1942: Der Künstler Bruno Schulz malt in der besetzten Ukraine um sein Leben
Zeitgeschichte Es sind Fresken, die der Maler Bruno Schulz in der Stadt Drohobytsch für die Villa eines SS-Mannes entwirft und ausführt. Erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg werden sie wieder entdeckt, um bald erneut zu verschwinden
Der Mann mit den Zügeln in der Hand auf der Freske ist kein anderer als Bruno Schulz selbst. Das Bild rechts wurde 1935 aufgenommen.
Fotos: Jens Malling, Polska Agencja Fotografów/Forum/Bridgeman Images (Rechts)
Zwerge, Prinzessinnen, edle Rösser … Die Gestalten erscheinen auf verblassten Mauerstücken. Risse durchziehen die Fresken, die hier im Museum der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ausgestellt sind. Sie stammen aus dem Werk von Bruno Schulz (1892 – 1942). Als Künstler ist er der Nachwelt vor allem durch seine Novellen und Kurzgeschichten bekannt, doch hatte er auch einen sicheren Pinselstrich. Die Dauerausstellung mit dem Titel „Wandmalerei unter Zwang“ zeigt in Yad Vashem Kunstwerke, die 1942, als die Ukraine von der deutschen Okkupationsarmee besetzt war, inmitten einer Welt der Gewalt, des Schmerzes und der Menschenverachtung entstanden sind.
Hier und da fehlen auf den porösen Oberflächen Teile der Motive: Mehr als ein hal
ls ein halbes Jahrhundert der Vernachlässigung hat einer Gestalt ein Bein genommen. Einer Frau in einem Ballkleid fehlt der Oberarm. Leerstellen regen die Fantasie an, sodass Verlust oder Verunstaltung – paradoxerweise oder nicht – den Ausdruck der Figuren noch zu verstärken scheinen. Die Beschädigung wurde zu einem Teil des Kunstwerks. Ihre Verstümmelung ignorierend, kämpfen sich Zwerge und Prinzessinnen durch die Schichten von Mörtel und Putz, um sichtbar zu bleiben. Der Gewalt überlegen, dem Verschwinden und Vergessen zum Trotz.Studium in LembergUm Kinder zu erfreuen, bediente sich Bruno Schulz einiger Szenen aus Märchen der Brüder Grimm wie Schneewittchen, Aschenputtel oder auch Hänsel und Gretel. Ein unschuldiges Unterfangen, eigentlich, wären da nicht die düsteren zeitgeschichtlichen Umstände, unter denen diese Malerei geschaffen wurde. Die überlieferten Kunstwerke versetzen den kundigen Betrachter in die Vergangenheit, sie führen ihn in den Osten Europas während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bruno Schulz lebte und starb in Drohobytsch. Hier wurde er 1892 in eine säkulare jüdische Familie hineingeboren. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte die etwa 50.000 Einwohner zählende Provinzstadt zu Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie Polen zugeordnet, um im Herbst 1939 gemäß dem Nichtangriffspakt zwischen Berlin und Moskau der sowjetischen Ukraine eingegliedert zu werden. Schulz’ Studium nach der Matura an der Lemberger Polytechnischen Universität sowie kurze Aufenthalte in Wien, Paris und Warschau waren Ausnahmen. Fehlendes Geld zwang zur Rückkehr, führte zum Unterricht am Gymnasium der Heimatstadt, zu einer Anstellung als Zeichenlehrer.Drohobytsch und seine Milieus spielen in Schulz’ Werken eine herausragende Rolle. Dort schrieb er die Kurzgeschichtensammlungen Die Zimtläden und Das Sanatorium zur Sanduhr, die heute als Klassiker der osteuropäischen Literatur gelten. Schlagartig rückte ihn eine Prosa der Traumwelten und der besonderen poetischen Dimension Mitte der 1930er in den Mittelpunkt des literarischen Interesses. Vor dem Zweiten Weltkrieg fand er sich als einer der begabtesten Schriftsteller Polens anerkannt, auch wenn ihm zu Lebzeiten der Weltruhm verwehrt blieb. Ab 1939 verhinderte das der Krieg, aber auch die tiefen galizischen Wurzeln seiner Werke hatten daran Anteil. Erst mit der Zeit wurde die Prosa von Bruno Schulz für viele Menschen zur literarischen Offenbarung ihres Lebens. Zahlreiche osteuropäische wie auch israelische Schriftsteller bezeugen bis heute den Einfluss von Erzählungen wie August, Der Sturmwind oder Die Krokodilgasse auf ihr Schreiben. Viele begreifen die Erzählkunst von Bruno Schulz als eine stete Quelle ihrer Inspiration. „Manchmal schrieb er wie Kafka, manchmal wie Proust, und mit der Zeit gelang ihm eine Tiefe, die keiner von beiden erreicht hat“, äußerte sich beispielsweise Isaac Bashevis Singer, 1978 Nobelpreisträger für Literatur. Nicht alles kann noch gelesen werden, um Urteile wie dieses verstehen zu können. Einige Arbeiten von Schulz wie der Roman Der Messias sind verschollen.Bruno Schulz schrieb auf PolnischFür den ukrainischen Intellektuellen Jurko Prochasko war Schulz ein „genialer Schriftsteller, der in polnischer Sprache schrieb; ein meisterhafter Grafiker, besessen vom Thema der männlichen Demütigung durch eine selbstbewusste, herrschsüchtige und rücksichtslose weibliche Schönheit; ein schüchterner, scheuer und trauriger Mann; ein Prophet, der das Ende der Welt – seiner Welt, der Welt der osteuropäischen Juden – spürte und vorhersagte“. Als Hitlers Truppen am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfielen und bald danach Drohobytsch besetzten, begannen sie, die große jüdische Minderheit der Stadt systematisch zu vernichten. SS-Kommandant Felix Landau richtete sich in einer imposanten Villa ein, um von dort aus Drohobytsch terrorisieren zu können. Mit einem Schuss vom Balkon tötete er eines Tages einen jüdischen Zwangsarbeiter, der den Garten pflegte. In seinem Tagebuch beschrieb Landau, was es für ihnen bedeutete, Juden in den Wäldern außerhalb der Stadt liquidieren zu lassen. „Ich bin völlig ungerührt. Kein Mitleid, nichts.“Die Kälte des Killers hinderte Landau nicht daran, Wertschätzung für die Kunst zu zeigen. Der SS-Kommandant wurde auf das Talent von Bruno Schulz aufmerksam. Ihm kam die Idee, seine Kinder zu überraschen, indem er deren Zimmer malerisch ausschmücken ließ. Landau befahl Schulz, er solle den Raum mit Gemälden dekorieren. Konnte der Künstler dem Tod entgehen, indem er seine Gestaltungskraft ins Spiel brachte? Er begann, das Zimmer mit fantastischen Figuren zu bevölkern. In einer Atmosphäre der Gewalt und Angst entstanden an den Wänden Zuschauer für die im Raum spielenden Kinder, während zugleich die Welt, aus der Schulz’ Geschichten und Gestalten stammten, unterging. Während der Maler seine Motive entwarf und ausführte, löschten die Nazis seine ganze Gemeinde aus. Schließlich konnte auch Bruno Schulz selbst dem Strudel der Vernichtung nicht entkommen. Er wurde am 19. November 1942 bei einem Massaker im Ghetto von Drohobytsch getötet. Die Arbeit an den Fresken eines Kinderzimmers konnte ihn nicht retten.Sensation und SchockJahrzehnte vergingen. Ende 1991 hörte die Sowjetunion auf zu existieren. Nun befand sich Drohobytsch plötzlich im unabhängigen Staat Ukraine. Lange Zeit galten die Fresken aus der Villa unter Kunsthistorikern als unwiederbringlich verloren. Nach intensiver Suche jedoch gelang es im Jahr 2010 einem Filmteam, sie wiederzufinden. Inzwischen war das ehemalige Haus des SS-Führers Felix Landau umgebaut und in mehrere Wohnungen aufgeteilt worden. Ein älteres Ehepaar nutzte das Kinderzimmer von einst als Speisekammer. Hinter Gläsern mit eingelegten Tomaten und Gurken sowie Schichten von Putz kamen die Wandmalereien wieder zum Vorschein. Eine Sensation! Gefolgt von einem Schock. Einige Wochen nach der aufsehenerregenden Entdeckung war ein Großteil der Fresken plötzlich verschwunden. Diesmal nicht vom Dahinschreiten der Zeit, von Putz und Staub verschluckt, sondern kurzerhand aus der Wand herausgeschnitten. Wie sich herausstellte, hatten das Mitarbeiter der Gedenkstätte Yad Vashem als angemessen und richtig erachtet.In einer neuen Biografie über Schulz schreibt der Autor Benjamin Balint, dass wahrscheinlich Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad beteiligt waren. Sie schmuggelten die Fresken aus der Ukraine und brachten sie nach Jerusalem, wo die Museumsbesucher nun langsam daran vorbeigehen können. Beschuldigungen bleiben nicht aus, bei denen von Diebstahl, Plünderung und „Zerstörung des kulturellen Erbes eines anderen Landes“ die Rede ist, wie es der Literat und Übersetzer Prochasko formulierte. Israelis, Polen und Ukrainer waren im vergangenen Jahrzehnt in hitzige Diskussionen verwickelt, geprägt von Themen wie Holocaust und Eigentumsrechte. Es ging um die Frage, inwieweit es legitim sein konnte, gerade die letzten Kunstwerke von Bruno Schulz aus ihrer ursprünglichen Umgebung zu entfernen. Kritiker argumentierten, die Israelis hätten gegen eine Reihe von internationalen Gesetzen verstoßen, die den Diebstahl und das Schmuggeln von Kunstwerken verbieten. Es kursierte die Annahme, hochrangige Mitglieder des Stadtrats von Drohobytsch hätten angeblich 900.000 Dollar an Bestechungsgeldern erhalten, damit sie bei der Entführungsaktion ein Auge zudrückten.Zurück in den Ausstellungssaal von Yad Vashem. Einige Besucher stehen nur wenige Zentimeter von einem Fresko mit zwei schönen Pferden entfernt. Ein genauerer Blick offenbart etwas Sonderbares. Der Kutscher auf dem Wagen hinter den Pferden scheint bekannte Gesichtszüge zu haben. Und tatsächlich, der Mann mit den Zügeln in der Hand ist kein anderer als der Künstler selbst. Es war ein Markenzeichen von Bruno Schulz, dem er bis zum Schluss treu blieb, fast unauffällig Selbstporträts in seine Gemälde und Zeichnungen einzulassen. In diesem Fall ist er mit seinem Gefährt allein gegen eine feindliche Übermacht unterwegs, die einer Welt des Schtetls und einer herzerweichenden Frömmigkeit zur tödlichen Gefahr wird.