Ein Geier über Caracas

Sonntags im Barrio Pinto Salinas Wer hier nicht wohnt, kommt hier nicht her

Enrique Godoy ist ein hagerer, schwarzer Mann mit kleiner Brille und grauem Haar. Er trägt ein knallrotes T-Shirt, auf dem in Riesenbuchstaben "VOTA NO" geschrieben steht - keine Stimme für eine Abwahl des Präsidenten Hugo Chávez, den die Opposition im August mit einem Referendum stürzen wollte und gründlich scheiterte. Godoy grüßt fast jeden im Barrio Pinto Salinas. Sie kennen ihn, und er kennt sie, ein Mann im Dienste einer Mission. Einer, der versucht, dem Viertel sozialen Halt und Gemeinschaftsgefühl zu geben - der gegen die Apathie und das Drogenelend kämpft, den Dreck und die Armut. In Pinto Salinas, in einem der verslumten Ausläufern von Caracas, leben Leute, die nichts zu verlieren haben. Wer hier nicht wohnt, kommt hier nicht her. Wer dennoch kommt, der riskiert, überfallen und ausgeraubt zu werden.

Ray Charles im "Buena Vista Social Club"

Ich bin mit Godoy unterwegs zum CENADEC, "dem Gemeindezentrum zur Unterstützung und Förderung der Gemeinschaft" des Barrios. Es ist Sonntagmorgen, und es ist heiß. Den Gehsteig zieren penibel sezierte Autowracks. Ein paar Männer mit Kampfhunden ziehen ihre Runden, ein Losverkäufer schreit herum, ein paar Jungen spielen Basketball auf einem Betonplatz zwischen den vernachlässigten "Superbloques", den Wolkenkratzern von Pinto Salinas mit ihren 20 Etagen, vor denen sich die Müllberge türmen. Noch in der 14. Etage wachsen Palmen auf Terrassen und Balkonen, weil einige versuchen, trotz allem das Beste aus ihrem Viertel zu machen.

Das CENADEC residiert in einer stupiden grauen Betongruft im Schatten der Superbloques. Drinnen sind die Wände mit Postern von Che Guevara und Fidel Castro beklebt, auch Hugo Chávez fehlt nicht: Fröhlich lachend sieht er in die Kamera, neben sich den iranischen Präsidenten Mohammed Chatami. Und ein Hauch von Welt weht in die Tristesse des Augenblicks.

"Siehst du, das ist mein Lieblingsprojekt", sagt Godoy und zeigt auf einen Stapel des Barrio-Blattes Parroquia (*), einer Kreuzung aus Tages-, Kiez- und Schulzeitung, gedruckt auf dünnem Papier und mit blassen Farben. "Sie soll monatlich erscheinen, aber wir sind schon froh, wenn das Ding sieben Mal pro Jahr heraus kommt. Es gibt einfach zu wenig Ehrenamtliche, obwohl Parroquia so wichtig wäre für die Gemeinschaft hier. Nur können sich die meisten in Pinto Salinas keine Zeitung leisten, also wird Parroquia verschenkt. Zum Glück schaltet die Regierung regelmäßig Anzeigen, so dass die Kosten halbwegs gedeckt sind."

Im Raum nebenan dröhnt Salsa-Musik. Es ist erst elf Uhr morgens, aber das hindert die Venezolaner nicht an den ersten Tanzschritten des Tages. Ich folge Godoy in die dunkelste Ecke des Saals. "Hierher strömen die älteren Einwohner des Viertels, um sich zu unterhalten", schreit Godoy in mein Ohr. Einige Dutzend tadellos frisierter Omas in langen Kleidern und mit schönen Ketten tanzen Salsa miteinander. Eine von ihnen feiert heute ihren 93. Geburtstag, es soll ein unvergesslicher Tag werden, und die vier Musiker geben das Letzte. Sie sind perfekt ausstaffiert bis in die gelben Krawatten, die gut polierten Schuhspitzen und schwarzen Sonnenbrillen hinein. Der Sänger erinnert an Ray Charles, die Damen feuern sich gegenseitig an und schreien vor Aufregung, die Fieberkurve steigt - ich fühle mich wie im "Buena Vista Social Club".

"Wir haben hier viel kubanisches Personal, das für die Gesundheit der Älteren verantwortlich ist", traktiert Godoy weiter mein Ohr. "In der Woche geben die auch Sportunterricht." Während die Musik immer hemmungsloser wird, erzählt er mir noch, diese Tanzdiele sei einmal ein Versammlungsort der sozialdemokratischen Acción Democratica gewesen, einer ehemaligen Regierungspartei, die sich in Armenvierteln wie diesem vollkommen diskreditiert habe, weil sie zur Opposition gehöre. Das Parteigebäude stand leer und ist dann angezündet worden. Als es weiter zu verkommen drohte, hat Godoy mit seinen Leuten vom Gemeindekomitee beschlossen, die Räume zu renovieren und zu übernehmen.

Das Geld dafür kam aus der Misión Barrio Adentro, einem der vielen sozialen Projekte der Regierung. Barrio Adentro heißt frei übersetzt, "in die Armenviertel hinein" und zielt auf mehr kulturelle Infrastruktur in den Quartiers und bessere medizinische Fürsorge. Etwa 13.000 kubanische Ärzte praktizieren mittlerweile in Venezuela und kompensieren damit einen Teil der Öllieferungen, die Hugo Chávez unterhalb des Weltmarktpreises der Karibikinsel zukommen lässt. Die Mediziner aus Havanna, Cienfuegos oder Pinar del Rio arbeiten nun dort, wo Jahrzehnte lang kein venezolanischer Oberschichtarzt arbeiten wollte. Andere Regierungsprogramme wie die Misión Robinson setzen auf die Alphabetisierung von anderthalb Millionen Venezolanern oder - wie Misión Guacaipuro - auf die Emanzipation der indigenen Völker. Es sind Vorhaben wie diese, die Hugo Chávez bei den Erniedrigten und Beleidigten so populär gemacht haben.

Osama bin Laden im Himmel über der Stadt

Von diesen Misiónes berichtet auch das Basisradio El Negro Primero in Pinto Salinas immer wieder gern. Der Sender hat sein Studio ein paar Straßen hinter dem CENADEC. "Die Redaktion wurde in den letzten Jahren oft von Schlägern der Opposition angegriffen", erzählt mir Godoy. "Aber jetzt, nachdem Chávez des Referendum und danach die Regionalwahlen gewonnen hat, ist es merklich ruhiger geworden. Die Rechte ist einfach desillusioniert und angeschlagen."

"El Negro Primero, nach dem wir dieses Basisradio benannt haben, war ein indigener Kämpfer", sagt Carlos Lujo, der dicke, fröhliche Direktor des Senders. "Wir ehren seinen Namen, indem wir mit unserem Programm die Gemeinschaft des Barrios stärken. In der Woche senden wir zwölf Stunden pro Tag; am Wochenende sogar 24 Stunden, also rund um die Uhr."

Außer ein paar bezahlten Technikern und Redakteuren gäbe es sonst im Sender fast nur Freiwillige. "In der Woche sehen hier manchmal bis zu hundert Personen vorbei. Das kann jeder sein: Studenten, Hausfrauen, Kommunalpolitiker, Arbeitslose, die wissen, dass sie bei uns ihr eigenes Programm machen können." Obwohl der relativ schwache Sender nur den Westen von Caracas erreiche, hätten die Privatkanäle, die sich zumeist als Teil der Opposition sehen würden, Angst vor einem Basisradio wie diesem. "Weil sie sehen" - so Carlos Lujo - "dass wir erreichen, was wir wollen. Wir begeistern die Leute für die Sozialprogramme der Regierung. Bei uns ist Enthusiasmus wichtiger als Professionalität. Als wir vor kurzem einen Aufruf für ein Treffen der Älteren im Viertel ausstrahlten, standen am nächsten Tag 500 Leute vor der Studiotür."

Es ist mittlerweile Nachmittag geworden, und die bevorzugte Leidenschaft vieler Männer scheint um diese Stunde das Abhängen auf der Straße mit einem Polarbier in der Hand zu sein. Es ist drückend und schwül. Als ich mit Godoy die Räume des Basisradios verlasse, schießt am Ende der Passage eine Gruppe von Halbwüchsigen pausenlos Feuerwerkskörper, die hier "Osama bin Laden" genannt werden, in den Himmel über der Stadt. Die Jungen sorgen für einen Kanonenschlag nach dem anderen, um die Alarmanlagen gleich mehrerer Autos aus dem Gleichmut der nachmittäglichen Siesta zu reißen.

"Das sind keine Feuerwerkskörper aus irgendeiner Fabrik", erklärt mir Candelario Reina, ein Chavista aus der Gegend, unter den Klängen von Calypso-Musik, die aus einem Musikladen in der Nachbarschaft zu uns herüber treibt. "Denn das hier ist Crackland. Die Jungen da vorn schießen mit Kies und Schwarzpulver aus kleinen Metallrohren in der Gegend herum. Wenn sie ein paar Jahre älter sind, wird ein Teil von ihnen diese Rohre gegen richtige Pistolen eintauschen und noch drei bis vier Jahre zu leben haben, wenn es einigermaßen gut geht. Viele von denen werden nicht älter als 20, es sei denn die Madonna der Mörder hält ihre Hand über sie. Sie werden irgendwann zu den Gangs hier im Viertel gehören, die den Drogenhandel unter sich aufgeteilt haben, aber am Wochenende gern darum kämpfen, die Claims neu abzustecken. Die Polizei kann nichts dagegen tun, denn sie hat in Pinto Salinas nichts zu sagen. Und so lange das so bleibt, erreichen wir hier wenig. Sozialprogramme hin oder her."

Obwohl die Jungen nicht viel älter als 14 oder 15 sind, fährt ihnen kein Erwachsener in die Parade, um sich über den Krach oder die Einschüsse in den Wänden der Häuser zu beschweren. Ich atme einmal tief durch, als ich der Gruppe den Rücken kehre, um die gefährliche Straße hinter mir zu lassen. Unwillkürlich erwartet man jeden Augenblick einen Schuss. In Barrios wie diesem sind schließlich die meisten Einwohner bewaffnet. Es gibt Wochenenden in Caracas, da sterben innerhalb von 48 Stunden 50 bis 60 Menschen bei Schießereien zwischen rivalisierenden Banden.

Doch ich kann Pinto Salinas unbehelligt verlassen und erlebe noch eine eigentümliche Überraschung. Auf einem der wenigen Bäume am Rande des Viertels sehe ich einen großen, schwarzen Vogel mit gelbem Schnabel hocken. Ein Geier mitten in Caracas, ein seltener Anblick. Worauf wartet er? Viel gibt es in Pinto Salinas eigentlich nicht zu holen.

(*) wörtlich übersetzt: "Die Pfarrei"

Jeroen Kuiper lebt und arbeitet als Journalist seit mehreren Jahren in Venezuela.


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