Nirgends dürften die Wände eines U-Bahnhofs so mit Werbeplakaten für Schönheitschirurgie bepflastert sein wie an der Station Sinsa-dong in Seoul. Vorher-Nachher-Fotoarrangements mit den prägnanten Resultaten südkoreanischer Gesichtsbearbeitungskunst, und auf einem Banner daneben eine bildhübsche Südkoreanerin in Jeans und T-Shirt, die proklamiert: „Wer ein schönes Gesicht und einen schönen Körper hat, braucht keinen Minirock zu tragen!“
Gangnam ist überall
Gut aussehen, das ist im asiatischen Wirtschaftsüberfliegerland so bedeutsam wie nie zuvor geworden. Korea hat in den vergangenen Jahren die USA überholt, was die höchste Prozent-Rate in plastischer Chirurgie angeht. Sinsa-dong, die Gegend mit der Boutiquenstraße Garosu-Gil und dekadent-cybermäßigen Clubtempeln wie dem Eluise, liegt im Bezirk Gangnam: Sie ist das Epizentrum des ästhetischen Wahnsinns. Der Song „Gangnam Style“ des Rappers Psy schallt hier aus allen Ecken.
Quelle: Youtube
„Gangnam Style“ ist das meist geklickte Youtube-Video aller Zeiten und der Hype scheint auch selbst nach Nummer-eins-Platzierungen in großen Ländern noch nicht zu Ende. Madonna präsentiert im Moment auf ihrer Tournee eine Gangnam-Mash-Up-Version ihres Hits „Give It To Me“, Justin Bieber soll bei Psy angefragt haben. Bei Flashmobs in St. Petersburg, Bangkok und Barcelona tanzen junge Menschen zu dem Lied.
Gangnam bedeutet eigentlich „südlich des Flusses“. Der alte Kern Seouls mit seinen königlichen Palästen und heutigen Regierungsapparaten befindet sich im Norden der Stadt, die zu den größten der Welt gehört. Nach dem Ende des Koreakriegs siedelten sich, bedingt durch die rasche Expansion der Stadt im südlichen Brachland, der neue Geldadel und die Wirtschaft, die in dem Land vor allem durch die oligarchisch strukturierten Chaebol-Familiendynastien repräsentiert werden, an. Die Familiendynastien kennt man hierzulande vor allem von den großen Mischkonzernen wie Samsung oder Hyundai.
Luxus und mafiöse Strukturen
Mit der Zeit folgten in Seouls Süden Nachtleben, Luxus, Kunst, Mode, Design, Exzesse und mafiöse Strukturen. Die Dichte an deutschen Qualitätskarossen ist immens, der Rausch exklusiver als im Studentenbezirk Hongdae im Norden, der für alternativeren Hedonismus steht. Der Gangnam-Song stellt auf süffisante Weise auch das Prinzip „Dicke Hose“ zur Schau; eine aus den USA importierte Version des Rich-Kid-Phänomens: monetäre Aristokratie, Privatschule, Pferdesport. Aber eigentlich will der Sänger nur eine Frau rumkriegen.
Psy, mit bürgerlichem Namen Park Jae-Sang, ist 1977 in Gangnam geboren und dort aufgewachsen. Sein Vater Park Won-Ho ist Vorstandsvorsitzender der DI Corporation, einer erfolgreichen Firma für Halbleiter. Ein Kind aus gutem Hause: Er genoss die Vorzüge der koreanischen Oberschicht, begann in Boston ein Wirtschaftsstudium, um später die Firma seines Vaters übernehmen zu können. Doch er brach ab und wechselte an ein Musik-College. 2001 veröffentlichte er sein Debüt und ist mit seinen fünf Folgealben zu einem südkoreanischen Superstar geworden – alles andere also als der klassische Newcomer-Web-2.0-Buzz, als der er im Westen vermarktet wird.
In die Schlagzeilen geriet Psy in der Zwischenzeit immer wieder wegen seiner vermeintlich jugendgefährdenden, obszönen Texte, was an seinem Bild vom Vorzeigesohn kratzte. Manche Veröffentlichungen landeten sogar auf dem Index. Wie eng in diesem Land Wirtschaft, Erfolg und Familie miteinander verwachsen sind, zeigt der globale Erfolg von „Gangnam Style“. Der Börsenwert der väterlichen Firma DI Corporation stieg Anfang Oktober um 500 Prozent. Einen größeren Dienst hätte der Sohn seinem Vater kaum erweisen können. Klüngel, Filz, Blase? Von allem vielleicht ein bisschen.
Das Prinzip der Kopie
Aber wie kann man den gigantischen Erfolg erklären? Da ist dieser absurde Tanz, der im Vergleich zu klassischen Sommerhit-Schrittfolgen wie Macarena einiges komplizierter, athletischer und auch für Pop-Stars wie Britney Spears schwerer nachzumachen ist.
Dieser hyperaktive Pferderittschritt mit versteckt pornografischer Anmutung. Es ist auch der Groove, diese Mischung aus Synthesizer-Akkorden eines „Pump Up The Jam“ und zeitgemäßen US-Dance-Hits, nur mit dem exotischen Twist des K-Pop, des Korea-Pop. Hier werden die vermeintlich besten Elemente zu einem eigenständigen Produkt gebaut. Das asiatische Prinzip der Kopie spielt eine große Rolle, ebenso das Exportstreben der Nation, die geografisch und politisch lang isoliert in Ostasien war.
Mittlerweile ist Südkoreas Kulturszene auch im Alltag von Chinesen und Japanern präsent. K-Pop lässt sich weltweit exportieren – und zweckentfremden. Das zeigen die hundertfachen Parodien des Videos auf Youtube und anderen Portalen: Ai Weiwei und die Studentische Befreiungsbewegung Tibets drehten Gangnam-Style-Adaptionen, um auf die politischen Missstände in China aufmerksam zu machen. Während des US-Wahlkampfs kursierte der „Mitt-Romney-Style“ im Netz, der sich über die reiche, bürgerferne Herkunft des Republikaners lustig machen wollte.
Ein Clip der Spaßgesellschaft – ideal für Projektionen, eben auch für politische. Und sogar die nordkoreanische Regierung, die sich neuen Technologien sonst verweigert, stellte im September eine eigene Version des Videos online. Sie hat das Konterfei der konservativen Präsidentschaftskandidatin Südkoreas, Park Geun-Hye, auf eine wackelnde Animation montiert.
Ji-Hun Kim ist freier Journalist in Berlin, seine Eltern stammen aus Südkorea
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