Nation mit demokratischem Akzent

Zivilgesellschaft Zwei neue Bücher schreiben jeweils eine kleine Geschichte Kataloniens

"Unsere Hauptstadt", so ließ es der langjährige Präsident der katalanischen Regierung, Jordi Pujol, einst wissen, lag "damals nicht in Spanien ..., da es sich um Aachen handelte." Der Ort verblüfft, entscheidend ist die Zeit. Und zwar nicht die, in der das Interview geführt wurde, aus dem Thomas Eßer zitiert. Das war im Jahr 2006. Entscheidend ist das "damals". Pujol, charismatischer Politiker und überzeugter Nationalist, spricht von der kulturellen Bindung Kataloniens an das Karolingerreich vor der Gründung der "katalanischen Nation". Eine nationale Geschichte, soll sie sich als solche formieren, beginnt manchmal eben sehr früh. Und nicht selten erscheint sie so weit hergeholt, wie Aachen vom spanischen Staat entfernt ist. Dabei gehört dieses Herholen und Herbeizitieren, dieses Bezugnehmen und Zurückgreifen zur ganz normalen Arbeit, die an der Konstruktion einer Nation geleistet werden muss. Nur fällt sie eben bei Nationen eher auf, die nicht über einen Staat verfügen.

Eine Nation ist Katalonien mittlerweile auch ganz offiziell. So steht es in der Präambel des neuen Autonomiestatuts von 2006. Was es bedarf, eine Nation zu sein, ist aber nicht nur ein Schriftstück. Es ist zum einen eine Differenz und zum anderen eine Kontinuität: Beides stellt Pujol mit seinem Bonmot her, wenn er einerseits den Unterschied zu Spanien beschwört und andererseits von "unserer Hauptstadt" spricht, als handele es sich bei diesem "wir" damals wie heute um ein- und denselben Personenkreis.

Dass Nationen konstruiert sind, heißt wiederum nicht, sie seien frei erfunden. So gab es bereits im frühen 13. Jahrhundert, wie Walther L. Bernecker herausstellt, durchaus politische Unterschiede zwischen dem Rechts- und Verwaltungssystem in Kastilien und jenem von Katalonien und Aragon. Statt einer absoluten Monarchie entwickelte sich eine Mitbestimmung der Stände, versammelt in der "Generalitat", die Bernecker eine "der ersten parlamentarisch verantwortlichen Regierungen der Welt" nennt. Auch Carlos Collado Seidel setzt die Phase, in der "die Verwendung des neuzeitlichen Begriffs der Nation" auf Katalonien angewendet werden kann, unter Berufung auf den Historiker Pierre Vidal auf den Zeitraum von 1250 bis 1350 fest.

Neben der Wahrnehmung durch zeitgenössische BeobachterInnen und den politischen Institutionen war auch die Sprache ein Kriterium für die Rede von der katalanischen Nation. Über eine gemeinsame, in allen gesellschaftlichen Bereichen einsetzbare Sprache verfügten die KatalanInnen ebenfalls seit dem 13. Jahrhundert. Allerdings haben auch Sprachen eine Geschichte, die katalanische wurde fast vergessen und galt lange Zeit als "Sprache des Volkes" gegenüber dem Kastilischen als Sprache des Bürgertums. Im 19. Jahrhundert wurde sie im Rahmen der katalanischen Nationalbewegung wieder entdeckt beziehungsweise reanimiert, die erste katalanische Grammatik erschien 1813/14, durch die sich allerdings auch die damalige französische Besatzung ihre antispanischen Effekte erhoffte.

Unter der Diktatur Francos (1939-1975) erfuhr das Katalanische seine gründlichste Unterdrückung, seine Verwendung als Schriftsprache wurde stark eingeschränkt. Die Wiedereinsetzung und Verbreitung der Sprache war deshalb auch für die nationalen katalanischen Bewegungen immer ein zentrales Anliegen. Als Identifikationsmoment wird die Sprache umso wichtiger, weil sich der Katalanismus "weitaus mehr als ›zivile‹ denn als ›ethnische‹ Bewegung" (Kraus) definiert und formiert hat. Aber ist nur Katalane/Katalanin, wer auch des Katalanischen mächtig ist? In einer geografischen Region, in der schon 1970 vierzig Prozent der Bevölkerung Zugewanderte waren, keine unproblematische Frage.

Auch der Streit, der im Vorfeld der Buchmesse darum geführt wurde, ob auf Kastilisch schreibende SchriftstellerInnen auch zur katalanischen Literatur gerechnet werden dürfen, zeigt, dass es hier keineswegs um allein akademische Fragen geht. Thomas Eßer, der die Kulturgeschichte Kataloniens gesondert beschreibt, bezieht eindeutig Stellung gegen die Gleichsetzung von Sprache und Kultur und meint, "die Idee einer ›katalanischen Kultur‹ bleibt ohne die in anderen Sprachen schreibenden Autoren unvollständig." In einem Land, in dem sich laut einer von Collado Seidel zitierten Umfrage von 2005 nur vierzehn Prozent der Bevölkerung ausschließlich als KatalanInnen fühlen, muss der Zusammenhang von Sprache, Kultur und Nation letztlich auch offen und umkämpft bleiben.

Die kulturelle Nähe zum spanischen Staat und die lange geografische und politische Eingebundenheit in diesen, machen es zudem unmöglich, die Geschichte Kataloniens ohne die Spaniens zu erzählen - "wie auch immer man die katalanisch-spanischen Beziehungen nun bewerten mag" (Kraus). Dass Bernecker beispielsweise vom Beginn der "spanischen Arbeiterbewegung" ab 1868 oder von dem "iberischen Anarchismus" spricht, während er die Situation in Katalonien beschreibt, rührt eben genau daher. Es hat aber noch eine andere Ursache: So war das Industrieproletariat als einzige soziale Schicht im 19. Jahrhundert nicht in den Katalanismus integriert, da, so Bernecker, seine "Orientierung internationalistisch blieb". Überhaupt widmet Bernecker der Arbeiterbewegung und den Klassenspaltungen in Katalonien nicht nur größere Aufmerksamkeit als Collado Seidel. Auch in seiner Bewertung sozialer Kämpfe positioniert er sich anders. Während er die Arbeiterunruhen der "Tragischen Woche" (Semana Trágica) im Juli 1909 als "Reaktion auf den zunehmenden Einfluß des (Ordens-) Klerus" ausmacht und die gewaltige Repression des Militärs hervorhebt, beschreibt Collado Seidel die "Bilanz der Gewalt" des Aufstands selbst als "erschreckend". Dabei hätten sich die sozialen Spannungen "auf grausame Weise Luft verschafft".

Irritieren muss auch, wie Collado Seidel die Gewalt gegen die Kirche einstuft, die zu Beginn des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) von der Linken ausgeübt wurde. Als wenn erst die Morde an Priestern die Kirche in die Arme der rechten Putschisten getrieben hätte, schreibt er: "So wundert es nicht, dass sich die spanische Kirche nahezu geschlossen hinter die Aufständischen stellte und zu einer der wichtigsten ideologischen Stützen des Regimes von General Franco wurde." Die Kirche hatte allerdings, außer im Baskenland, nie Anstalten gemacht, sich auf Seiten der Republik zu positionieren. So waren die Ausschreitungen gegen ihre Repräsentanten und Gebäude keinesfalls die Ursache für deren antidemokratische Politik, sondern vielmehr eine Reaktion auf diese.

Während der Zweiten Republik (1931-1936) und zu Beginn des Bürgerkriegs hatte auch die katalanische Autonomie-Bewegung eine ihrer Hochphasen. Dass sich der katalanische Nationalismus immer auch auf eine demokratische Tradition beruft, ist daher nicht ganz unplausibel - auch wenn die Ausweitung der Befugnisse der Generalität von 1936/37, die noch über das Autonomiestatut von 1932 hinausgingen, gegen die von AnarchistInnen und LinkssozialistInnen betriebene soziale Revolution durchgesetzt wurde.

Für den Bezug auf demokratische Werte gibt die Geschichte Kataloniens aber auch frühere Beispiele her. So ging schon die aragonesisch-katalanische Krone unter den Vorzeichen einer "ausgeprägte(n) Form des Konstitutionalismus" (Bernecker) die Matrimonialunion mit dem absolutistischen Kastilien ein. Diese Hochzeit Ferdinands von Aragon und Isabellas von Kastilien bildete die Grundlage für das Spanische Königreich. Auch sah man Ende des 15. Jahrhunderts die Auftritte der Inquisition in Barcelona nicht gern. Die Stände blieben den Verhandlungen sogar fern, was einer "Brüskierung des Gerichts" (Collado Seidel) gleichkam. Solche Geschichten über widerständigen Geist und liberale Gesinnung stiften zweifelsohne auch heute noch den Zusammenhalt der katalanischen Nation.

Eine andere Quelle seiner Stärkung waren zudem die Jahre unter Franco: Statt den Katalanismus wie gewünscht zu vernichten, hat die Repression eher das Gegenteil bewirkt, darin sind sich alle Autoren einig: Zu Beginn der 1970er Jahre wuchs eine "breite soziale Bewegung" (Collado Seidel) heran, die die Forderung nach Demokratisierung mit der Autonomiefrage verband und dabei frühere ideologische Rivalitäten überwand. Die katalanische Identität war "sprachlich und kulturell ausgeprägter denn je" (Bernecker).

Während ein katalanischer Separatismus zu keinem Zeitpunkt mehrheitsfähig war, wurde die Autonomie stark an die Frage der Demokratie geknüpft. Dieser Aspekt ist in Collado Seidels Gesamtdarstellung besser kontextualisiert, als es der Suhrkamp-Band leisten kann. Denn darin wird die Kulturgeschichte und die Zeit des so genannten Übergangs (transición) nach dem Tod Francos vom soziopolitischen Überblick separat behandelt. Diese Aufteilung macht das Buch an mancher Stelle aber auch präziser, wofür Berneckers Expertise zur Arbeiterbewegung ein gutes Beispiel ist. Eine Art zivilgesellschaftlicher Akzent scheint, darin stimmen beide Bücher überein, ein Epochen und Klassen übergreifendes Merkmal des katalanischen Nationalismus zu sein.

Das gilt vor allem im Hinblick auf die Abgrenzung zum vereinheitlichenden spanischen Nationalismus und schließt interne Kämpfe keinesfalls aus. Und dass auch in Katalonien die nationale Frage vor soziale Anliegen rückt, wird durch das gegenwärtig immense parteipolitische Gerangel zwischen linker Esquerra Republicana (ERC) und rechter Convergència Democràtica (CDC) um den wahren Katalanismus, also die konsequente Haltung zu Autonomie und Unabhängigkeit, auf überdeutliche Weise demonstriert. Die gleichsam politische wie kulturelle Akzentuierung auf zivilgesellschaftliche Errungenschaften ist jedenfalls nachvollziehbarer als alle kulturanthropologischen Kennzeichen. Auch solche werden nämlich angeboten, Thomas Eßer gelten die EinwohnerInnen Kataloniens als "fleißig und geschäftstüchtig, aber auch (...) ernst und geizig." Wahrscheinlich werden sie deshalb im Volksmund als die Deutschen Spaniens bezeichnet. Das allerdings ist ganz sicher eher auf lang anhaltende Phasen ökonomischer Prosperität zurückzuführen, denn auf vermeintlich kollektiv geteilte Wesensmerkmale. Oder auf Aachen.

Walther L. Bernecker, Torsten Eßer, Peter A. Kraus: Eine kleine Geschichte Kataloniens, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 342 S., 10 EUR

Carlos Collado Seidel: Kleine Geschichte Kataloniens. Beck, München 2007, 241 S., 11,95 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden