Gezeitenwechsel Jaroslaw Wieczorek, der Unternehmer aus Poznan, ist flott gekleidet, weltläufig, selbstsicher und führt seinen eigenen Betrieb in Pasewalk
Ende dieser Woche werden die Schengen-Grenzen der Europäischen Union weit nach Osten verschoben und zwischen Polen und Deutschland die bisher üblichen Kontrollen aufgehoben. Viele Deutsche haben Angst vor der offenen Grenze. Eigenartig, denn ob in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Ostsachsen, immer mehr Polen kommen über die Grenze und investieren in Größenordnungen, die sich sehen lassen können.
Monika Lenart hat es eilig. Die 30-jährige Immobilienmaklerin aus Polen muss gleich zur Wohnungsgesellschaft in Prenzlau, einer Provinzstadt in Vorpommern nahe der polnischen Grenze. In Prenzlau hat Lenart vor kurzem ein Mehrfamilienhaus an einen Landsmann verkauft. Jetzt gibt es Unmut unter den Nachbarn. "Es ist immer das Gleiche", seufzt sie, während
ufzt sie, während sie ihre Autoschlüssel sucht. "Mein polnischer Kunde hat dieses Mehrfamilienhaus gekauft und will die Wohnungen an polnische Familien vermieten. Und die Anwohner haben prompt Angst, dass die Polen die Miete nicht zahlen, dass sie Unruhe stiften oder - noch schlimmer - dass sie kriminell sind. Also muss ich dorthin, um die Leute zu beruhigen."Wer abhauen konnte, hat das schon längst getanIm Immobilienbüro von Lenart am Karl-Liebknecht-Platz in Brüssow, gleichfalls ein Flecken in Rufweite zur Grenze, blättert die Farbe von Wänden und Decken. Sie habe keine Zeit, die Räume zu renovieren, entschuldigt sich Lenart, die Geschäfte nähmen sie zu sehr in Anspruch. Draußen auf dem Platz lässt der Wind ein bisschen Herbstlaub am Straßenrand fallen, und ein Vietnamese verkauft für ein paar Euro Großmutterschürzen, die in weiten Teilen Deutschlands seit den sechziger Jahren schon aus der Mode sind. Hier in der Uckermark, einer Hügellandschaft mit vielen Seen, Beerenkraut, Krüppelkiefern und ein paar Biobauern im Norden Brandenburgs, gibt es jede Menge Großmütter mit wenig Geld, die sich gern eine Blumenschürze umbinden. Im Sommer ist es hier wunderschön - den Rest des Jahres herrschen Armut, Langeweile, Regen und Arbeitslosigkeit. Wer abhauen konnte, hat das schon längst getan und Türen ohne Klinke hinterlassen.Das Wegziehen der 20- bis 30-Jährigen aus der Region und die extrem niedrige Geburtenrate haben ganze Dörfern den Krähen und Dohlen überlassen. Viele Häuser in der Umgebung von Brüssow stehen seit Jahren leer und sind für 20.000 oder 35.000 Euro zu haben. Auch wenn das Angebot mittlerweile nicht mehr mit dem Schub der späten neunziger Jahre vergleichbar ist - ein Phänomen hat sich freilich gehalten, die Immobilien werden von Lenart und anderen Maklern vorzugsweise an Polen verkauft, die größtenteils vom Stettiner Haff nach Deutschland übersiedeln. Lenart: "Mittlerweile muss ich in manchen Gegenden für meine Klienten schon nach leer stehenden Häusern suchen, denn die meisten sind mittlerweile verkauft. Einige sind nur deshalb übrig geblieben, weil die Eigentumsfragen nicht restlos geklärt sind."Die Käufer kommen aus dem Großraum Stettin und lassen die polnische Boomtown hinter sich, weil dort Mieten und Grundstückspreise mit der Konjunktur so nach oben gehen, dass es sich lohnt, jenseits der Grenze in Mecklenburg-Vorpommern nach preiswerten Immobilien Ausschau zu halten. "Stettin hat im Augenblick fast 500.000 Einwohner", erzählt Lenart. "Es gibt nicht genug Platz für jeden. Deswegen ziehen immer mehr Familien, die Ruhe und Platz für ihre Kinder haben möchten, nach Deutschland." Die Ostdeutschen hielten nichts von Häusern, die ein Jahr oder länger leer standen. "Die meinen, dass man die nur noch den Tauben und der Abrissbirne überlassen sollte. Aber das stimmt nicht. Die Polen sind motiviert und handwerklich begabt, die haben Erfahrung mit dem Bauen und renovieren diese Häuser selbst.""Die Polen" ziehen nicht nur nach Prenzlau, auch ins Grenzdorf Löcknitz, nach Pasewalk, Torgelow oder Eggesin oder sonst wohin. Sie eröffnen Möbeltischlereien, Glasereien, Bäckereien und Restaurants. Die Ansiedlung so vieler von drüben führt zu Spannungen mit den Ortansässigen. Allenthalben grassiert die Angst, dass die ohnehin knappen Arbeitsplätze in der Grenzregion jetzt auch noch von den billigen Polen übernommen werden. Eine übertriebene und vorerst unnötige Sorge, denn Deutschland will noch mindestens bis 2009 seine Grenzen für polnische Arbeiter - von Ausnahmen für Saisonkräfte abgesehen - geschlossen halten. Nur polnische Firmen dürfen sich schon jetzt jenseits von Oder und Neiße ansiedeln. Allerdings suchen manche der deutschen Betriebe mittlerweile händeringend qualifiziertes Personal - der Mangel an wirklichen Fachkräften mit einer soliden technischen Ausbildung ist nach dem großen Exodus gen Westen nicht nur in Sachsen, sondern auch in Vorpommern und Brandenburg zu spüren, so dass die deutsche Regierung im September das Arbeitsverbot für osteuropäische Ingenieure aufheben musste. Viel ist davon freilich nicht zu erwarten. Qualifizierte polnische Ingeniere arbeiten längst in Großbritannien oder Irland, die ihre Grenzen schon 2004 geöffnet haben.Eine Umfrage ergab Ende November, dass 59 Prozent der Ostdeutschen gegen die Abschaffung der Grenzkontrollen mit Polen sind und sich der Bürger in Städten wie Frankfurt/Oder, Guben oder Görlitz mit Alarmanlagen bevorraten. Als es Ende Oktober gar die Polizei in Frankfurt gegen die offene Grenze auf die Straße trieb, reagierte Innenminister Schäuble bemerkenswert verärgert auf die Demonstration. Man sollte die Erweiterung der Schengen-Zone doch als das nehmen, was sie vor allem sei: Ein letztmaliges, ultimatives Aufreißen des Eisernen Vorhangs. Schließlich müssten Kontrollen auch gar nicht entbehrt werden, gemeinsame deutsch-polnische Patrouillen würden künftig in einem Geländestreifen von 30 Kilometern Breite entlang der Grenze unterwegs sein. Überdies besage die Statistik, die Kriminalität in der Grenzregion habe in den vergangenen Jahren eher abgenommen.Die Abende hier sind dunkel. Und sehr langAuch in Pasewalk, nicht weit von Brüssow entfernt, sieht die Zukunft immer polnischer aus. Nirgendwo in Deutschland wird soviel polnisch gelernt wie von den Einwohnern dieser Stadt, die sich mittlerweile auf Ankunft und Niederlassung der Nachbarn eingestellt hat.Einer der neuen Einwohner von Pasewalk ist Jaroslaw Wieczorek - der 40-jährige Unternehmer aus Poznan gibt den Prototypen des "neuen Polen": flott gekleidet, weltläufig, selbstsicher, in mehreren Sprachen geschäftsfähig und vor allem flexibel. "Daran fehlt es oft bei den Ostdeutschen", urteilt er ohne Umschweife in seinem komplett renovierten Büro am Nordrand von Pasewalk. Hinter den Produktionshallen seiner Firma Romag verfallen die leeren Lagerhallen, Schuppen und Container abgewickelter oder pleite gegangener einheimischer Betriebe. So etwas werde ihm erspart bleiben, ist Wieczorek überzeugt. Der Fabrikant von außerhalb und von Autowerkzeugen hat erst vor einem halben Jahr mit der Produktion in Pasewalk begonnen und beschäftigt mittlerweile 19 deutsche Mechaniker. Schmiede und Werkzeugmacher. Wieczorek: "In Poznan sind keine Fachkräfte mehr zu finden, ich musste hierher kommen."In Poznan seien die Löhne für geschultes Personal wie CNC-Bediener, Dreher und Schweißer mittlerweile derart angestiegen, dass man im Osten fast billiger oder zu den gleichen Kosten produzieren könne. Wieczorek: "Im Allgemeinen sind die Polen flexibler als deutsche Arbeitnehmer. Die Polen ziehen ihrer Arbeit hinterher, wenn es sein muss. Natürlich sind auch viele Ostdeutsche in den Westen abgewandert, aber die etwas älteren Männer sind - wenn es nur irgendwie ging - dort geblieben, wo sie ihre Familie haben. Diese Leute beschäftige ich jetzt bei mir."Jaroslaw Wieczorek kam nach Pasewalk, nachdem er den Bürgermeister der Stadt auf eine Werbetour in Poznan erlebt hatte. "Als der Mann erzählte, welche Möglichkeiten es in Pasewalk gibt, um Fördermittel für Investitionen zu bekommen, und wie niedrig die Lohnkosten sein würden, glaubte ich, meine Ohren nicht zu trauen. Ich habe dann Pasewalk besucht, mit den Leuten vor Ort geredet und konnte es trotzdem immer noch nicht glauben. Dann habe ich angefangen zu rechnen. Nun bin ich hier." Mittlerweile hat Wieczoreks Firma anderthalb Millionen Euro investiert. Etwa 40 Prozent der Gelder bezieht er aus deutschen oder EU-Fördermitteln. Es sei für seine Firma ideal, Niederlassungen in zwei Ländern zu haben. "In Pasewalk produzieren wir die gleichen Produkte wie in Poznan. Aber jetzt kann ich da einen Made in Germany-Kleber drauf machen und meine Autoteile an VW liefern. Das zählt."Wieczorek fährt jede Woche die Strecke Pasewalk - Poznan, vier Stunden hin und vier Stunden zurück. Das Wochenende verbringt er zu Hause. An Umziehen nach Pasewalk denkt er nicht. "Ich habe zwei Kinder, die wollen nicht in Deutschland wohnen. Poznan ist eine Universitätsstadt, dort spielt die Musik. In Pasewalk herrscht tote Hose. Die Abende hier sind dunkel. Und sehr lang."
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