"Geschwindigkeit verpflichtet", schrieb vor über 20 Jahren der französische Soziologe Paul Virilio, der die Geschichte der Menschheit aus der Geschichte ihrer Bewegung und Beschleunigung zu erklären versuchte. Die "Dromokratie", die moderne Fahrgesellschaft, sei die verkappte Organisation der politischen und gesellschaftlichen Jagd mit Höchstgeschwindigkeitsgebot, und sie verändere unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Unsere Serie Mobil verfolgt in den nächsten beiden Monaten einige Aspekte der Verkehrsgesellschaft: Was bedeutet mobiles Handeln für unsere sozialen Beziehungen, mit welchen Strategien antworten die Menschen auf das Mobilitätsgebot? Gibt es technische Neuerungen, die die negativen Folgen der Fahrgesellschaft reduzieren? Und wo liegen die Grenzen der Mobilität, wird die Erde zu eng und werden wir genötigt sein, in den Weltraum auszuweichen? Im Eröffnungsbeitrag skizziert Jens Müller-Bauseneik die geschichtliche Entwicklung der mobilen Gesellschaft und wirft einige Fragen zum Verkehr der Zukunft auf.
Auch wenn davon kaum jemand etwas mitbekommen haben sollte: Laut einem Beschluss der Europäischen Kommission feierten wir 2006 das "europäische Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer". Flexibilität bei der Erwerbssuche, Mobilität zwischen Wohnort und Arbeitsstätte - mit diesen Anforderungen der Wirtschaft hat sich der durchschnittliche Verkehrsteilnehmer, also der Arbeitnehmer, längst abgefunden. Doch bleibt ihm der tägliche Stress auf zwei, vier oder noch mehr Rädern ein beständiger Quell des Ärgers: rücksichtslose Autofahrer, Baustellen, Staus und kletternde Spritpreise, verspätete und überfüllte ICEs, verdreckte U-Bahnen und aggressive Fahrgäste. Sobald sich morgens die Haustür hinter uns schließt, betreten wir - so scheint es - einen modernen Kampfplatz ums rechte Fortkommen.
Die Lust an der Bewegung
Doch während das fahrende Volk sein mobiles Schicksal bejammert, diskutieren Fachleute verschiedenster Disziplinen längst über den richtigen Weg in die Zukunft. Um Europa fit zu machen fürs 21. Jahrhundert tüfteln Ingenieure an neuen Fahrzeugtypen, brüten Stadtplaner über Verkehrsprognosen und den Ausbau der Infrastruktur, fragen Soziologen nach Strategien, um mehr Menschen in Busse und Bahnen zu locken. Die aktuellste Datengrundlage liefert ihnen die Studie Mobilität in Deutschland, die 2002 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr durchgeführt wurde. Ein Ergebnis: 270 Millionen Wege werden täglich in Deutschland zurückgelegt, doch nur ein Fünftel entfällt auf Hin- und Rückfahrten zum und vom Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Dagegen legen wir glatt die Hälfte aller Wege zurück, um andernorts unsere Freizeit zu genießen und einzukaufen - ungeachtet des möglichen Fahrstresses, dem wir uns dabei aussetzen.
Ist dem Menschen vielleicht ein archaischer Bewegungsdrang eingeschrieben? "Womöglich hat es etwas mit unserem Ursprung als Savannentier zu tun, das sich laufend in der Ebene sicher fühlt", bemerkt Hans-Liudger Dienel vom Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin. "Jedenfalls lässt sich die starke Zunahme der Mobilität nicht nur wirtschaftlich erklären, denn den hohen Anteil des Freizeitverkehrs hatten wir schon vor Jahrzehnten." Auffällig scheint ihm, dass "die Begriffe Mobilität und Freiheit so stark miteinander verknüpft sind." Das war nämlich nicht immer so: Noch vor einigen Jahrhunderten wäre unsere heutige Lust an Fahrt und Reise belächelt worden.
Denn während der moderne Europäer von Erholung in fernen Ländern träumt, suchte das tiefgläubige Mittelalter die Erlösung im Jenseits: Erst dort dürfe der fromme Christ seinen Lohn für alle weltlichen Mühen erhoffen, so predigte es die Kirche. Zwar waren auch damals viele Menschen unterwegs; Händler und Handwerksburschen zogen übers Land, Pilger und hohe Herren auf Reisen nahmen lange Wege auf sich. Aber dabei handelte es sich durchweg um unfreiwillige Mobilität. Man reiste aus wirtschaftlichen und diplomatischen Gründen oder weil Religion und Tradition es vorgaben.
Das änderte sich mit der im 15. Jahrhundert beginnenden Renaissance. Sie setzte den Menschen in ein neues Verhältnis zu der Welt, auf der er sich bewegte. Neugier und Forscherdrang begannen, sich zu regen, das Leben im Hier und Jetzt wurde wichtig. Mit der neuen Geisteshaltung und den Entdeckungen in Übersee begann auch der Siegeszug der unbegrenzten Mobilität. "Die Sichtweise auf das Reisen änderte sich, es wurde etwas Positives, Erstrebenswertes", erklärt Mobilitätsforscher Dienel. Einige Romane der Renaissance wie etwa Thomas Morus´ Utopia und Francis Bacons Neu Atlantis beschrieben jetzt fiktive "Wunschräume", so der Historiker Alfred Doren, die der Entdeckung harrten.
Auf Kunststraßen in die neue Zeit
Doch auch in heimischen Gefilden gab es genug zu tun, wollte man sich für die kommende Zeit rüsten. Europäische Herrscher erkannten, dass gut ausgebaute Land- und Wasserstraßen für das Gedeihen eines Staates unverzichtbar sind. Im fortschrittlichen, weil zentralistischen Frankreich Ludwigs XIV. wurden breite, mit Stein gepflasterte Chausseen angelegt. Mit einiger Verzögerung zogen sich diese "Kunststraßen" auch durch deutsche Lande. Als dann im 19. Jahrhundert die eisernen Bahnschienen verlegt wurden, wuchs parallel dazu das Straßennetz weiter, weil es jetzt auch als Zulieferersystem für die Eisenbahn gebraucht wurde.
Gerade in Deutschland wurde das Feuerross mit viel - auch patriotischem - Jubel aufgenommen. Goethe, der die technische Neuerung noch in England bestaunte, zeigte sich zuversichtlich: "Um Deutschlands Einheit ist mir nicht bange, wenn ich die Eisenbahn sehe."
Über die Schiene konnten Menschen und Regionen schneller und intensiver zueinander finden. Und bequemer: Der Mensch in Bewegung begann zu schweben und ließ dabei seinen Blick über das Panorama der vorbeiziehenden Landschaft schweifen. Reisen wurde zu einem Erlebnis, das nicht nur Stress, sondern zunehmend auch Lustgefühle hervorrief. Zeppelin und Flugzeug katapultierten dieses Empfinden dann in ungeahnte Höhen.
Und schließlich: das Auto. Es fügte der neuen Bewegungsfreiheit noch die Komponenten "Privatheit" und "Individualität" hinzu. Im geschützten Innenraum seiner Blechkarosse kann der Fahrer eine kurze Auszeit von der täglichen Hektik nehmen, ein Liedchen trällern oder laut über den Chef schimpfen. Er kann Fahrtzeit und -strecke frei wählen und, so direkt es geht, vor dem anvisierten Zielpunkt parken. Was uns so selbstverständlich erscheint, erklärt zugleich den beispiellosen Siegeszug dieses Beförderungsmittels. Im Gegensatz zu den überhöhten Erwartungen, die beispielsweise in den fünfziger Jahren an den Hubschrauberverkehr gelegt wurden, übertraf die Verbreitung des Autos alle Prognosen um ein Vielfaches. Von den bereits erwähnten täglichen Wegen in Deutschland werden 165 Millionen, also über 60 Prozent, mit dem Auto zurückgelegt. Bus und Bahn bringen es dagegen nur auf 20 Prozent.
Fahrtwind um die Nase
Dabei ist das Marktpotenzial des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) viel größer: Wie die Mobilitätsstudie 2002 herausfand, könnten ein Drittel derjenigen, die bislang kaum oder nie die "Öffentlichen" nutzen, "nach eigener Einschätzung ihre üblichen Ziele gut mit dem ÖPNV erreichen." Hans-Liudger Dienel ahnt, was die Fahrer trotzdem hinterm eigenen Steuer hält: "Es ist ja ein sensationelles Erlebnis, solche Kraftreserven steuern zu können. Autofahren, vor allem Kurvenfahrt und Beschleunigung, das macht vielen Menschen einfach großen Spaß."
Folgerichtig haben seine eigenen Forschungen zum Ziel, die emotionalen Faktoren des Reisens auch in öffentlichen Verkehrsystemen stärker zu betonen, um so mehr Kundschaft in Busse und Straßenbahnen zu locken. Seine Ideen reichen von einer 1. Klasse auch in der U-Bahn, um anspruchsvollere Klientel anzusprechen, über Zugwaggons mit vergitterten Außenplattformen "auf denen man den Fahrtwind spüren kann", bis zur Wiederbelebung des eleganten Auf- und Abspringens von der fahrenden S-Bahn, wie man es noch aus alten Filmen kennt: "Auch das stellt für Menschen, die sich das zutrauen, einen gewissen Reiz dar. Wir brauchen einfach mehr emotionale Anreize für die Benutzung, denn die öffentlichen Systeme leiden darunter, dass sie immer nur rationaler werden dürfen, während das Auto immer attraktiver werden darf."
Vor allem ökologisch motivierte Verkehrskritiker fordern seit jeher eine stärkere Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. Wie Dieter Spath vom Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement der Uni Stuttgart einräumt, wurde dieser Ansatz in der Vergangenheit nicht hinreichend berücksichtigt: "Die Anbindung zwischen Straße und Bahn ist nicht immer ganz logisch in den Innenstädten. Wir sehen heute an einigen ICE-Bahnhöfen, die entlang von Autobahnen angelegt sind, dass wir dort viel bessere Verknüpfungen hinkriegen, wie etwa das Beispiel Kassel zeigt." Ein weiteres Manko: Man habe zu viele Mittel in die Verkehrsinfrastruktur solcher Gegenden gesteckt, "wo in Zukunft eher ein Bevölkerungsrückgang erwartet wird, das ist bedauerlicherweise der Osten."
Drohender Infarkt
Allerdings traut er dem gleisgebundenen Fernverkehr ohnehin nicht mehr viel Wachstumspotenzial zu: "Über den ICE haben wir schon einen riesigen Teil des Personenverkehrs auf die Schiene gebracht. Nur wenn man die technischen Standards der Schnellzüge europaweit vereinheitlichen würde, wäre dieser Bereich noch nennenswert ausbaufähig. Beim Gütertransport es ist dagegen illusionär zu glauben, den könne man komplett mit der Bahn erledigen." Es fehlen einfach die letzten paar Kilometer zum Endabnehmer: "Die Bahn ist kein Medium, das den Verteildienst leisten kann. Wenn man zum Beispiel alle LKW, die zwischen Salzburg und Ingolstadt verkehren, vollständig bahnverladen wollte, dann würde der benötigte Verladebahnhofs von der Fläche her Ingolstadt und Umgebung völlig platt machen."
Experten erwarten mittelfristig eher eine Verdoppelung des LKW-Verkehrs, und auch bei den PKW scheint die Sättigungsgrenze noch lange nicht erreicht. Können nur moderne Navigations- und Leitsysteme den drohenden Infarkt unserer Autobahnen verhindern? Schon heute hängen an jeder Brücke Sensoren, die den Verkehrsfluss beobachten, und an einigen Brennpunkten, zum Beispiel auf der Strecke Stuttgart-Ulm, gibt es auch schon Geschwindigkeitsbegrenzungen, die automatisch über die Verkehrsbelastung variiert werden. Per GPS-Navigation kommen Autos zielgeleitet zu ihrem Platz, was wenigstens ein bisschen die Umwelt entlastet. Die Industrie sei an dem Thema dran, sagt Dieter Spath, "aber da müsste natürlich noch viel mehr passieren."
Doch auch durch modernste Technik steht uns wohl auf absehbare Zeit keine revolutionäre Veränderung des Verkehrs ins Haus. Ein automatisches Steuerungssystem für PKW etwa, dem Autopiloten in der Luftfahrt vergleichbar, wäre höchstens auf Autobahnen denkbar. Davon abgesehen ist es mehr als fraglich, ob moderne Regelungstechnik den Straßenverkehr jemals entscheidend beeinflussen wird. Oder sind solche Überlegungen am Ende ganz überflüssig, weil wir dank neuer Kommunikationstechnologien bald gar nicht mehr aus dem Haus müssen? Weil wir vom heimischen PC aus einkaufen und arbeiten können, weil durch Webcam und Flatrate der direkte Kontakt zu Bekannten und Verwandten überflüssig wird?
"Im privaten Bereich", meint Spath, ergänzen sich Kommunikationstechnik und Verkehrsnutzung, ohne dass wir dadurch weniger Reisen würden. Im Gegenteil, Fahrten zu Freunden und Verwandten, das Sightseeing, der Kurzurlaub, all das nimmt eher noch zu." Anders dagegen in der globalisierten Geschäftswelt, dort macht das Internet heute schon manche Geschäftsreise überflüssig. Insbesondere, seit die Videokonferenzen ihre technischen Kinderkrankheiten überwunden haben: "Früher hat man den anderen nur schemenhaft erkennen können, es war einfach kein persönliches Gespräch. Heute sind wir an der Schwelle, wo man diese Dinge wirklich empfehlen kann", so Spath weiter. Aber: "Persönlicher Kontakt wird immer nötig sein, um eine Vertrauensbasis zwischen Menschen herzustellen."
Fast erscheint es deshalb wie eine glückliche Verheißung: Auch wenn wir via Internet die ganze Welt in unser Wohnzimmer holen können, der Mensch wird auch in Zukunft beweglich bleiben wollen - allen Verkehrsstaus, Verspätungen und Tariferhöhungen zum Trotz.
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