Die Szene ist bekannt: am Ende von Lessings Nathan der Weise fallen sich der christliche Tempelherr und die Jüdin Recha in die Arme; sie, die gerne geheiratet hätten, aber wegen des religiösen Unterschieds keine Möglichkeit dazu sahen, entdecken, dass sie Geschwister und beide Christen sind. Und nicht nur sie stellen fest, dass sie miteinander verwandt sind: alle Figuren des Stückes kommen zum überraschenden Schluss, dass sie eine große Familie bilden. Die Moral ist klar, wir Menschen sind alle Brüder und Schwestern, warum sollten wir also zulassen, dass uns Details wie der Unterschied in Religion, Sprache, Kultur oder Hautfarbe verfeinden?
Soweit die traditionelle Interpretation. Komplizierter wird es, wenn wir fragen, was wohl geschehen wäre, wenn der Tempelherr und Recha keine Geschwister gewesen und nicht von gleicher Religion gewesen wären. Was, wenn sie trotzdem geheiratet hätten und, vor allem, was wenn aus dieser Ehe Kinder hervorgegangen wären? Wären diese Kinder dann Juden oder Christen gewesen? Oder würden sie sich zu beiden Religionen bekennen? Auf solche Fragen hatte Lessing keine Antwort; selbst wenn er es gewollt hätte, er konnte Recha und den Tempelherrn nicht heiraten lassen, ansonsten hätte er die Grenzen seiner eigenen Toleranz überschritten. Tatsächlich, der sonst so nützliche Begriff "Toleranz" wirkt, sobald Mischung im Spiel ist, blass und wirkungslos. Kulturmischung war denn auch im Programm der Aufklärung nicht vorgesehen. Die Antworten, die die Aufklärung bereit hatte, gingen prinzipiell von einer kulturellen Immobilität aus.
An dieser Realität hat sich bis heute wenig geändert. Wenn von Friedensbemühungen im Nahen Osten die Rede ist, wird man über die hinterste Düne informiert, aber auf die Frage, was passiert, wenn sich morgen ein Palästinenser und eine Israelin verlieben und Kinder wollen, schweigen alle. Kulturelle Mischung ist nicht einkalkuliert; es scheint, als gäbe es in unserem Weltfriedensprogramm keinen Platz für interkulturelle, geschweige denn interreligiöse Liebe.
Wenn von der Angst vor Kulturmischung die Rede ist, werden in der Regel Namen wie Johann Gottfried Herder oder Johann Gottlieb Fichte zitiert, die mit ihren Ideen die Basis für spätere Rassentheorien gelegt haben sollen, wie sie dann im 20. Jahrhundert zu den bekannten dramatischen Folgen geführt haben. Allerdings äußerten Forscher wie der britische Historiker Adrian Hastings (The construction of Nationhood, 1997) und der spanische Linguist Juan Ramón Lodares (Lengua y Patria, 2002) Zweifel an dieser Interpretation. Sie vertreten die herausfordernde These, dass ein krampfhaftes Festhalten an kultureller Reinheit bereits lange vor der Romantik existierte und letztlich auf die Bibel zurückzuführen sei.
Nach Ramón Lodares geht der Mythos, dass es so etwas wie reine Völker mit einer reinen Sprache gebe, auf die Geschichte des Turmbaus von Babel zurück. Hier sei die Existenz verschiedener Ethnien, die sich durch verschiedene Sprachen kennzeichnen, prinzipiell als ein von Gott gewolltes Phänomen verstanden worden, woran nicht gerüttelt werden durfte.
Stärker noch als Ramón Lodares betont Hastings die Bedeutung des biblischen Israel als Modell für die christlichen Nationen. Da sich, so Hastings, alle christlichen Nationen in irgendeiner Form am biblischen Israel orientierten, seien fremde Einflüsse in der Sprache und Kultur traditionell als Bedrohung aufgefasst worden, genauso wie Sprachmischung, Kulturmischung und Rassenmischung prinzipiell als eine Herausforderung an die Vorsehung Gottes betrachtet worden sei. Heißt es doch in der Bibel: "Es soll kein Mischling in die Gemeinde des Herrn kommen" (5. Mose 23, 3). Vermutlich geht also die Angst vor sprachlicher, kultureller und ethnischer Mischung unter anderem auf ein jüdisch-christliches Kultur(miss)verständnis zurück und hat damit das westliche Denken viel stärker beeinflusst, als man gemeinhin anzunehmen pflegt.
Allerdings, nicht nur das hartnäckige Festhalten an kultureller Immobilität erwies sich als ein Problem für die aufklärerische Toleranzidee; sobald es um Religionen ging, stellte sich auch die Frage nach der absoluten Wahrheit. Und hier spielt die Heilige Schrift eine besondere Rolle. Eine der wichtigsten Eigenschaften von Geschriebenem ist, dass etwas definitiv fixiert werden kann. Schreiben ist deswegen ein wesentliches Mittel, um über absolute Wahrheiten zu verfügen. Da Christentum, Judentum und der Islam Religionen sind, deren Doktrin schriftlich festgelegt wurde, ist ihre Denkart von vornherein weniger flexibel und stärker von der Reinheitsidee geprägt, als es bei Religionen ohne schriftliches Credo der Fall ist. Die geringe Flexibilität, über die das Christentum und andere Buchreligionen verfügen, erlaubt zwar Interpretation; Ergänzungen und Änderungen hingegen sind so gut wie ausgeschlossen.
Dass dies durchaus anders sein kann, wird klar aus einer Erfahrung, die der Schweizer Anthropologe Franz Caspar in den fünfziger Jahren in Brasilien machte. Aus seinem Tagebuch Allein unter Indios (1952) geht hervor, dass die Tuparí-Indios, bei denen er ein halbes Jahr wohnte, ihn mit allen Mitteln in ihrer Gemeinschaft zu behalten versuchten. Um dies möglich zu machen, änderten die Tuparí ihre Schöpfungsgeschichte, damit auch für die Schweizer Platz da war. Diese religiöse Flexibilität war nur deswegen möglich, weil die Tuparí ihre Schöpfungsgeschichte nie aufgeschrieben hatten. Im Christentum wären solche konsequenzreichen Weiterführungen unvorstellbar, und wenn morgen auf dem Mars Leben entdeckt würde, käme es keinem Christen in den Sinn, einen neuen Schöpfungstag an die Genesis anzuhängen.
Mit der Idee einer absoluten Wahrheit wurde die Aufklärung nie fertig. Ist es überhaupt möglich, an einer absoluten Wahrheit festzuhalten und gleichzeitig tolerant zu sein? Interessant in dieser Hinsicht ist die These von Louis de Bonald (1754-1840). Der französische Philosoph vertrat ein "Lob der Intoleranz", denn, so meint er, "Toleranz funktioniert erst dann, wenn Gleichgültigkeit herrscht. Wenn man die Bibel und den Koran als gleichwertig betrachtet, heißt dies dann nicht, dass man im Grunde genommen gegenüber der jeweiligen Botschaft der Wahrheit gleichgültig ist?" Um das Ideal der Wahrheit nicht zu verraten, zieht Bonald ein Plädoyer für allgemeine Intoleranz vor. Obwohl eine solche weltweit praktizierte Intoleranz der reinste Horror wäre, behauptet Bonald keineswegs zu Unrecht, dass sich Toleranz und absolute Wahrheit gegenseitig ausschließen. Tatsächlich kommt wirkliche Toleranz ohne Relativierung nicht aus. Bleibt die Frage, auf welchem Weg eine solche Relativierung zu erreichen wäre.
Ein interessanter Vorschlag in diesem Zusammenhang findet sich in Diderots Beitrag zu Abbé Raynals Histoire philosophique et politique des deux Indes (1770). Diderot träumt davon, Tausende von jungen Männern und Frauen aus Europa in die Neue Welt zu schicken, damit sie sich dort mit den Eingeborenen mischen. Auf diese Weise würde in Amerika eine einzige große Familie heranwachsen, ohne Waffen und Soldaten, in der es keine Unterschiede qua Rasse, Sprache, Religion oder Kultur und dadurch auch keinen Grund für Intoleranz mehr geben würde. Neu war diese Idee allerdings nicht; wir finden sie bereits bei Alexander dem Großen, der in seinem Streben nach einer "Oekumene" Sex als das beste Mittel zur Völkerverständigung betrachtete und für sein Reich eine Politik der gemischten Ehen und so das Entstehen von "Kosmopoliten" förderte.
Es geht hier nicht darum, ein Revival der Hippie-Bewegung zu propagieren, eine Lösung aller Konflikte nach der Devise "make love, not war"; dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass es durchaus ernst zu nehmende Theorien gibt, die kulturelle Mischung durch Sex als den vielleicht wirkungsvollsten Weg zu Toleranz und Verständigung betrachten. Ein berühmtes Werk in diesem Zusammenhang ist Herrenhaus und Sklavenhütte (1933) von Gilberto Freyre. Darin stellte der brasilianische Soziologe die damals in konservativen Kreisen als schockierend empfundene These auf, dass die Promiskuität der portugiesischen Kolonialherren ein Geniestreich gewesen sei und gerade der Sex zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine neue Kultur in den Tropen ermöglicht habe. Zwar wurde dieses rosige Bild bereits in den fünziger Jahren mit dem Hinweis korrigiert, dass die übergroße Mehrheit der Mischlingbevölkerung außerehelichen Beziehungen entstammte, die nur wenig mit Frivolität, sondern vielmehr mit sexueller Ausbeutung zu tun hatten, es bleibt aber letztlich das Verdienst Freyres, dem rassischen Determinismus in Brasilien eine andere Idee entgegengesetzt zu haben.
In die gleiche Richtung gehen auch die Gedanken des französischen Soziologen Pierre-André Taguieff, dem in Die Macht des Vorurteils (1988) eine universelle Mischung der Weltbevölkerung vorschwebt, eine Art universelles Imperium, in dem die interrassische Kreuzung zur Pflicht würde, bis die Faktoren der Diskriminierung verschwunden wären. Ähnlich ist der Vorschlag, den der erfolgreiche britische Schriftsteller Caryl Phillips auf seiner Website macht: die Welt wäre besser, wenn jeder wenigstens einmal im Leben mit jemand einer anderen Hautfarbe Sex haben würde.
Realistischer wohl war der Vorschlag des damaligen irischen Auslandsministers Garret Fitzgerald, der 1974 die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten durch gemischte Ehen bekämpfen wollte, weil damit "soziale und politische Barrieren durchbrochen werden, während diese durch religiöse Segregation nur verstärkt werden".
Dies sind einige Beispiele, die zeigen, dass die Idee, Intoleranz gezielt durch Kulturmischung zu bekämpfen, nicht so unsinnig ist, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Allerdings, es ist kaum vorstellbar, dass morgen die Vereinten Nationen im Nahen Osten vorschlagen würden, im Namen des Frieden gemischte Ehen zwischen Israelis und Palästinensern finanziell zu unterstützen. Mehr noch, ein solcher Vorschlag würde wahrscheinlich als Provokation aufgefasst werden, denkbar, dass der Vorwurf laut würde, der Vorschlag sei intolerant.
Die Zeichen stehen denn auch nicht gut für kreolische Lösungen, denn gerade in dem Land, das heute die Weltpolitik bestimmt, lässt sich eine völlig entgegengesetzter Trend feststellen: der einer allgemeinen Reethnisierung. Die Angst vor Kulturmischung ist heute längst nicht mehr ein Phänomen, das sich auf rassistische Gruppierungen beschränkt, vielmehr ist es eines der Hauptmerkmale des US-amerikanischen Multikulturalismus. In den USA lässt sich tatsächlich unter dem Namen der "political correctness" eine Tendenz feststellen, die kulturelle Immobilität fast zum Gesetz erhebt.
Darunter versteht sich die Abkehr von jeder Form der Mischung; denn nichts stellt kulturelle Immobilität mehr in Frage als interkultureller Sex. Wenn auch die sexuellen Beziehungen an sich nicht unbedingt zu einer Relativierung kultureller und religiöser Werte führen, dann passiert dies sicherlich, sobald aus dieser Verbindung Kinder hervorgehen. In diesem Zusammenhang wundert es nicht, dass während des Balkankrieges der radikale Serbenführer Radovan Karadz?ic´ Maßnahmen traf, um interreligiöse Ehen in Bosnien per Gesetz zu verbieten, oder dass ein neues israelisches Gesetz israelisch-palästinensische Paare künftig zwingt, entweder getrennt zu leben oder Israel zu verlassen. Indem sie kulturelle Immobilität durchbrechen und damit absolute Wahrheiten in Frage stellen, stehen Kinder aus interkulturellen Beziehungen deutlich für den Kreolismus (das heißt eine "Mischung"). Durch ihre bloße Existenz zwingen sie zu einer Relativierung, die dem kreolischen Denken eigen ist.
Tatsächlich kennzeichnen sich kreolische Denkströmungen durch eine Relativierung aller Ideologien und Kulturen. In dem Zusammenhang ließe sich Hugo Loetscher erwähnen, der in seiner Glossengeschichte Helvetische Flurbereinigung (1983) aufgelistet hat, was in der Schweiz noch übrig bleiben würde, falls das Land von allen fremden Einflüssen gereinigt würde. Er kam zu dem Schluss, dass alles, was die schweizerische Identität ausmacht, einen kreolischen Charakter hat, sogar das Alphorn, denn, so schreibt er: "Was ein richtiges Alphorn ist, wird mit Bambus eingewickelt - in welchem Alpental aber wächst Bambus?"
Das kreolische Denken lässt es aber nicht bei einer historischen Perspektive bleiben. Letztlich würde es kein ernst zu nehmender Sprach- oder Religionswissenschaftler je wagen, zu behaupten, dass es so etwas wie eine "reine Sprache" oder "reine Religion" gibt. Das wirklich Revolutionäre am kreolischen Denken ist vielmehr, dass jede Sprache, Religion oder Ideologie als ein ständiger Prozess der Kreolisierung aufgefasst wird. Dieses nicht Akzeptieren eines Schlusspunktes in der Entwicklung einer Sprache, Religion, Ideologie oder Kultur ist denn auch die Basis einer kreolischen Form der Toleranz. Es ist eine Toleranz der Beweglichkeit, der Weiterentwicklung, der gegenseitigen Beeinflussung, eine Toleranz, die konsequenterweise die Präsenz des Anderen nicht als Bedrohung erfährt, sondern als eine Chance, damit Neues entstehen kann. Es ist eine Form der Toleranz, wie wir sie bei Peter Bichsel antreffen, wenn er in seinem Aufsatz Chaotisch wie die Sprache selbst (2000) schreibt: "Ich würde mich sehr freuen darüber, wenn dieser Text - den ich hier schreibe - in hundert Jahren nicht mehr lesbar wäre, weil die Sprache inzwischen gewachsen wäre." Dieser Satz ließe sich ins Unendliche wiederholen, so etwa: Ich würde mich freuen, wenn die Kultur, zu der ich jetzt gehöre, oder Religion, zu der ich mich bekenne, in hundert Jahren für mich nicht mehr verständlich wäre, weil sie inzwischen gewachsen ist.
Jeroen Dewulf ist Dozent für Kulturgeschichte an der Universität Porto.
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