der Mann aus und zerrte ihn zum Wagen. Coulibaly begann zu schreien und um sich zu schlagen. Andere Leute haben ihm geholfen, der Mann sei wütend in seinen Wagen gestiegen und davongerauscht. Ein anderes Mal habe ihm ein Mann Süßigkeiten angeboten, als er mit Freunden Fußball spielte. Wenn er ihn begleite, könnte er ganz viele bekommen. Der kleine Junge sagte wieder laut: Nein.

Seine Mutter brachte ihm früh bei, vorsichtig zu sein. Und stark. Er dürfe sich nicht als Opfer fühlen – und sich auch nicht wie eines verhalten, bläute sie ihm ein: „Lass es nie zu, dass Menschen sich über dich lustig machen!“ Das, was er geschafft habe, habe er ihr zu verdanken, sagt er: „Sie hat mich stark gemacht.“

Nach und nach hat Coulibaly sich in Spanien ein neues Leben aufgebaut. Mit der Arbeitserlaubnis als anerkannter Asylant ging er zunächst nach Katalonien, um als Erntehelfer Geld zu verdienen. Er lernte Spanisch und kam schließlich nach Madrid, wo er heute in einem noblen Innenstadt-Restaurant der Assistent des Chefkochs ist. Die Schichten sind sehr lang, und er verdient auch nicht viel Geld für das teure Madrid. Aber mit der spanischen Wirtschaftskrise zurzeit könne sich jeder glücklich schätzen, der hier überhaupt einen Job habe, sagt er. „Viel wichtiger ist noch: Ich habe über die Arbeit neue Freunde gefunden.“

Er hat sich gut integriert. Wenn er nicht arbeitet, verbringt er die meiste Zeit beim Sport. Er läuft viel, verbringt viele Stunden im Fitness-Studio und ist stolz auf seinen Sixpack-Bauch. Er trinkt kein Bier und keine Getränke mit zusätzlichem Zucker. Wenn er einen Saft bestellt, fragt er jedes Mal nach, ob da extra Zucker drin sei. Wie viele Albinos hat Coulibaly Probleme mit seinen Augen. Er ist extrem kurzsichtig. Beim Fußballspielen nehmen seine Freunde darauf Rücksicht. Sie passen ihm den Ball etwas langsamer zu und rufen dazu.

Auch in Spanien fällt er auf – nicht so sehr wie in Mali, aber dennoch. Vor allem Kinder schauen ihn oft staunend an. Wenn er merkt, dass es kein herablassender Blick ist, lächelt Coulibaly. Es ist okay, er ist es gewohnt – er weiß ja, dass er etwas Besonderes ist.

In Spanien als Albino zu leben, könne man trotzdem nicht mit Afrika vergleichen, sagt er. Bei der Jobsuche habe er hier nie eine Diskriminierung wegen des Albinismus erlebt, obwohl er dem Arbeitgeber immer gleich von seinen Augenproblemen erzählt hat. Und auch davon, dass er wegen seiner Haut mit der Sonne sehr aufpassen müsse.

Er hat vier Brüder – alle Albinos – und eine schwarze Schwester. Seine Eltern leben mit den zwei jüngsten Brüdern mittlerweile in Saudi-Arabien, weil sie dort Jobs gefunden haben. Um seine Brüder in Mali macht Coulibaly sich aber große Sorgen. Er schickt ihnen regelmäßig Geld, ruft sie an und fragt, ob er ihnen irgendwie helfen kann. „Eines Tages verändert sich hoffentlich die Art und Weise, wie mit uns in Mali umgegangen wird.“

Vermisst er Afrika auch? „Ich habe es nie ganz verlassen“, sagt er. „Es ist ja ein Teil meiner Identität.“ In Madrid würden die Menschen in ihm nach wie vor einen Afrikaner sehen, einen weißen eben.

In seiner alten Heimat habe er aber immer das Gefühl gehabt, dass er nicht das Recht habe zu träumen, sagt er. Und obwohl sich in seinem Leben vieles zum Guten gewandelt habe – das habe sich noch nicht geändert. „Aber ich bin offen, Neues zu lernen. Auch das Träumen.“

Jennifer Osborne ist Kanadierin und lebt in Berlin. Sie arbeitet regelmäßig als Fotografin für den Freitag. Für ihre Bildreportage hat sie Abdoulaye Coulibaly zehn Tage in seinem Alltag in Madrid begleitet

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