Ein Stück vom großen Brotlaib

Grundeinkommen Noch ist auch der Linken das Thema im Wahlkampf zu heikel. In Afrika aber ist das Modell ein Erfolg
Gerechtigkeit wagen: die Zivilgesellschaft ist der Politik voraus
Gerechtigkeit wagen: die Zivilgesellschaft ist der Politik voraus

Grafik: Der Freitag

"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, singen Macheath und seine Braut Jenny in der Dreigroschenoper. Und weiter: „Erst muss es möglich sein auch armen Leuten, vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.“

Vorbild für das Werk war 1728 die Beggar‘s Opera, Variation zum Thema dann 2009 die Freiburger Bettleroper, für die die Aktionskünstlerin Bernadette La Hengst das Lied „Grundeinkommen Liebe“ schrieb. „Ich wollte mit diesem Lied einen Ausweg aus der Krise aufzeigen und eine Verbindung zwischen der Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe und bedingungslosem Grundeinkommen herstellen“, erklärt die Musikerin. Ziel sei es, „politischen Visionen ein menschliches und damit auch poppiges Gewand zu geben.“

Tatsächlich könnte nicht nur die künstlerische, sondern auch die politische Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen in den nächsten Wochen wieder Auftrieb bekommen. Denn nicht nur die Grünen und die Linke wälzen die Frage. Mit den Piraten gibt es nun eine parlamentarisch relevante Partei, die sich das Grundeinkommen offiziell auf die Fahne geschrieben hat. Bei ihrem Programmparteitag in Bochum Ende November dürfte das Thema eine Rolle spielen – und ein erstes Signal für den kommenden Bundestagswahlkampf setzen. „Alleinstellungsmerkmale wie Familien- und Drogenpolitik und natürlich auch das bedingungslose Grundeinkommen werden da sehr wahrscheinlich dabei sein“, bestätigt Florian Bokor vom sächsischen Landesvorstand der Piraten. „Man kann davon ausgehen, dass das Grundeinkommen Thema wird“, heißt es etwas nebulös auch aus der Bundesgeschäftsstelle.

Auf nach der Wahl verschoben

Den Befürwortern des Grundeinkommens bei anderen Parteien kommt das gerade recht. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Strengmann-Kuhn frohlockt: „Die Debatte bei den Grünen hat wieder an Fahrt aufgenommen. Das ist – zugegeben – nicht zuletzt den Piraten geschuldet.“

Wann und wie die Vision des bedingungslosen Grundeinkommens Wirklichkeit werden könnte, bleibt allerdings offen. Susanne Wiest hatte bereits Anfang 2010 dafür beim Bundestag eine Petition mit mehr als 50.000 Unterzeichnern eingereicht und immerhin eine mehrstündige öffentliche Anhörung im Parlament erreicht. Anfang September trafen sich die Befürworter aus aller Welt beim Basic-Income-Earth-Networks-Kongress (BIEN) in München, immerhin dem 14. seiner Art. „Ein Grundeinkommen soll den Menschen die finanziellen Mittel geben, um aktiv zu werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und Herrschaftsverhältnisse infrage zu stellen“, sagte dort BIEN-Ehrenpräsident Guy Standing.

Das klingt links. Und tatsächlich ist die Linken-Vorsitzende Katja Kipping eine der prominentesten Befürworterinnen. Katharina Messinger von der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen der Partei hat auch bereits ein vierstufiges Einstiegsszenario entwickelt: Kindergrundsicherung, Eltern- und einkommensunabhängiges BAföG ohne Rückzahlungspflicht, sanktionsfreie Erwerbslosengrundsicherung und Grundrente sollen dem Grundeinkommen den Weg ebnen.

Doch ist das Modell in der Partei noch längst nicht Konsens. Der Vorstand beschloss im August nur, das bedingungslose Grundeinkommen demnächst auf einem Bundesparteitag zu diskutieren. Voraussichtlich wird das Thema bei den Linken auf die Zeit nach den Wahlen verschoben. Das Thema scheint zu heikel: Bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden im September scheiterte eine Grundeinkommenspartei kläglich.

Vorbild Namibia

Vielleicht könnte der globale Süden Skeptikern zeigen, dass ein Grundeinkommen machbar ist. Weltweites Aufsehen erregt seit einigen Jahren das Modellprojekt im Dorf Otjivero in Namibia. Die Verteilung des Eigentums an Grund und Boden ist dort ein großes Problem. „Aber eine Landreform nützt nichts, wenn kein Kapital da ist“, sagt Simone Knapp von der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA): „Die Leute brauchen Geld für Saatgut. Es geht aber auch darum, ohne das Stigma der Bedürftigkeitsprüfung Armut zu überwinden, um die Würde der Menschen wiederherzustellen.“

2008 begann mithilfe kirchlicher Unterstützung aus Deutschland in den Dörfern Otjivero und Omitara ein Grundeinkommensprojekt. Geleitet wird es von den deutschen Theologen und Ökonomen Claudia und Dirk Haarmann, getragen von einem breiten Bündnis aus Kirchen, Entwicklungshilfeorganisationen und Gewerkschaften.

Jede Person unterhalb des Rentenalters erhielt pro Monat 100 Namibische Dollar. Das sind zwar nur neun Euro, aber für große Familien ist die Summe der Beträge dennoch fast existenzsichernd. Die Leute im Dorf gründeten ein Komitee, um sich gegenseitig zu beraten, wie mit dem Geld umzugehen ist. Die Kneipen des Ortes blieben am Auszahlungstag geschlossen.

Nach nur sechs Monaten war der Anteil mangelernährter Kleinkinder von 42 auf 17 Prozent gesunken. Der Anteil der Kinder, die die Grundschule beenden, stieg im Laufe des Projekts von 40 auf 90 Prozent. Die Zahl der Selbstständigen stieg um 300 Prozent. Anders als bei Mikrokrediten für Kleinunternehmen schafft ein bedingungsloses Grundeinkommen Kaufkraft und wirkt somit ökonomisch und sozial nachhaltig. Auch die Machtverhältnisse im Ort haben sich geändert. Die Stellung der Frau hat sich verbessert. Die Menschen im Dorf sind selbstbewusster geworden gegenüber den weißen Farmern. Hungerlöhne und schlechte Arbeitsbedingungen können sie jetzt ablehnen, da für ihre Grundbedürfnisse gesorgt ist. Die Zukunft des Modellprojekts ist allerdings ungewiss.

Billiger als Sozialbürokratie

Immerhin kam Mitte Oktober die UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte, Magdalena Sepúlveda, nach Namibia. Aufgrund der Erfahrungen von Omitara/Otjivero regte sie an, landesweit ein Grundeinkommen einzuführen. Schätzungen gehen davon aus, dass dies nur wenige Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts kosten würde. Allemal billiger, als eine Sozialbürokratie aufzubauen. „In Entwicklungs- und Schwellenländern sind sozialstaatliche Strukturen oft nicht vorhanden“, erläutert der Grünen-Bundestagsabgeordnete Uwe Kekeritz. Aufwändige Bedarfsprüfungen seien unmöglich. „Die pauschale Auszahlung zur Armutsvermeidung ist eine unbürokratische Lösung. Schon mit sehr geringen Beträgen können große Effekte erzielt werden“.

Dennoch sträubt sich die Regierung in Windhuk dagegen. Dabei ist Namibia das Land mit der weltweit größten gemessenen Einkommensungleichheit: Zwei Drittel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Ein Grundeinkommen im südlichen Afrika könnte aus den ungeheuren Gewinnen des Minensektors finanziert werden. In Alaska funktioniert das seit Jahrzehnten, auch wenn dort aus den Öleinnahmen keine existenzsichernden Beträge ausbezahlt werden: 2011 waren es 950 Euro pro Einwohner und Jahr.

Prominentester Befürworter des Grundeinkommens im südlichen Afrika ist der anglikanische Erzbischof Desmond Tutu. Und auch Jean Ziegler, Vorgänger von Magdalena Sepúlveda im Amt des UNO-Sonderberichterstatters, spricht sich seit Jahren für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus. Der Mensch müsse, wenn die Erwerbsarbeit abnehme, schließlich trotzdem essen. Ein Grundeinkommen sei ein Weg zur Verteidigung des Gesellschaftsvertrags, ja, der Zivilisation überhaupt, argumentiert Ziegler.

Ersatz oder Ergänzung?

Vielleicht war es diese Vision eines neuen Gesellschaftsvertrages, die die Mitte-Links-Regierung unter Lula da Silva vor acht Jahren veranlasste, das Grundeinkommen sogar in der brasilianischen Verfassung zu verankern. Erster Schritt: eine Kindergrundsicherung. Seit deren Einführung sei die Schere zwischen Arm und Reich enger geworden und die Kindersterblichkeit gesunken, erklärt Senator Eduardo Suplicy aus São Paulo.

Und in Europa? Ist es zielführend, erst mal bestimmten Gruppen wie Kindern, Alten, oder auch Menschen in strukturschwachen Regionen ein Grundeinkommen auszuzahlen? Oder sollte das Grundeinkommen in einem ersten Schritt in niedriger Höhe für alle eingeführt werden? Und soll ein Grundeinkommen die komplexen Sozialsysteme in den Industrieländern ersetzen oder ergänzen?

Die politischen Akteure fürchten sich mehrheitlich nicht nur vor diesen Fragen. Sie erschauern geradezu bei der Vorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die Zivilgesellschaft, auch in Deutschland, ist da um Längen weiter. Die Anzahl lokaler und regionaler Grundeinkommensnetzwerke ist unüberschaubar geworden. Anders als unlängst in den Niederlanden würde das Thema hierzulande durchaus für den Bundestagswahlkampf taugen.

Einen kulturellen Beitrag dazu leistet unverdrossen Bernadette La Hengst. Ihr Lied „Grundeinkommen Liebe“ ist Ende September auf CD erschienen. Und für März plant die Künstlerin ein Theaterstück in Berlin. Titel: „Bedingungsloses Grundeinsingen“. Gesucht werden noch Freiwillige zum Mitsingen. Einzige Bedingung fürs Mitmachen: die Lust am Singen.

Und die Bedingungen für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens? Vielleicht fehlt einfach nur der Mut auszuprobieren, wie es ist, wenn alle einen Teil vom großen Brotlaib bekommen.

Jens-Eberhard Jahn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Linken-Bundestagsabgeordneten Alexander Süßmair

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