Ein großer Anreger

Jahrhundertedition Die historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe ist endlich abgeschlossen. Dank der Hilfe japanischer Forscher. Überlegungen zu einem unvermindert aktuellen Werk

Karl Marx hatte eine rege Phantasie, aber dass einmal ein halbes Dutzend japanischer Ordinarien wichtige ökonomische Texte von ihm für den Druck vorbereiten würden, wäre ihm sicher nicht im Traume eingefallen. Mit Erscheinen der Urtexte und Fragmente zum zweiten Buch des „Kapitals“ – allesamt zum ersten Mal veröffentlicht –, des Redaktionsmanuskripts von Friedrich Engels und der vor kurzem ausgelieferten Druckfassung ist die Abteilung II (Das Kapital und Vorarbeiten) der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) im Wesentlichen abgeschlossen.

Die Edition des Nachlasses zu diesem „Mittelstück“, thematisch: zum „Zirkulationsprozess des Kapitals“, und dessen Bearbeitung durch Engels war seit den Vereinbarungen mit der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Amsterdam, in den 1990er Jahre eine Domäne japanischer Gelehrter. Abgesehen von einem Nachzüglerband liegen nun sämtliche ökonomischen Schriften von Marx – ebenfalls zum ersten Mal – vollständig vor.

Als der Akademie-Verlag, Berlin die ersten Bände des Redaktionsmanuskripts aushändigen konnte, war dies Anlass zu einem großen Marx-Kolloquium im Tagungszentrum der Doshisha-Universität nahe der alten Kaiserstadt Kyoto. Wissenschaftler aus sechs Ländern nahmen daran teil. Das Quellenmaterial hatte eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern der Tohoku-Universität Sendai unter Leitung von Professor Izumi Omura erschlossen. Und auf einem Symposium in Tokio war der deutsche Botschafter Hendrik Schmiegelow so frei, die philologisch mustergültige Rekonstruktion des Marxschen Denkens im MEGA-Projekt als ein hervorragendes Beispiel deutsch-japanischer Zusammenarbeit zu würdigen.
Schaltzentrale und Nervenzentrum dieser „Jahrhundertedition“ (Hans-Peter Harstick) ist eine Arbeitsgruppe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deren Fäden über fast alle Kontinente reichen. Neben der erwähnten Tohoku-Universität bilden die hochangesehene Hosei-Universität in Tokio und weitere japanische Universitäten nur die am weitesten östlich gelegenen Knotenpunkte dieses internationalen Forschungsverbundes.

Positive Gedanken

Befragt, wie sich das lebhafte Interesse japanischer Wissenschaftler an der Marx-Engels-Forschung erklären lasse, antwortete Professor Teinosuke Otani: „Wir messen eine geistige Tradition nicht mit ideologischen Maßstäben, sondern daran, was eine historische Persönlichkeit an positiven Gedanken, die uns nützlich sein können, hinterlassen hat." Otani war viele Jahre Präsident der Wissenschaftlichen Gesellschaft für politische Ökonomie Japans, der mehr als 800 Professoren angehören. Die Edition der MEGA-Bände wurde großzügig finanziert von der renommiertesten (unserer DFG vergleichbaren) japanischen Forschungs-Förderinstitution.

Die gegenwärtige Krise des Finanzkapitalismus und eine von geradezu religiösem Dogmatismus geprägte neoliberale Politik sind sicher der Hauptgrund, weshalb Marx aufs Neue diskutiert wird. Aber die Fragen, was von ihm Gültigkeit habe, worin er sich geirrt, welche Ansätze weiterentwickelt werden könnten, waren nie ganz verhallt. Noch in Phasen wirtschaftlicher Prosperität klangen sie unterschwellig mit an. Die von parteipolitischen Scheuklappen befreite Edition der MEGA-Bände ermöglichte eine Versachlichung der Debatten, Korrektheit, Genauigkeit, was immer etwas Subversives an sich hat.

Marxens Vedienst, die Zwanghaftigkeit globaler Verflechtungsprozesse vorausgesehen zu haben, war ja ohnehin nie in Abrede gestellt worden. Für viele Ostdeutsche bewirkte die Inbesitznahme ihrer Kapazitäten und Ressourcen durch das kapitalistische System eine Katharsis. Was mancher für Propaganda hielt, erwies sich plötzlich als stimmig. Wer die Schriften von Marx kannte, konnte bis ins Detail prognostizieren, was in den neuen Bundesländern nach deren Anschluss an die Altbundesrepublik geschehen würde, nämlich die Ruinierung eines Wirtschaftsgefüges mit all ihren Folgen (erhöhte Arbeitslosigkeit, Steuerknappheit, Abwanderung) auf der einen Seite zugunsten der Profitmaximierung auf der anderen.

Schon die akkurate Neuedition der Schriften zum ersten Band der Kapital-Trilogie hat die sogenannte "Neue Marx-Lektüre" angeregt und zum Beispiel den Streit um die von Marx prognostizierte Verelendungstendenz der Lohnabhängigen aufleben lassen. Er war (und ist) symptomatisch für die kritische Beschäftigung mit Marx. Der hatte gefolgert, „dass im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muss... Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend.“ Die spätere Rezeption hat daraus die These von der „absoluten Verelendung" abgeleitet. Dass die Lohnabhängigen, gemessen an der exorbitanten Steigerung des Reichtums in den obersten Gesellschaftsschichten, relativ verarmen, braucht nicht diskutiert zu werden.

Aber „absolute Verelendung“? Ist, über ein Jahrhundert gemittelt, das reale Einkommen der Arbeiter, das sich in einem höheren Lebensstandard äußert, nicht gestiegen? Heute hat der Durchschnittsverdiener Kühlschrank, Fernseher, einen Wagen und fährt über längere Zeit recht komfortabel in den Urlaub. Mit der Floskel von der absoluten Verelendung, als Propagandageschoss eingesetzt, konnte man zu Zeiten des „Wirtschaftswunders“ natürlich keinen Blumentopf gewinnen. Die These, so aus dem Zusammenhang gerissen, wurde als unzutreffend abgelehnt.

Pfeil gegen Null

Einige, auch renommierte Interpreten haben geltend gemacht, dass der von Marx gemeinte Verelendungstrend international, zum Beispiel auch im Hinblick auf die ärmsten, ehemals kolonialen Länder zu verstehen sei. Oder dass man den Verlust an Bildung, gesellschaftlicher Teilhabe, „moralische Degradation“ (Marx) und so weiter, einbeziehen müsse. Wieder andere konstatieren, Marx habe keine quantitative Aussage getroffen, sondern nur eine Entwicklungsrichtung benannt. Alles richtig, aber diese Richtung ist eben in dem angeführten Zitat ein Pfeil, der gegen Null führt. Die Marxsche Ableitung ist formal-logisch nicht falsch, steht jedoch, statistisch gesehen, zumindest in den Industrieländern im Widerspruch zur empirischen Entwicklung. Der Fehler liegt darin, dass Marx an dieser Stelle sowohl über die Zeit als auch über alle Segmente der Lohnabhängigen pauschaliert.

Trotzdem ist die Vermutung von der absoluten Verelendung nicht gegenstandslos. Nicht nur Krisen können zur völligen Verarmung großer Teile der Arbeiterschaft und des Angestelltenstandes führen, wie die Geschichte gezeigt hat. „Verelendung“ trifft auch heutzutage für die Ausgestoßenen zu, die nicht mal mehr über ihre Arbeitskraft verfügen, die Langzeitarbeitslosen, Hartz-IV-Empfänger. Die wirklich nichts oder fast nichts mehr haben und deren Existenz über Steuern und Abgaben alimentiert werden muss. Gäbe es diese Alimentierung nicht, würden sie verhungern oder müssten sich erhängen.

Der anhaltende Krisen-„Tsunami“ (Alan Greenspan) hat die Welt in eine neue Situation gestürzt. Wie von einem Sog aus Ratlosigkeit und Erklärungssehnsucht angezogen, gerät der Kern der Marxschen Ökonomie wieder in den Mittelpunkt der Debatten: dessen Werttheorie, die zwar nicht zum Abschluss gebracht werden konnte, die aber Erklärungsmuster bietet, deren Aktualität nicht von der Hand zu weisen ist. Kritiker haben dagegen eingewandt, dass das Maß für den Arbeitswert bei Marx – die aufgewandte Zeit, bei komplizierter Arbeit ein Vielfaches der Zeit für einfache Arbeit – kein homogener Bezugspunkt ist. Überhaupt sei die ganze Konstruktion mit „abstrakter Arbeit“, Wert, Mehrwert für die Preisanalyse überflüssig, und an der Transformation der Werte in Preise sei Marx gescheitert.

Das mag sein, nur bietet die Preistheorie keinen Beitrag, den Ursprung des Reichtums und den Grund der Ausbeutung zu erklären – das war das Anliegen von Marx, und bis zum heutigen Tag konnte kein Ökonom die soziale Aufspaltung der Gesellschaft überzeugender begründet.

Gewinn an Erkenntnis

Bei aller Inkonsistenz mancher Kategorien hat Marx grundlegende Zusammenhänge der kapitalistischen Produktionsweise aufgedeckt und eine wissenschaftlich Revolution eingeleitet, nämlich den Bruch mit der klassischen politischen Ökonomie, wie es der Berliner Politologe Michael Heinrich vermerkt, der in seinem Buch Die Wissenschaft vom Wert jene Inkonsistenzen analysiert und zum Teil Vorschläge unterbreitet hat, sie aufzulösen. Es wäre nur gerecht, statt in typisch beckmesserischer Manier gierig nur das Unvollkommene oder Verfehlte zu benennen, erst einmal den Gewinn an Erkenntnissen zu verinnerlichen. Wie, beispielsweise, Wirtschafts- und Finanzkrisen entstehen, was ihre ständige Wiederkehr begründet ,und wie in die „mehrwertheckende“ Produktion sinnvoll eingegriffen werden könnte, ist klipp und klar bei Marx nachzulesen, auch wenn er die Faktoren, die den Preis bestimmen, nicht mehr erfassen konnte.

Der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Bertram Schefold, ein Skeptiker der Arbeitswerttheorie, hat die in Frage gestellten Beziehungen ausgiebig untersucht (Marx-Engels-Jahrbuch 2008). Er kommt zu dem Schluss: „Wenn sich in einer Beweiskette irgendwo ein Fehler nachweisen lässt, muss die Schlussfolgerung vielleicht nur modifiziert werden.“ Auch die Ableitungen seien deswegen nicht in allen Einzelheiten widerlegt. „Liest man Marx kritisch in diesem Sinne, wird man ihn einen großen Anreger finden.“

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