"Egal, wie viel man davon erzählt, man kann es nicht ganz begreifen, man wird es nicht treffen, was die Menschen hier erlitten haben", sagt Martin Jander. Eine Gruppe von 13 Leuten steht auf dem ehemaligen Appellplatz vor einer in den Boden eingelassenen Platte und hört schweigend den Erläuterungen des Historikers zu. Auf der schlichten Metallplatte, die an diesem Tag mal in der Sonne glänzt, mal matt schimmert, weil graue Wolken über den Himmel jagen, sind die Namen von mehr als 30 Nationen eingraviert - die Namen derjenigen Nationen, aus denen die Opfer des KZ Buchenwald stammten.
Von Juli 1937 bis April 1945 waren insgesamt eine Viertelmillion Menschen in Buchenwald inhaftiert. Die Zahl der Opfer wird auf etwa 56.000 geschätzt, darunter rund 11.000 Juden. All diese Menschen wurden erschossen, zu Tode gefoltert, erschlagen oder erhängt, sie starben durch Zwangsarbeit oder durch medizinische Experimente, sie erlagen Krankheiten oder kamen durch Hunger und Kälte um. Deshalb nennt Jander diesen Ort "ein großes Massengrab".
Vom Appellplatz aus lässt sich das riesige Gelände des Lagers überblicken - man sieht die Überreste der Baracken, das Kammergebäude, das Krematorium, die Wachtürme, den Stacheldrahtzaun und den Eingang mit dem eisernen Tor, in das der Schriftzug "Jedem das Seine" eingelassen ist. Er wurde 1938 so eingefügt, dass er sowohl vom Platz, auf dem die stundenlangen Morgen- und Abendappelle, die eine Tortur für die Häftlinge waren, als auch vom Platz, auf dem die Hinrichtungen stattfanden und zu denen alle Gefangenen als "Zuschauer" antreten mussten, aus sichtbar ist.
Rechtsextreme Einstellungen - auch in der Gewerkschaft
Vom Appellplatz aus sieht man aber auch die mit Holz verbarrikadierten Fenster des so genannten "Bunkers", einem Arrestzellenbau im Westteil des Torgebäudes, in dem die SS Häftlinge gefoltert und ermordet hat. In den engen Zellen wird heute an die Menschen erinnert, die hier litten und starben: Tafeln mit Porträtfotos erzählen den Lebens- und Leidensweg der Ermordeten nach, in einigen Zellen sind Gedenktafeln angebracht, in anderen Kerzen aufgestellt. Wieder in anderen Zellen schmücken kleine, aus buntem Papier gefaltete Tierfiguren die hölzernen Pritschen.
"Buchenwald ist ein Ort, der schwer zu beschreiben, der schwer zu besuchen ist", hatte Jander am Vortag des Besuches der Gedenkstätte gesagt. Die dreitägige Fahrt war von Verdi Berlin-Brandenburg organisiert worden - auch aus dem Gefühl heraus, "wir müssen wieder etwas mit unseren Leuten in diese Richtung machen", wie die stellvertretende Geschäftführerin Gabi Lips sagt. Deswegen wolle man an die alte Tradition der Gedenkstättenfahrten anknüpfen. Zwar sind die Gewerkschaften traditionell gegen Rechtsextremismus aktiv, doch hat der DGB gleichzeitig ein Problem mit rechtsextremen Einstellungen unter seinen Mitgliedern.
Wohl deshalb beherrschte die Frage, wie man Geschichte vermittelt und was man aus ihr lernen kann, die Diskussion am Vortag des KZ-Besuchs. Soll man die brutale Realität der nationalsozialistischen Mordmaschinerie in Bildern und Filmen möglichst direkt zeigen? Oder diesen Teil der deutschen Geschichte lieber sachlich-informativ darstellen? Wahrscheinlich ist eine solche Gedenkstättenfahrt die passende Mischung aus beidem: Eine direkte Konfrontation mit einem Ort des Schreckens, eingebettet in eine sachliche Aufklärung über die NS-Zeit und ihre Verbrechen.
Etwa zwei Kilometer hinter dem Ortsschild der Stadt Weimar zweigt die "Blutstraße" nach Buchenwald ab. Sie trägt diesen Namen, weil sie 1939 von den Häftlingen in Zwangsarbeit ausgebaut wurde. Ein Teil der Straße ist heute noch original erhalten. Parallel zur Straße verläuft die 1943 von Häftlingen unter großen Opfern erbaute Bahnlinie. Sie diente zunächst der Versorgung der Rüstungsbetriebe neben dem Lager und brachte später Menschen aus allen besetzten Ländern in das Konzentrationslager.
Über die "Blutstraße" und den "Carachoweg"
Ein Teil des Bahndamms ist seit 1998 freigelegt. Dieser Bahndamm endet am 1943 errichteten Bahnhof Buchenwald, von dem aus der Carachoweg zum Lager führt. Er bekam diesen Namen, weil die Häftlinge, die am Bahnhof des Lagers ankamen, diese Strecke von der SS entlang gehetzt wurden. Ein ehemaliger jüdischer Häftling beschreibt in einem Gedicht diese Tortur: "Sie schnitten sich dornige Zweige ab/und schlugen. Perverse Genüsse./ Sie brachten die Alten mit Tritten in Trab/ Dazwischen knallten die Schüsse".
"Man kann es nicht ganz begreifen, was die Menschen hier erlitten haben". Diese Worte treffen ziemlich genau das, was wir denken, was wir fühlen, nachdem wir von Weimar aus dem Weg der Häftlinge über die "Blutstraße" und den "Carachoweg" in das Lager gefolgt sind und nun an der metallenen Gedenkplatte stehen, vom Appellplatz auf den Stacheldrahtzaun, auf das Torgebäude, auf die Überreste der Baracken und auf das Krematorium blicken. Es trifft das, was wir denken, was wir fühlen, als wir vom "Denkmal für alle Häftlinge des Konzentrationslagers" über den steinigen Appellplatz zum Krematorium gehen. Immer mehr dunkle Wolken ziehen am Himmel auf. Die Sonne verschwindet fast vollständig.
"Das Krematorium ist zentrales Zeugnis der NS- Verbrechen. Für ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen symbolisiert es zugleich das Grab, das man den Häftlingen vorenthalten hat, damit nichts an sie erinnert", ist auf einem Schild am Eingang des Krematoriums zu lesen. Nichtsdestotrotz hängen in einem Raum des Gebäudes zahlreiche Steintafeln, die an die Menschen, die in Buchenwald starben und im Krematorium verbrannt wurden, erinnern. Die Inschriften sind auf deutsch, französisch, italienisch und in slawischen Sprachen verfasst. Wappen und Verzierungen schmücken die Tafeln.
Durch eine Tür betreten wir nun den Raum, in dem die Leichen der Häftlinge verbrannt wurden. Auf den Verbrennungsöfen liegen zahlreiche Blumen und Kränze. Am anderen Ende des Raumes sieht man die Öffnung des Fahrstuhlschachtes, der den Verbrennungsraum mit dem Leichenkeller verbindet. Dort wurden die Toten gesammelt, bevor sie verbrannt wurden. In diesem Keller erdrosselte die SS auch 1.100 Männer, Frauen und Jugendliche. Die Haken, an denen dieses Verbrechen geschah, sind noch heute an den Wänden sichtbar. Die meisten Besucher verlassen diesen Ort mit gesenktem Kopf. Als auch wir betroffen aus dem Gebäude des Krematoriums treten, ist der Himmel schwarz. Plötzlich fängt es fürchterlich an zu regnen.
Durch die dichten Regenschleier sieht man vom Krematorium aus wieder die Überreste der Baracken. Bis 1942 lebten in den oberen vier Reihen der Holzbaracken jüdische Häftlinge. Juden wurden von der Lagerführung von Anfang abgesondert. Sie waren besonderen Schikanen und härtester Zwangsarbeit ausgesetzt. Und: Sie wurden von hier aus in die NS-Vernichtungslager deportiert. In den Baracken 44, 46 und 49 wurden medizinische Experimente mit Häftlingen durchgeführt. Bei einer Reihe von Versuchen mit Fleckfiebermedikamenten im April 1943 starben über die Hälfte der Versuchspersonen qualvoll.
Als es aufgehört hat zu regnen, gehen wir an den Gedenksteinen entlang, den Weg zwischen den Überresten der Baracken in Richtung Kammergebäude. Dort ist seit 1995 eine Ausstellung zur Geschichte des Konzentrationslagers zu sehen. In Vitrinen, die in schrankartigen Stahlregalen eingelassen sind, sind Relikte, Bilder, Dokumente und Biographien von Tätern und Opfern ausgestellt. Die Ausstellung zeigt aber auch, dass einige dem Terror der Nazis widerstanden und wie unterschiedlich dieser Widerstand war.
So sind in einer Vitrine heimlich im Lager angefertigte Kerzen und ein kleiner Altar zu sehen, Zeugnisse der illegalen Glaubensausübung. Eine andere Vitrine zeigt Kurzwellenempfänger zum Nachrichtenempfang, durch die es möglich war, "die Isoliertheit des Lagers von den Nachrichten aus der Welt zu durchbrechen", wie es ein ehemaliger Häftling formulierte. Wieder eine andere Vitrine widmet sich den politischen Funktionshäftlingen, denen es durch ihre besondere Position gelang, Menschenleben zu retten.
Bereits auf dem Appellplatz und am Krematorium ist uns ein junger Glatzkopf aufgefallen. Jetzt steht er in den Räumen der Ausstellung neben uns. Er trägt schwarze Kleidung und sieht militant aus. Ein Neonazi in der Gedenkstätte Buchenwald?
Versteckspiel der Thüringer Neonazis
In Thüringen sind vor allem die aktionsorientierten neonazistischen "Freien Kameradschaften" aktiv, berichtet uns am nächsten Tag Katja Fiebiger von der Mobilen Beratung in Thüringen für Demokratie - gegen Rechtsextremismus (MOBIT), als wir sie nach dem Glatzkopf fragen. Ungefähr 13 dieser "Freien Kameradschaften" gibt es in Thüringen. Sie tragen eindeutige Namen wie "Braune Aktionsfront Weimar" oder "Nationaler Widerstand Jena". Aber auch hinter dem harmlos klingenden Namen "Schöner leben in Erfurt" verbergen sich laut MOBIT rechtsextreme Kader.
Die "Kameradschaften" veranstalten Demonstrationen, machen Info-Stände und organisieren Konzerte. Vor allem letztere sprechen Jugendliche an, da sie oftmals konspirativ veranstaltet werden und deshalb etwas Abenteuerliches haben. Kameradschaften und NPD greifen in Thüringen zunehmend soziale Themen wie Sozialabbau und Globalisierung auf. Als vermeintliche Antwort auf diese Phänomene propagieren die Rechtsextremen (damals wie heute) allerdings die "Nationale Volksgemeinschaft" und den "Nationalen Sozialismus".
Katja Fiebiger erläutert uns das so genannte Versteckspiel der Neonazis. Oftmals sind es heutzutage nur noch kleine, versteckte Symbole, die einen Jugendlichen als Rechtsextremen kennzeichnen. Dazu gehört das Tragen bestimmter Modemarken wie Consdaple (der Name enthält das Kürzel NSDAP) und bestimmter Symbole (wie der "Schwarzen Sonne" - als eine Anzahl von SS-Runen bzw. von Hakenkreuzen deutbar). Auch bestimmte Zahlencodes (88 = Heil Hitler) verweisen auf die rechtsextreme Gesinnung. Einige Rechtsextreme treten sogar mit Symbolen auf, die bisher eher dem linken Spektrum zugerechnet wurden: Mit Che-Guevara-T-Shirts oder mit Palästinenser-Tüchern. Dabei gibt es ihn zwar noch, den "klassischen" rechtsextremen Skinhead - doch er dominiert die Szene nicht mehr, wie es noch in den achtziger und neunziger Jahren der Fall war. Heute sind neue, vor allem jugendkulturelle Elemente in die rechtsextreme Szene eingeflossen - und genau das macht sie so attraktiv und gefährlich.
Bleibt die Frage, was man gegen Rechtsextremismus tun kann. "Alle sind gefragt, jeder muss sehen, was er tun kann", sagt Katja Fiebiger. "Die Arbeit gegen Rechtsextremismus muss vielfältig sein, sie muss möglichst viele Menschen einbinden, dafür müssen möglichst breite Bündnisse geschmiedet werden", - auch wenn gerade das oftmals harte Arbeit ist. Jander ergänzt, dass diese Bündnisse "Bündnispartner der Opfer" von rechtsextremer Gewalt sein sollten. Den Opfern müsse gezeigt werden, dass sie nicht allein gelassen werden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.