Taboras ist seit mehr als 100 Jahren Refugium und Rastplatz Hunderter Roma-Familien vor den Toren von Vilnius. Ab 1956 wurden sie hier per Gesetz angesiedelt. Mit Beginn der neunziger Jahre entwickelte sich der Ort zur offenen Drogenszene der litauischen Hauptstadt. Das Dasein in Taboras ist von Intensität und Flüchtigkeit bestimmt. Dieser Eindruck entstand durch die Beobachtungen während einer Fotoreportage, zu der ich wochenlang in Taboras unterwegs war.
Achtung, schießen!
Es ist später Nachmittag. Ich sitze am Küchentisch, und der dritte Schnaps wärmt meinen Magen. Auf dem Herd köchelt eine Kartoffelsuppe. Auf die Gesundheit, auf die Freundschaft, auf das Leben, und wieder wird das Glas gefüllt. Vitas lallt, meine armseligen Litauisch-Kenntnisse und seine Trunkenheit machen ein Gespräch unmöglich. Einmal will er noch ansetzen, schläft dann aber auf seinem Stuhl ein. Vitas und Stanislow haben einen Vorsprung, um den Tag ausklingen zu lassen, den ich nicht mehr aufholen kann.
Nastarowje, Achtung, schießen! Ruft Stanislow. Das hat sein Vater in Deutschland gelernt, früher. Ja, KZs für Zigeuner, sein Vater war dort. Ich weiß darauf nichts zu sagen. Stanislow sagt, das war früher, und du hast gute Augen, das nächste Glas wird gefüllt.
Die Türen in Taboras stehen immer offen, doch gibt es unsichtbare Barrieren, nur mit Kindern als Vorhut fällt fast überall die Mauer.
Leute kommen, die fotografiert werden möchten. Nein, heute nicht mehr, morgen oder übermorgen bin ich wieder da. Nein, wir wollen aber jetzt, auf der Stelle. Taboras gefallen meine Bilder. Eine gute Arbeit denke ich, ein Selbstläufer ohne Werbung. Wenn ich nicht genau wüsste, am äußeren Rand von Vilnius zu sein, wäre ich davon überzeugt, das alles irgendwo im Süden zu erleben, vielleicht in einer Vorstadt von Istanbul oder Karatschi.
Kein Geld, keine Spritze
Bisher habe ich auf das Motiv Spritzen und Elendsgestalten mit leeren Augen verzichtet. Ich denke, dass man auf den anderen Gesichtern genug vom Leben ringsherum erkennen kann. Stanilows Mutter rührt die dicke Suppe um, eine Löffel Salz und ein paar Nudeln werden noch in den Topf gestreut.
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie sie am Herd wirtschaftet, verteilt sie die schon gefüllten Spritzen mit Rohopium, denn die Kundschaft steht Schlange vor der Tür. Die Situation erinnert an die Essenausgabe einer Kantine. Ware gegen Geld. Zwischendurch holen sich die Enkel ein Butterbrot und nehmen einen kräftigen Schluck Saft. Ab und zu steht ein Mann mit kaltem Schweiß auf der Stirn und mit flehender und zittriger Stimme vor Stanislows Mutter. Kein Geld, keine Spritze. Eine knallharte Geschäftsfrau schüttelt den Kopf und kehrt an ihren Herd zurück.
Zwei Schüsse knallen direkt vorm Fenster. Darf ich vorstellen, das ist mein Sohn. Guten Tag, sehr angenehm. Ein sehr eleganter junger Mann tritt ein, draußen steht sein weißer BMW. Noch zweimal wird kurz in die Decke geschossen. Wo bin ich?
Zwischen all dem, was hier passiert, stehen die Kinder. Wenn es Engel gibt, so wohnen viele von ihnen hier, in Taboras. Ihre großen erwachsenen Augen sehen durch alles hindurch. Sie wechseln mit einem Wimpernschlag von Lachen zu ohnmächtiger Traurigkeit. Sie betrachten das langsame Dahinsiechen der Fremden draußen vor der Tür oder der eigenen Leute drinnen im Haus. Bruder und Schwester brauchen ihre tägliche Ration. In der Stube bei schlechtem Wetter, auf der Straße bei gutem, die Hose herunter und die Kanüle in den Oberschenkel versenkt.
Eine Ratte verschluckt
Ich trabe eine Runde durch den Ort. Mittlerweile weiß ich, wo jeder wohnt, und kenne auch einige der Nichtzigeuner, die täglich Gast in Taboras sind. Als ich zurückkomme, steht der fette Chef vor mir. Fahren wir, sagt er, frag nicht, steig ein, und er zeigt auf seinen dunklen BMW. Ein Knecht mit einem messerähnlichen Gegenstand, ein Verwandter und zwei Kinder steigen zu. Der Chef hat vergoldete Zähne und könnte mit Sicherheit einer Ratte wie mir den Kopf abbeißen.
Der Wagen schiebt sich langsamer, als es die schlechte Straße verlangt, durch den Ort. Manchem nickt der Chef gönnerhaft zu, andere am Weg schauen demonstrativ weg. Als wir Taboras verlassen, kreisen meine Gedanken einzig und allein um die Frage, wo fahren wir hin. Die Sonne geht gleich unter, und ich habe keinen Blitz dabei. Der Chef liebt leuchtende Farben, nur wo bekomme ich die her?
Der kleine Junge soll aufs Pferd, doch das Pferd will den kleinen Prinzen nicht auf seinem Rücken. Der Chef beginnt zu schreien, der Knecht schaut unbeteiligt zu Boden, ich schlage vor, wir sollten es mit einem andern Pferd versuchen, sofort stampft der Chef behende, leichtfüßig und flott durch die Wiesen, das Pferd wird sich erschrecken. Zum Glück scheint es alt, taub und blind und schlechten Umgang gewöhnt. Die ersten Bilder gelingen, doch der Prinz beginnt wieder zu weinen. Ich verstehe nicht, was der dicke Chef schreit, es klingt in meinen Ohren wie: Bin ich nicht ein guter Vater? Zwei Pferde habe ich dir geschenkt, du hast alles, was du brauchst. Das Mädchen möchte auch auf dem Pferd fotografiert werden, es hilft nichts, der Chef sieht immer noch so auch, als hätte er eine Ratte verschluckt. Gut, Schluss, es reicht - zurück nach Taboras.
Gut versteckt
An diesem Ort, der die Roma sesshaft werden ließ, erscheinen die Bewohner wie Wesen aus einer anderen Zeit. Der Platz, der schon seit Jahrzehnten Rastplatz der Zigeuner war, wurde ihr Zuhause. Doch das Dorf erweckt den Eindruck, dass es nie fertig wird und damit rechnen muss, schon morgen verlassen zu werden. Jedes Haus hat Strom, doch ihr Wasser müssen die meisten vom Hydranten holen. Eine poröse Straße aus Vilnius endet hier, und ich habe das Gefühl, dass nicht nur die Straße hier endet. Taboras lebt gut versteckt zwischen einer riesigen Halle zur Schrottverwertung, einer verrotteten Industrieanlage, Eisenbahngleisen - und zehn Zentiliter, mit denen sich die zu kurz Gekommenen trösten und Vergessen kaufen. Alle wissen, was hier passiert, und sind froh, dass es in Taboras passiert und nicht auf dem Gedimino-Prospekt oder sonst irgendwo in Vilnius.
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